17
Die nächsten Tage verbrachte Eve in einer schwebenden Blase der Unwirklichkeit. Chris - er hatte sich dafür entschieden, diesen Namen beizubehalten - verkroch sich die meiste Zeit in ihrem Zimmer und zappte sich durch sämtliche TV-Kanäle, während Eve in der Küche des Diners aushalf. Beide mieden sie konsequent die Öffentlichkeit. U flatterte um sie herum wie eine besorgte Glucke um ihre Küken, schaffte es aber auch nicht, sie aufzumuntern. Chris gab sich distanziert und Eve fühlte sich in seiner Nähe seltsam befangen. Chris' Hoffnung, seine Erinnerung könnte über Nacht zurückkehren, erfüllte sich nicht und in Eve wuchsen die Schuldgefühle, da sie sich ja genau das im Stillen gewünscht hatte. Sie teilten sich weiterhin das Bett in U's Gästezimmer, mit viel Abstand und noch mehr Schweigen. U's bunte Schachtel staubte traurig und unbenutzt auf dem Nachttischschränkchen ein.
Das Aufwachen mutierte zu einem merkwürdigen Ritual. Im ersten Moment fühlte es sich behaglich und vollkommen richtig an, den Duft und die Wärme des anderen zu verspüren. Einmal lag Eve auf seiner Brust, Arm und Bein besitzergreifend um ihn geschlungen, ein anderes Mal schmiegte sich Chris eng an ihren Rücken, die Hand ganz selbstverständlich auf ihrem Busen. Jedes Mal fuhren sie verschreckt und peinlich berührt auseinander, sobald sie sich dessen bewusst wurden. Eve zermarterte sich das Hirn, legte sich überzeugende Argumente zurecht, doch wenn sie ihm gegenüber stand, war ihr Mund staubtrocken und alle Worte vergessen. Jeden Tag hoffte sie auf eine entscheidende Eingebung für die Lösung ihres Problems. Jeden Tag beruhigte sie sich mit "Es gibt ein morgen!". Und dann war Tag X da.
Eve eilte nach oben. Sie roch nach Frittenfett und Waffelteig, der Schweiß lief ihr in Strömen über die Haut und ihre Hände waren vom Spülwasser aufgequollen. Aber für Aufhübschmaßnahmen hatte sie keine Zeit. Wenn sie jetzt nicht endlich mit Chris redete, würde sie es den Rest ihres Lebens bereuen.
»Wir packen! Wir packen und verschwinden. Auf der Stelle! Sofort! Wir können überall neu anfangen. Tausende illegale Einwanderer schaffen das auch ohne Papiere. Oder wir gehen nach Mexico oder Kanada oder Honolulu. Oder meinetwegen auch Wyoming.« Eve stürmte in das Gästezimmer und textete Chris zu, bevor sie wieder der Mut verließ. Er stand am Fenster und beobachtete einen farbenprächtigen Sonnenuntergang. In dunkler Jeans, dunklem T-Shirt, dunkler Bikerjacke. Finster und drohend wie eine Gewitterwolke. Die schönste, die Eve jemals gesehen hatte.
»Nein.«
»Nein? Das akzeptiere ich nicht! Du sturer Esel, wieso können wir es nicht wenigstens versuchen?«
Chris drehte sich zu ihr um, ein wehmütiges Lächeln zupfte an seinem Mundwinkel. »Ich will nicht das nächste Unglück sein, welches du an der Backe hast. Pass auf, ich zeig dir was.« Er trat an den kleinen Tisch neben dem Fenster und setzte sich auf den Stuhl davor. Mit einer fließenden Bewegung zog er die vermaledeite Kanone aus dem Hosenbund und legte sie vor sich ab. Dann begann er die Waffe mit geübten Handgriffen in ihre Einzelteile zu zerlegen. Im Nu verwandelte sich das Tötungswerkzeug in ein für Eve unüberschaubares Metallpuzzle. Chris schob die Stücke fein säuberlich auseinander und blickte zu Eve auf. Ohne den Augenkontakt zu ihr zu unterbrechen, baute er die Glock im Handumdrehen wieder zusammen.
»Das bin ich, Eve. Ich kann nichts anderes. Ich bin eine Waffe und kein Barkeeper, auch wenn ich ein paar Cocktailrezepte kenne. Ich besorge uns diese Papiere und du wirst dir deinen Traum erfüllen. Du bist ohne mich besser dran. Ich weiß nicht, ob es für mich eine Zukunft gibt und wie die aussehen wird. Bevor ich darüber nachdenke, muss ich meine Vergangenheit klären.«
»Aber die werden dich umbringen! Und es ist meine Schuld, weil dein Boss sicher denkt, dass du ihn betrogen hast.« Eve rang verzweifelt die Hände.
»Das lass mal meine Sorge sein.« Chris stand entschlossen auf und umfasste ihr Kinn. Mit dem Daumen fuhr er sanft über ihre zitternde Unterlippe. »Ich werde mich den Behörden stellen, sobald du weg bist. Die haben sicher eine fette Akte über mich und können mich über ein paar Stationen meines Lebens aufklären. Aber Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Was immer ich getan habe, ich werde dafür die Folgen tragen.«
Eigentlich wollte Eve selbstbewusst und bestimmend auftreten. Jetzt zog sie schniefend die Nase hoch und kämpfte mit den Tränen. »Ich gehe zurück nach Maine, nach Hause. Also wenn du irgendwie, irgendwann ... «
»Sch sch, nicht weinen, Eve. Schau nach vorn und mach dir keine Gedanken um mich. Ich versprech dir, ich werde weder dich noch U da mit reinziehen.«
Seine Lippen senkten sich auf ihre, für einen winzigen Moment war die Welt wieder in Ordnung.
Dann war er fort.
Eve wusste nicht, wie lange sie dort am Fenster stehenblieb. Im Dunkeln tappte sie die Treppe nach unten und überraschte U in einem hautengen, silbernen Catsuit beim Yoga auf dem Perserteppich. Aufs Geratewohl griff Eve nach einer bauchigen Flasche vom Sideboard und verkroch sich schluchzend in der Sofaecke.
»Schätzchen, du hast das Wasser erwischt. Sehr gesunde Wahl, bei Liebeskummer aber nicht sonderlich hilfreich.«
Greinend stellte Eve die Flasche ab. »Noch nicht mal ein Besäufnis bekomme ich hin.«
»Hat der Mistkerl dich verlassen?« U sank neben ihr in die weichen Polster.
»Er ist kein Mistkerl! Ganze Schlamassel ... alleine ... blöde Papiere ... will nicht ... Geld.« Schniefend und japsend stammelte Eve eine reichlich lückenhafte Erklärung.
»Nun, der Mann tut, was ein Mann tun muss«, lautete U's Antwort. Doch Eve begehrte kopfschüttelnd auf. » ... völlig unnötig in Gefahr! Ich brauch die doofen Papiere gar nicht. Ich hab meine doch noch.«
Fragend zog U die Augenbrauen bis unter die Stirn. »Hast du ihm das nicht gesagt?«
»Ich hab's vergessen!«, kreischte Eve verzweifelt. »Ich vergesse einfach alles, wenn er mich mit seinen bescheuerten wundervollen gemeingefährlichen Augen ansieht!«
»Ach herrje. Dann müssen wir ihm hinterher! Was meinst du, kann ich so auf eine Rettungsmission gehen?«
Eve schnappte nach Luft und schwankte zwischen Lachen und Weinen. »Den Überraschungsmoment hättest du damit auf jeden Fall sicher.«
* * *
Chris hielt sich im Schatten abseits der Tanzfläche auf und versuchte, seinem Instinkt zu vertrauen. Doch in den zuckenden Lichtern wirkte jede Gestalt bedrohlich, sah jede hektische Bewegung nach einem Angriff aus. Zum wiederholten Male wischte er sich die schwitzigen Handflächen an die Hosenbeine. Er hatte es sich wirklich einfacher vorgestellt. Aber die Sache war ihm zu wichtig. Damit Eve aus diesem Dilemma herauskam, durfte er es nicht verpatzen. Schon komisch, wie sich die Prioritäten verschoben, wenn man gründlich in sich ging. Er hatte sich von ihr ferngehalten, auch wenn er dabei gelitten hatte wie ein Hund. Es spielte keine Rolle. Was mit ihm passierte, war völlig egal. Mit Sicherheit hatte er das Schlimmste verdient und noch einiges mehr.
In seinen Träumen herrschten Gewalt und Tod. Er hatte sich selbst gesehen, mit zugenähtem Mund inmitten von Menschen ohne Gesichter. Hände, die in langen, messerscharfen Krallen endeten, griffen nach ihm, zerrten ihn in einen Käfig und bewarfen ihn mit Geld, Schmuck und Drogen. Er wusste, dass er etwas Wichtiges suchte, doch immer, wenn er der Antwort näher kam, wurde das Bild unscharf und verschwamm zu einer blutigen Masse, aus der ihm tote Augen entgegen starrten.
Eves Angebot war mehr als verlockend gewesen. Doch wenn er ernsthaft der Mann sein wollte, für den sie ihn hielt, durfte er sie nicht als Ausrede benutzen, sondern musste Ordnung schaffen und hinter sich aufräumen.
Das Discolicht beleuchtete einen stachligen, blonden Haarschopf, der sich am Tresen vorbeischob. Chris nahm die Verfolgung auf und verringerte zügig den Abstand. Dies stellte keine große Schwierigkeit dar, denn Ace humpelte nur langsam durch die Menge der Feierwütigen. Am Aufgang zur Bühne mit dem Mischpult zog er den DJ beiseite. Ein Blick auf den riesigen, dunkel verfärbten Bluterguss unter dessen Auge, sagte Chris alles.
»Fuck. Wo warten die Scheißer?«, herrschte er Ace ungestüm an.
Dieser zuckte zusammen und hielt sich schützend den Arm vors Gesicht. »Ich weiß es nicht. Aber sie wissen, dass du heute kommst.«
Chris hielt sich nicht mit langen Nachfragen auf. Er tauchte in das Getümmel und strebte in einem Bogen einen der Notausgänge an. Im Schatten zweier großer Boxen glimmte des Ende einer glühenden Zigarettenspitze auf. Augenblicklich änderte Chris die Richtung. Eine hopsende Meute Teenager bremste ihn aus. Was bitte, hatten Kinder um diese Uhrzeit in so einem Club zu suchen? Der kalte Lauf einer Waffe bohrte sich in seinen Rücken, eine Hand tastete ihn ab und zog ihm die Glock aus dem Hosenbund.
»Einfach ganz ruhig weitergehen«, säuselte es an seinem linken Ohr. Ohne sich umzublicken, befolgte er die Anweisung. Innerlich fluchte er lästerlich. Er hatte nun wirklich genug Sorgen. Jetzt musste er sich auch noch darum kümmern, lange genug am Leben zu bleiben.
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