EINS

Reglos starrte ich hinauf zur Decke meines Wohnheimzimmers, das für die nächste Zeit meine Heimat sein würde, und lauschte auf die gleichförmigen Atemzüge meiner Mitbewohnerin. Monate hatte ich gelernt wie eine Besessene. Befriedigt stellte ich fest, dass es sich gelohnt hatte. Ich teilte meinen beschränkten Lebensraum zwar mit einer Fremden, zwischen Davis und mir lagen dafür tausende von Kilometern, beinahe die kompletten Vereinigten Staaten.
Der Raum, den ich ab sofort mit Stella teilte, einer quirligen Studentin im zweiten Semester, hätte zweimal in das ausgebaute Dachgeschoss gepasst, das ich zuvor mit Davis geteilt hatte. Trotzdem war ich glücklich, hier zu sein. Weit entfernt von Davis, der in Florida studierte und jedes Wochenende nach Hause kommen würde.
Geblieben waren mir ein paar nicht zu verachtende Restunsicherheiten: Waren alle Studenten nett, wie die selig schnarchende Stella, und nahmen mich, wie ich war? Oder waren sie wie Davis, der immer versucht hatte, mich umzuerziehen? Mich in etwas zu verwandeln, das ich nicht war: ein Mädchen das seinen Vorstellungen entsprach. Das war wie Doris.

Seufzend fuhr ich mit den Händen über meine Wange. All die nutzlosen Fragen standen seit Stunden nicht still und ich hatte Angst, am nächsten Morgen vollkommen gerädert in der Vorlesung zu sitzen. Vorsichtig spähte ich zu Stella und verspürte einen Anflug von Missgunst. Einen tiefen Schlaf wie ihren hätte ich gerne einmal im Leben gehabt! Seit ich kein Tagebuch mehr führte, fiel es mir schwer, Tage abzuschließen und Vergangenes loszulassen. So steigerte ich mich leider oft in Gedanken hinein, die anderen banal vorkamen. Ich neigte dazu, Probleme nächtelang zu wälzen, bis ich die Reißleine zog.
Vorsichtig setzte ich mich auf, schielte zu Stella hinüber, aber ohne etwas zu erkennen. Dann tastete ich auf dem Nachtkasten nach meiner Brille. Mit lautem Scheppern fiel der Wecker zu Boden.
„Gut gemacht, Anna", fluchte ich verhalten und lauschte in die Dunkelheit. Kurz hörte ich das Rascheln von Stellas Decke und sie brummte leise, schlief aber weiter wie ein Murmeltier.
Um einiges vorsichtiger unternahm ich einen neuen Anlauf, im Dunkeln meine Brille zu ertasten. Mit den Fingerspitzen stieß ich nach unzähligen Versuchen gegen das kühle Metall und umschloss dankbar das Gestell. Aus Schemen wurden klare Strukturen, sobald ich durch die Gläser sah. Barfuß schlich ich über den flauschigen Teppich, umging dabei Stellas Kleidung, die in der Dunkelheit auf den Boden gestreuten grauen Findlingen glich, und erreichte unfallfrei meine Seite unseres Schreibtisches. In der obersten Lade erfühlte ich einen Bogen Papier und auf der Arbeitsplatte einen Stift.
Auf dem Weg zur Tür nahm ich lautlos meinen Hoodie vom Haken unseres Garderobenständers. Mit dem Pulli über dem Arm betrat ich den Gang, der um zwei Uhr morgens still und verwaist dalag. Die Lichtleisten, die in regelmäßigen Abständen eine Handbreit über dem Boden angebracht waren, spendeten ein bläuliches Licht und spiegelten sich auf der Oberfläche des gebohnerten Linoleumbodens.
Mit einer Hand zog ich etwas unbeholfen den Pulli über und steuerte auf die Gemeinschaftsküche zu, wo ich mich auf die breite Fensterbank setzte. Das Papier, ein kläglicher Ersatz für mein Tagebuch, auf den Oberschenkeln, starrte ich eine lange Weile zu den Wolken hinauf. Unbeeindruckt von meinen Sorgen zogen sie über den nächtlichen Himmel und verschluckten die wenigen Sterne, die ich trotz des hell erleuchteten Campus ausmachte. Mit dem Stift in der Hand überlegte ich, wo genau im Augenblick mein Problem lag. Was mich beunruhigte und mir den Schlaf raubte.

Dear Unknown,

Ich habe Angst. Angst vor morgen. Angst vor... allem. Vor den Vorlesungen. Den Unmengen an Stoff. Meinen Kommilitonen. Vor dem riesigen Campus. Vor den hohen Preisen für Essen und Getränke. Vor den Prüfungen. Vor meinem Gesicht im Spiegel. Vor dem Sportkurs. Vor den langen Wegen über das Gelände.
Ich habe Angst, mich zu verlaufen und nie den Rückweg zu mir zu finden. Ich habe Angst, falsch abzubiegen und verbittert, hart und zynisch zu werden, wie Davis. Ich habe Angst, zu werden wie meine Mum. Unglücklich.
Noch mehr habe ich Angst, zu werden wie mein Dad. Immer auf der Jagd nach einem Moment puren Glücks, der sich dann als Illusion herausstellt.
Ich habe Angst, für immer allein zu sein. Nie jemanden zu finden, der mich liebt, wie ich bin. Um meiner selbst willen.

„Anna?"
Erschrocken sah ich auf und hinterließ dabei einen langen unkoordinierten Strich auf dem Papier, weil ich so heftig zusammenzuckte. Stella stand in der Küchentür. Ihr Gesicht war vom Schlaf zerknittert, ihre veilchenblauen Augen wirkten müde. Voller Bewunderung betrachtete ich ihre Haare. Obwohl meine Mitbewohnerin erst vor kurzem aus dem Bett geklettert war, fielen sie wie ein seidig weicher, hellblonder Vorhang über ihre schmalen Schultern. Lichtscheu blinzelte sie in die Helligkeit und ich nutzte ihre Desorientierung und knüllte verstohlen das Papier in meinem Schoß zusammen.
„Alles okay?", erkundigte sie sich.
Ich nickte hektisch und sie tapste schlaftrunken zum Kühlschrank. Dort griff sie nach einer Packung Milch, von der ich nicht sicher war, ob sie ihr gehörte. Direkt aus dem Karton trank sie ein paar Schlucke. Mit dem Handrücken wischte sie über ihren Mund, bevor sie das Getränk zurück in die Leiste der Tür stellte.
„Es ist weit nach Mitternacht. Was machst du hier?" Ihre unumwundene Frage brachte mich in Schwierigkeiten. Lügen konnte ich nicht ausstehen. Jemandem, den ich keine Woche kannte, zu erklären, warum ich regelmäßig an einen fiktiven Unbekannten Briefe schrieb, die ich nie versendetet, gefiel mir um Längen weniger.
„Ich konnte nicht schlafen", log ich. „Da dachte ich, ich geh noch mal meine Checkliste für morgen durch." Mir fiel auf, wie defensiv ich klang, fand aber, es ließ mich glaubwürdiger wirken.
Stella schüttelte tadelnd den Kopf und kam näher. Die ganze Zeit hielt sie Blickkontakt. Schon lange hatte mir kein Gesprächspartner mehr ungeteilt eine solche Aufmerksamkeit geschenkt.
„Das ist verrückt, Anna. Du musst morgen fit sein. Geh ins Bett. Die beste Checkliste hilft nicht, wenn dein Kopf in der Vorlesung auf den Tisch knallt, weil du einschläfst." Ohne eine Antwort zu erwarten, ging meine Mitbewohnerin zur Tür. Ihr Ton wurde ungeduldiger, weil ich mich nicht vom Fleck rührte.
„Na los, komm schon!", forderte sie erneut und mit mehr Nachdruck. Aus einem mir unklaren Grunde sah ich mich gezwungen, ihr zu folgen. Meinen unfertigen Brief an niemanden im Speziellen verbarg ich hinter dem Rücken, so geschickt es möglich war, sprang vom Fensterbrett und drückte mich an Stella vorbei auf den langen Flur. Mein Herz raste. Ich hatte den Brief noch immer in der Hand und keine Ahnung, wohin damit!
Denk nach!
Kurz vor unserem Zimmer fiel mein Blick auf den Eingang zum Toilettenraum.
„Ich geh noch mal schnell", haspelte ich und flüchtete vor Stella in eine der Kabinen. Mit pochendem Herzen lehnte ich mich von innen an die nichtssagend hellgraue Trennwand, verriegelte die Tür. Das Papierknäuel presste ich gegen meine Brust, bis ich nicht mehr das Gefühl hatte, dass mein Herz jeden Moment in meinen Hals hüpfte. Mit den Nerven am Ende ließ ich mich auf dem Toilettendeckel nieder und entfaltete den Bogen wieder. Der Länge nach riss ich ihn in ordentliche Streifen, zerteilte jeden in winzige Schnipsel und spülte diese in der Toilette runter. Nur einige kleine weiße Flocken blieben wie eine Mahnung auf dem Wasserspiegel zurück.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top