ꕤ Kapitel 11 ꕤ
Ein guter Schlaf bringt Menschen zusammen
Cassia
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„Viccamale ist hier. Sie weiß, was unser Ziel ist"
Cassia stieß sich mit voller Wucht den Kopf an einem breiten Ast an, als sie bei Einars Nachricht vor Schreck aufsprang.
Ihr Herz pochte jedoch heftiger als ihr Kopf.
Woher zum Teufel wissen sie das? Haben die einen Heilprediger auf uns angesetzt?
Konnte einer von denen Gedanken lesen?
Wie sollten sie es sonst erfahren haben?
Außer ihnen wussten es nur Felix und... Utopa.
Aber, nein, sie würde die Drei niemals verraten. Da war Cassia sich sicher.
„Woher weißt du das?", fragte Jerelyn, die auf einem morschen Baumstamm auf und ab lief.
Er atmete keuchend.
„Das ist mir zu viel Rennen im Moment", brachte er als Erstes hervor.
„Das hat nichts mit meiner Frage zu tun. Schieb deine Arroganz mal für einen Moment zur Seite"
Einar warf ihr einen wütenden Blick zu, doch Cassia konnte sie voll und ganz verstehen. Es ging hier um ihrer aller Leben, da hatte so eine Einstellung nichts zu suchen.
„Ich habe ihnen Essen gestohlen und dabei ein wenig gelauscht." Er deutete mit dem Schwanz auf den kleinen Sack, den er direkt neben Cassia abgelegt hatte. Ein bisschen Sabber hing noch daran.
„Du hast... was? Bist du von allen guten Engeln verlassen?" Jerelyn kickte einen Tannenzapfen in seine Richtung und traf ihn am Kopf.
„Selbst dieser Zapfen hat mehr Gehirn als du."
„Wer wollte denn Essen haben?", fauchte er zurück.
„Du? Du hast die ganze Zeit gejammert wie ein Junges"
Einar schwieg.
„Wer hat sich denn beim Einteilen des Proviants verzählt? Wenn ich mich recht erinnere, war das eine ach so schlaue Krähe namens Sophia"
„Nenn mich nicht so!", kreischte Jerelyn aufgebracht.
Die beiden waren anscheinend drauf und dran aufeinander los zu gehen.
„Hey, Ruhe, ihr zwei", donnerte Cassia so herrisch wie möglich.
Verdattert hielten Beide inne, sie erinnerten sie ein wenig an ihre sich zankenden, kleine Geschwister.
„Unser Leben steht auf dem Spiel und ihr habt nichts Besseres zu als euch zu streiten?"
Sie schauten beinahe beschämt zu Boden.
Cassia packte den Sack in ihren Beutel und verwischte die Spuren, die sie hinterlassen hatten.
„Aber", setzte Jerelyn an, doch sie unterbrach sie.
„Wir müssen weg, wenn wir nicht auf dem Scheiterhaufen landen wollen. Los"
Sie drehte sich um und stapfte davon.
Das Trappeln von Pfoten hinter ihr kündigte Einar an und kurze Zeit später flog Jerelyn neben ihr.
„Entschuldigung", sagten sie beide gleichzeitig kleinlaut.
„Schon vergessen"
„Hast jemand einen Plan, wie wir schneller in London sind als die?", fragte Einar, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinander hergegangen waren.
„Ich habe gehört, dass es von Stratford einen Dampfomnibus direkt nach London gibt. Das würde doch definitiv Zeit sparen, oder?", schlug Cassia vor.
Jerelyn pfiff beeindruckt und auch Einar gestand, dass es keine so schlechte Idee war.
Im Schatten des Waldrandes holte Cassia schließlich die Karte hervor, die Utopa ihnen gegeben hatte. Bisher hatten sie sich an der Sonne orientiert oder Jerelyn hatte die ungefähre Richtung gewusst. Doch Stratford war eine andere Sache.
Größere Städte wie Cambridge mussten sie vermeiden, da sie Gefahr liefen, erkannt zu werden. Besonders Cassia, nach der im großen Stil gesucht wurde. Sie hatten in einem Dorf nach dem Wald, in dem Utopa lebte, eine Pause eingelegt. Dort hatten sie am Marktplatz und an weiteren Orten entstellte Abbildungen von Cassia gefunden, die als Hexe angeprangert wurde.
„Am besten wir folgen dem Cam, umgehen Cambridge und dann weiter an der Cam. Hatfield Forrest, südwestlich zum Roding. An ihm entlang bis kurz vor Stratford. Und dann..."
„Dann was, Kartencassia", äffte Einar sie nach.
„Dann hoffen wir, dass Egoeinar nicht auf seiner eigenen Schleimspur ausrutscht und uns verrät"
Cassia grinste ihn frech an und Einar war viel zu perplex, um etwas zu erwidern.
Oh, dieses Gesicht ist einmalig
„He", schaffte er schließlich nur zu sagen.
„Oh, das muss ich mir merken" Jerelyn krähte vergnügt und musterte sie mit einem schelmischen Blitzen in den Augen.
„Ach rutscht mir doch den Buckel runter", brummte er.
„Wer austeilt, muss auch einstecken", belehrte Jerelyn ihn und dem stimmte Cassia auch zu.
„Weiber", murrte er nur und schwieg beleidigt.
Zu ihrem und Jerelyns Glück ging Einars schlechte Laune Tag für Tag zurück. Besonders weil sie tatsächlich an zwei Tavernen anhielten und etwas aßen. Cassia nutzte die Gelegenheit einer mehr oder weniger anständigen Toilette. Dauernd im Wald sich zu erleichtern war auf Dauer auch nicht angenehm.
Morgen Abend sollten sie nach Cassias groben Berechnungen in Stratford ankommen. Jerelyn hatte vorgeschlagen, ausnahmsweise ein Zimmer — unter falschem Namen selbstverständlich — zu mieten. Cassia hatte ein ungutes Gefühl dabei, aber wurde schließlich von ihren Reisegefährten überstimmt.
Während die anderen draußen warteten, betrat die Jugendliche das Gasthaus, ihr Herz klopfte bis zum Hals.
In ihren Gedanken drehten sich alle zu ihr um, sobald sie einen Fuß ins Innere setzte, und starrten sie an. Die Gäste erkannten sie sofort und deuteten mit dem Finger auf sie,
„Hexe. Das ist die Hexe"
„He, könntest du zur Seite gehen, Junge?" Grob rempelte sie jemand an und holte sie in die Realität zurück. „Bist du taub oder was?"
„Äh, nein" Cassia machte Platz und ein Fischer mit schiefsitzender Mütze und Pfeife im Mund warf ihr noch einen verärgerten Blick zu, bevor er weiter zur Bar ging.
Niemand beachtete sie auch nur im Geringsten. Niemand hatte sie erkannt.
Cassia atmete auf, aber fühlte sich dennoch nicht sicher genug die Kapuze ab zu nehmen. Zum einen würde jeder dann sehen, dass sie kein Knabe war, zum anderen hatte sie versucht, sich die Haare zu schneiden und es war gewaltig schief gegangen.
Sie näherte sich dem Tresen, hinter dem eine Frau ungefähr Mitte dreißig irgendetwas niederschrieb.
„Entschuldigen Sie, haben sie noch ein Zimmer für eine Person?"
Sie blickte auf und musterte die Jugendliche.
„Wir sind so weit ausgebucht" Innerlich freute sich Cassia schon. „Ich könnte dir noch etwas im Stall anbieten. Da schläft zwar schon ein anderes Pärchen, aber da sollte noch genug Platz sein."
Schade, aber vielleicht ist der Stall sogar besser
„Wie viel verlangst du dafür?"
„660 Pence"
Cassia überlegte kurz. Ja, das könnten sie sich leisten, gerade so. Sie nickte und holte die Münzen hervor. Sie hatte es leider nicht passend, aber die Wirtin konnte bestimmt wechseln.
Diese nahm die Münzen alle und wollte schon verschwinden.
„Halt, ich bekomme noch fünf Schilling zurück." Sie drehte sich um und lächelte.
„Oh richtig, kann ich dir es auch in Pence geben?", fragte sie unschuldig.
Cassia nickte erleichtert. Sie hatte schon befürchtet, kein Geld zurückbekommen.
Die Wirtin reichte ihr 50 Pence und drehte sich um.
„Das sind zehn Pence zu wenig", beharrte Cassia. Sie würde sich nicht übers Ohr hauen lassen.
Genervt drückte die Wirtin ihr die Münze in die Hand und verzog sich grummelnd durch eine Tür. Von ihr würde sie nichts mehr erfahren. Aber das störte sie nicht.
Sie schritt zügig aus dem Gasthaus und blieb kurz vor dem Stall um die Ecke stehen. In ihrem Kopf erschien Einars angewidertes Gesicht und sie musste grinsen. Sie trat ein und ihre gute Laune verschwand so schnell wie eine Möwe, nach der man einen Stock geworfen hatte.
Am Ende des Ganges, eine junge Frau küssend, stand ihr Bruder Henry. Cassia schluckte die Tränen herunter, die bei seinem Anblick aufstiegen. Sie hatte ihn so sehr vermisst und jetzt war er hier und sie konnte ihn nicht umarmen.
Sie musste sich so verhalten als wäre er ein Fremder und das brachte ihr Herz zum Bluten.
Sie räusperte sich und die zwei stoben auseinander wie aufgescheuchte Fische.
„Oh, äh, guten Abend" Verlegen betrachtete Henry sie. „Wir dachten, wir hätten dieses... Zimmer für uns. Aber dem ist anscheinend nicht so."
Cassia legte den Kopf schief. „Kein Problem, Ihr werdet nicht merken, dass ich da bin"
„Bitte nicht so förmlich. Mein Name ist Henry Cian und das ist meine Frau Dorothe"
„I-ich heiße Edward" Mist, warum war der Name ihres kleinen Bruders, der erste, der ihr eingefallen war? Hoffentlich machte es ihn nicht misstrauisch.
„Was ein Zufall, ich habe einen Bruder mit demselben Namen." Er lächelte breit und Cassia konnte auch das verschmitzte Funkeln in seinen Augen erkennen. Über all die Jahre hatte er es nicht verloren.
„Ja, welch Zufall" Cassia trat von einem Bein aufs andere. „Entschuldigt, dass ich so wortkarg bin. Ich habe eine lange Reise hinter mir und würde mich gerne ausruhen"
„Oh natürlich, wir wollten sowieso noch etwas trinken. Einen erholsamen Schlaf wünsche ich" Er zwinkerte ihr zu und die Beiden verließen den Stall.
Kaum waren sie draußen, kamen ihre Gefährten durch ein Fenster hinein. Eine Träne rann über ihre Wange, doch sie wischte sie weg. Das Wiedersehen mit ihrem Bruder hatte sie völlig unerwartet erwischt.
Dafür brachte Einars Gesicht erneut zum Grinsen. Ihm war anzusehen, dass er mit einem bequemen Bett oder Ähnlichem gerechnet hatte.
„Alles andere war voll", sagte Cassia schnell, bevor er ihr noch die Schuld gab.
„Hmpf" Der Kater stakste ins Heu hinein und machte es sich gemütlich.
„Ich werde draußen bleiben und euch morgen früh wecken" Mit diesen Worten flog Jerelyn aus dem Fenster wieder hinaus.
Cassia schnappte sich eine Decke und kuschelte sich hinein. Es tat gut, mal im Warmen schlafen zu können. In Gedanken an Henry und ihre Angelausflüge schlief sie schließlich ein.
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Noch kurz vor Sonnenaufgang kam Jerelyn herein und weckte sie auf, in dem sie ihr die Decke klaute und sie piekte.
Einar wurde von dem „Krach" wach und trottete schlaftrunken in Richtung Stalltür. Cassia warf noch einen letzten Blick auf ihren Bruder und seine Frau, die irgendwann in den Stall gekommen sein mussten. Dorothe lag eingekuschelt in seinen Armen.
Cassia nahm ihren ganzen Mut zusammen und gab ihm einen sachten Kuss auf den Kopf. Sie trat ein paar Schritte zurück.
„Auf Wiedersehen, liebster Bruder"
Damit folgte sie Einar nach draußen, wo sie von einer sich lichtenden Dunkelheit empfangen wurde.
Jerelyn wartete bereits auf sie und gemeinsam traten die Drei die Reise an.
Sie folgten dem Roding, legten an ihm eine Pause ein und verzehrten das Rest des Brotes, das noch von Einars Raubzug übriggeblieben war. In London müssten sie Essen kaufen und das würde teuer werden. Einars Vorschlag, etwas zu stehlen, hatte Jerelyn klar abgelehnt. Insgeheim hielt Cassia es für keinen so falschen Weg. Es war kaum noch Geld da und vielleicht konnten sie es später noch gebrauchen.
Die Schatten waren bereits lang, als sie Stratford erreichten. Die Straßen waren nicht überfüllt, da die Meisten noch in den Fabriken oder den Brauereien arbeiteten.
Cassia zog sich die Kapuze extra tief ins Gesicht, als sie sich dem Hof näherten, von dem die Dampfomnibusse abfuhren.
Ein verlassenes Kartenhaus war einige Fuß davor aufgestellt worden. Ein Blick auf die Preise sagte Cassia, dass sie sowieso nicht genug Geld für überhaupt eine Fahrkarte gehabt hätten.
Das Tor zum Hof war verschlossen, die Busse ragten bedrohlich im ersten Mondlicht auf.
Ein Wächter stand schräg davor. Jerelyn erhob sich mit den Worten „Ich gehe auskundschaften" in die Luft.
„Und jetzt, oh kluge Cassia?" Einar betrachtete den Zaun in der Ferne als prüfe er, ob er darüber springen könnte.
„Wir hätten eh keine Karten kaufen können. Ich fürchte, wir müssen den Rest des Weges auch noch laufen." Cassia hatte sich so gefreut, dass eine ihrer Ideen von den anderen gelobt worden war. Und jetzt war alles umsonst gewesen.
„Ganz großartig", maulte er genervt.
„Moment, wir könnten doch auch heimlich mitfahren?" Jerelyn war von ihrer Runde zurück.
„Und wie genau soll das gehen?", fragte Cassia verwirrt. Sie brauchten doch ein Ticket, um einsteigen zu können. Und selbst dafür mussten sie bis morgen warten.
„Die Dächer sind eigentlich flacher als sie aussehen. Das sind nur die Außenwände, die so hoch sind. Man könnte heimlich auf dem Dach mitreisen."
„Sehe ich aus, als ob ich das machen würde? Das ist sicherlich fürchterlich kalt."
„Du wirst es trotzdem machen", bestimmte Jerelyn und Einar widersprach nicht.
„Und wie sollen wir auf den Bus kommen, wenn das Tor abgeschlossen ist und bewacht wird?"
„Es gibt an der Seite ein Loch, groß genug für Katzen oder auch ein Kind"
„Äh, ohne dir jetzt zu nahe treten zu wollen, aber ich bin schon 17 und damit kein Kind mehr", bemerkte Cassia irritiert. Oder meinte Jerelyn vielleicht jemand anderen?
„Noch nicht", korrigierte Jerelyn sie. „Aber das ist deine Fähigkeit" Aufgeregt hüpfte sie auf und ab.
„Meine... Fähigkeit?" Cassia hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass ihr Leben nicht mehr wie vorher sein würde und dass sie nun eine Hexe war. Wenn das dazugehörte, dann war das ebenso.
„Du kannst dich selbst verjüngen und wieder altern bis zu deinem aktuellen Alter."
„Äh okay? Und wie genau geht das?"
Noch etwas verwirrt folgte sie Jerelyn durch die Schatten zu dem Loch.
„Du musst dich daran erinnern, wie es sich anfühlt, klein zu sein. Denke an dich, als du fünf Jahre alt warst", versuchte die Krähe es ihr zu erklären.
„Das klingt ziemlich kompliziert" Cassia kratzte sich am Arm. Außerdem erinnerte es sie schmerzlich daran, wie viel sie verloren hatte.
Einar stöhnte nur und schlüpfte durch das Loch im Zaun.
„Ich putze mich dann mal, bis ihr fertig seid."
Cassia konzentriert sich und dachte an ihre Kindheit.
Blumenwiesen voller Löwenzahn.
Mit ihren Geschwistern fangen spielen.
Schäfchenwolken zählen.
„Wer ist da?", hallte die herrische Stimme des Wächters über den Hof.
Verdammt...
ꕤꕤꕤꕤ
Manchmal ist die Familie näher als man denkt.
Ja...
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