Der wahre Barbar
Caja
Der Geruch von Meersalz hing bereits in der Luft, als sie auf Alvas Rücken eine weite Grassteppe überquerte.
Die Temperaturen stiegen an, umso weiter sie sich dem Meer näherten, weshalb der Schnee sich hier nicht mehr niedersetzte.
Kalt war es dennoch. Caja trug auf ihren Wunsch hin Wildschweinfell um ihre Schultern. Darunter auf den des Königs hin ein dunkelrotes Kleid aus Seide.
Harold hatte ihr in weiser Voraussicht befohlen, die Vorhut zu bilden. Sah ihr Volk die Tochter des Jarl zuerst, so würde keine Unruhe ausbrechen. Dies nahm er zumindest an.
Caja hoffte, dass er recht behalten würde, auch wenn sich in ihrem Inneren ein anderes Gefühl auftat.
Seit ihrer Vorsehung hatte sie über den Grund der Rückkehr ihres Vaters nachgedacht. Dass er sein Kind nachhause holen wollte, war der naheliegendste, doch etwas in ihr sagte ihr, dass der wahre ein anderer war. Dass mehr dahintersteckte.
Sie war die erste, die die Klippen erreichte. Nur zu deutlich erinnerte sie sich an ihre Ankunft in Angelland. Daran, als sie die hohen Felswände zum ersten Mal zu Gesicht bekommen und etwas oberhalb von ihnen hatte aufblitzen sehen. Mittlerweile wusste sie, was es gewesen war - die Rüstung eines Soldaten.
Nun war sie es, die an dessen Stelle auf dem Rücken ihrer Stute saß und auf das Meer und die ankernden Schiffe hinabblickte.
Die Männer und Frauen hatten sich nicht vom Strand entfernt, wofür Caja mehr als nur dankbar war. Sie hielten sich zurück.
Ihr Herz hämmerte wild gegen ihre Brust und sie konnte spüren, dass Tränen der Freude sich ihren Weg ans Tageslicht bahnen wollten. Doch sie beherrschte sich und hielt sie zurück. Der König brauchte ihre Gefühle nicht deuten zu können.
Wenn sie eines von Askwin gelernt hatte, dann dass es in manch einer Situation von Vorteil war, seine Emotionen hinter dem Berg zu halten.
Die Maskerade aufrechterhaltend wandte sie sich zu Harold um, der seinen Fuchs neben Alva führte. Er richtete sein Augenmerk auf die Galeonen, die von den Wellen sanft hin und her gewogt wurden.
Auch ihm konnte man seine Gedanken und Empfindungen nicht ansehen.
„Wie wollt Ihr nun vorgehen?" Caja überließ ihm die Führung, auch wenn alles in ihr danach schrie sogleich nach unten zu galoppieren und ihrem Vater gegenüberzutreten. Ihn wieder in die Arme zu schließen und sich zuhause zu fühlen. In das Waldgrün seines gesunden Auges zu blicken und zu wissen, dass sie in Sicherheit war.
„Was wollt Ihr tun?", reichte Harold die Frage an sie weiter, ohne seinen Blick von den Nordstämmigen abzuwenden, die ohne eine Vorahnung von dem zu haben was sie erwartete, über die Decks wuselten.
Atmen. Herrin über ihre Gefühle bleiben. Nach seinen Vorstellungen und Wünschen handeln.
„Lasst meinen Vater zu Euch kommen. Lediglich in der Begleitung zwei von ihm ausgewählten Personen. Das garantiert Euch, dass er nicht aus heiterem Himmel angreift."
Was er ohnehin nicht getan hätte.
Melker war ein kluger Mann und nicht, wie Harold annahm, im Geiste zurückgeblieben. Der König hielt ihr Volk für dumme Wilde, mit denen man nicht auf gehobener Ebene sprechen konnte. Caja hatte nichts dagegen ihn in diesem Glauben zu lassen. Sollte er ihre Leute ruhig unterschätzen.
Auch wenn sie keinen Groll gegen die Angelsachsen hegte, sympathisierte sie noch immer nicht mit Harold. Anders als Askwin, Adalar und all die anderen, die sie kennengelernt hatte, besaß er kein gutes Herz. Keine reine Seele. Sie misstraute ihm und ihm erging es nicht anders mit ihr.
Der einzige Grund, aus dem sie noch am Leben war, war der, dass sie einen Zweck für ihn erfüllte - ihm die Nordstämmigen vom Leib zu halten.
Sie war sich sicher, wäre dem so nicht gewesen, säße sie schon längst mit den Göttern an einem Tisch in Walhallas Hallen.
Harold nickte auf ihren Vorschlag hin, wandte sich dann seinen Männern zu. „Schlagt ein Lager auf!" Diese kamen seinem Befehl nach und machten sich daran die Zelte aufzustellen.
Währenddessen wich der König nicht von Cajas Seite. Er verweilte neben ihr, direkt am Abgrund der Klippe. Keine Worte wurden zwischen den beiden ausgetauscht. Schweigsam beobachteten sie das Treiben auf den Schiffen und ein jeder von ihnen hing seinen eigenen Gedanken nach.
Auch wenn die Rückkehr in ihre Heimat greifbar nah erschien und sie sich diesen Moment so lange herbeigesehnt hatte, kreiste alles in Cajas Kopf um Askwin.
Wohlwissend, dass er in guten Händen war hatte sie ihn in Wessex zurückgelassen. Er würde überleben, das hatte Adalar ihr versichert.
Dennoch zwang sich die Frage auf, ob sie ihn jemals wiedersehen würde. Was wenn sich keine Gelegenheit für einen Abschied auftun würde? Wenn sie ihm für seine Hilfe, seinen Schutz und seinen Respekt nicht mehr persönlich danken konnte?
Wäre er nicht gewesen, dann wäre sie schon lange nicht mehr am Leben. Darüber war sie sich im Klaren. Er verdiente es, dass sie sich zumindest mittels Worten revanchierte.
Sobald das Lager errichtet war, überreichte Harold seinen Fuchs an einen Knappen und bezog dann sein Zelt. Er machte Caja unmissverständlich deutlich, dass sie ihm folgen sollte.
Im Inneren war ein Tisch aufgebaut worden, auf welchem ein Weinkrug und Kelche platziert worden waren.
Harold deutete ihr, sich zu setzen. Anschließend schenkte er erst ihr und dann ihm selbst ein. Sich die Lippen leckend musterte er Caja. Seine Augen bohrten sich in ihre und sie wurde das Gefühl nicht los, als würden sie bis in ihre Seele hinabblicken. Es zumindest versuchen.
Sie konnte sich gut vorstellen, dass die meisten nervös wurden, wenn der König sie auf diese Weise ansah. Eindringlich und wissend. Als würde er jedes dunkle Geheimnis kennen. Jeden Gedanken lesen können.
Caja aber wahrte ihre Fassade. In sich gekehrt lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und nahm einen Schluck vom Wein. Sie erwiderte seinen Blick und wartete darauf, dass er etwas sagte.
Doch das tat er nicht.
Das Schweigen war unangenehm und sorgte dafür, dass sich eine gewisse Spannung im Zelt ausbreitete. Aber weder Caja noch Harold ließen sich davon beeinflussen.
Sie musterten sich weiterhin gegenseitig. In völliger Ruhe, die erst durchbrochen wurde, als ein junger Mann um Eintritt bat.
Der König ließ ihn gewähren. In höflicher Manier verbeugte sich der Bursche zunächst vor seinem Herrn, bevor er sagte: „Ihr habt nach mir rufen lassen, Euer Gnaden."
„Ihr sollt den Wilden eine Botschaft von mir überbringen." Das Wort Wilden spuckte er dem Mittelsmann schon beinahe entgegen.
Caja musste sich beherrschen sich ihren Unmut darüber nicht anmerken zu lassen.
Wie konnte er es sich erdreisten, sich für so viel besser zu halten? Er war nicht mehr wert als der Dreck, der an ihren Schuhsohlen klebte.
Wenn sie keine solche Abneigung gegen das Töten besessen und nicht um jeden Preis den derzeit herrschenden Frieden hätte sichern wollen, dann wäre sie in Versuchung geraten ihm den Kopf eigenhändig von den Schultern zu schlagen, solch einen Hass verspürte sie auf ihn.
Wie konnte so jemand über ein ganzes Volk richten? Wie konnte es sein, dass die Bürger einen solchen Menschen als ihren Herrscher akzeptierten? Einen Mann, der nur an sich selbst dachte. Der kein Herz, kein Gewissen, keine Seele besaß.
Er hielt Cajas Volk für Barbaren. Dabei war er um Welten grausamer. Kälter noch als der Winter.
„Sagt ihrem Anführer, dass ich ihn binnen einer Stunde hier erwarte. Begleiten dürfen ihn lediglich zwei seiner Männer. Ich will wissen, weshalb er zurückkehrt ist und ob ihm das Leben seiner Tochter so wenig bedeutet, dass er die Abmachung bricht." Ruhe prägte seine Stimme, doch Caja hörte dennoch die leise Drohung in seinen Worten.
Atmen. Nicht die Beherrschung verlieren.
Sollte er es doch versuchen sie umzubringen. Sie würde ihm das Rückgrat brechen, noch bevor er Hand an sie anlegen konnte. Das versprach sie ihm in Gedanken. Äußerlich gab sie sich weiterhin gefasst.
Der Laufbursche verneigte sich sofort und verschwand, um den ihm erteilten Befehl auszuführen.
Caja fand sich erneut allein mit Harold wieder. Sie genehmigte sich einen weiteren Schluck, bevor sie das Wort ergriff: „Ihr droht meinem Vater. Glaubt Ihr es ist sinnvoll Feuer mit Feuer zu bekämpfen?" Monotonie ergriff von ihrer Stimme Besitz und verwehrte Harold somit einen Einblick in ihre Gefühlswelt. Abermals dankte sie Askwin im Stillen für diese Lektion.
Ihr Gegenüber nahm sich Zeit mit seiner Antwort. Er verköstigte den Wein ebenfalls, bevor er die Hände faltete und sie auf dem Tisch ablegte. Den Körper nach vorne gebeugt funkelten seine dunklen Augen Caja an. Im fahlen Licht wirkten sie beinahe schwarz. Schwarz wie seine Seele. „Ein König muss tun, was ein König tun muss." Lieblich. Sanft. Er spielte mit ihr. „War es nicht Euer Vater, der mir zuerst gedroht hat, indem er seine Schiffe an meiner Küste ankern ließ?"
Ruhe bewahren. Sich nicht von ihm provozieren lassen. „Was würdet Ihr an seiner Stelle tun, wäre er es, der Eure Tochter in seinen Fängen hielte?"
„Nun, ich wäre selbst verantwortlich für diese Lage. Immerhin wäre ich es gewesen, der ein Land angegriffen und dessen König unterschätzt hätte." Er richtete den Oberkörper wieder auf. Gerade wie eine Statue thronte er auf seinem Stuhl. Das gefährliche Funkeln seiner Augen blieb. „Ich würde mich an die Abmachung halten."
Das würdet Ihr nicht. „Dann lasst uns für meinen Vater beten, dass er seinen Verstand benutzt." Mitspielen. Das sagen, was Harold hören wollte.
„Und für Euch." Er prostete ihr über die Luft hinweg zu.
„Und für mich." Sie erwiderte.
Beide tranken.
„Ich bin Euch übrigens zu Dank verpflichtet. Daher habe ich ein kleines Geschenk für Euch." Ein gehässiges Lächeln umspielte seine rauen Lippen. Er ließ seine Finger aneinander tippen. Wieder und wieder.
Ein beständiges Geräusch wie das von prasselndem Regen breitete sich um sie herum aus und drohte Caja die Nerven zu rauben.
„Zu Dank? Wofür?" Sie konnte nicht anders als die Stirn kritisch in Falten zu legen. Was für Spielchen trieb dieser Mann mit ihr? Er war wie ein Wolf, der sich an der Unsicherheit seiner Beute labte. Nur, dass sie ihm die ihre nicht schenken würde.
„Ihr habt meinen Heerführer gerettet, oder etwa nicht? Sir Seymour bedeutet mir viel. Er ist ein Stratege wie kein Zweiter. Es wäre schier unmöglich einen Mann zu finden, der ihm das Wasser reichen kann." Er klatschte in die Hände.
Als hätte der Bedienstete nur auf dieses Zeichen gewartet, kam er nach drinnen gehuscht. In den Händen trug er eine kleine Schatulle. Er stellte sie direkt vor Caja ab, ehe er wieder verschwand.
Caja lehnte sich nach vorne um das Kästchen aus rot angemaltem Holz besser betrachten zu können. Wer auch immer es gefertigt hatte, war begabt was die Kunst der Schnitzereien anbelangte. Sie erkannte einen eingearbeiteten Adler, der so detailliert war, dass es Caja innerlich zum Staunen brachte.
„Nur zu, nehmt es in die Hand", forderte Harold sie auf.
Sie kam dem nach. Ihr Daumen strich über das Tier und sobald er dessen Schnabel berührte, kehrte eine Erinnerung in ihr Bewusstsein zurück. Sie hatte den Adler auf rotem Grund bereits einmal gesehen. Die Götter hatten ihr diesen an ihrem achtzehnen Namenstag gezeigt. Jenem Bild war das von Blut gefolgt. Dann hatte sie Dunkelheit umfangen und sie hatte eine Eiseskälte verspürt.
Auch jetzt fröstelte sie.
Egal was sich in der Schatulle befand, es war nichts Gutes.
Sie zögerte. Zu lange.
Ungeduldig knallte Harolds Faust auf den Tisch. „Öffnet sie schon!"
„Haltet Eure Zunge und Euren Zorn im Zaum", erwiderte sie ruhig und hob den Blick. Sicher würde sie sich nicht von ihm kontrollieren lassen. „Habt Ihr vergessen, dass ich Euer Gast bin? Ich kann mich zuweilen nicht daran entsinnen, dass Ihr mich jemals als Eure Gefangene betitelt hättet. Und soweit mir der Brauch Eures Volkes naheliegt befielt man einem Gast nichts. Man bittet nur. Höflichst."
Harold knirschte mit den Zähnen. „Ich kann einen Gast in wenigen Sekunden zu einem Gefangenen degradieren lassen." Doch dann nickte er, setzte seine Maske wieder auf. Die Gelassenheit kehrte in seine Bewegungen und auch in seine Stimme zurück. „Wenn Ihr nun die Güte hättet." Er nickte in Richtung der Schatulle.
Caja senkte den Blick auf das Geschenk. Ein ziehendes Gefühl machte sich in ihrem Magen bemerkbar. Alles in ihr schrie danach, dass es ein Fehler war das Kästchen zu öffnen. Ein zweites Mal zu zögern konnte sie sich allerdings nicht leisten. Sie durfte dem Wolf die Beute nicht ins Maul legen.
So entriegelte sie den Verschluss und hob den Deckel an.
Sofort begann ihr Herz zu rasen. Ihre Fassade, die sie sorgsam um ihre Innenwelt errichtet hatte, bröckelte und zerfiel zu Staub.
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