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Das Blatt in meinen Händen zitterte. Ich warf einen unwohlen Blick zu dem dunklen Vorhang, der im kalten Nachtwind hin und her schwang.

Wer zur Hölle schlief denn auch mit einem komplett offenem Fenster, das nebenbei auch noch bis zum Boden reichte?!

Ein Schauer lief mir über den Rücken, während ich mich bemühte, möglichst leise zu atmen. Langsam fühlte ich mich wirklich wie ein Stalker.

Wills Bett erinnerte mich an mein eigenes, nur befürchtete ich, er würde sich gleich mit den dünnen Vorhängen seines Himmelbettes strangulieren.

Die Decke hatte er beinahe bis zum Kinn hochgezogen, während er fast quer im Bett lag und sich - wie bereits erwähnt - dieser eine Vorhang gefährlich nah an seinem Kopf herum trieb.

Seine linke Hand hing vom Bett - mein Monster-unter-dem-Bett Alarm schrillte lauthals auf - und seine Brust hob sich langsam auf und ab, während sein Mund leicht offen stand und das braune Haar vollkommen wirr von seinem Kopf abstand.

Fehlte nur noch, dass er anfing zu sabbern...

Ich legte meine Stirn in tiefe Falten, während ich, wie der Stalker, der ich nun einmal war, seine entspannten, weichen Gesichtszüge betrachtete.

Und er sollte... er hatte tatsächlich...? Er hatte dem Mädchen, um das er offen bei mir getrauert hatte, das Genick gebrochen?

Ich seufzte und sah mich ein letztes Mal in dem großen Raum um, der sich - erneut - kaum von dem unterschied, in dem ich nun schlief. Vielleicht ein wenig unordentlicher, bedachte man das Chaos, das bei seiner Couchgarnitur herrschte, ganz zu schweigen von den Blättern, die sich auf seinem Schreibtisch unheilverkündend auftürmten.

Ich schnaubte.

Da war ja selbst Alec ordentlicher...

Gut, das war auch nicht schwer, bei der Etepetetigkeit Alecs.

Mein eigenes Zimmer, mein wirkliches Zimmer meine ich - Gott, wann hatte ich das zuletzt gesehen? - sollte man da am besten überhaupt nicht mit einberechnen. Ich war vieles, aber bestimmt nicht ordentlich.

Ein letzter Blick auf die hölzerne Tür, die sich zum Glück mit mir verbunden hatte und nicht einmal daran gedacht hatte, lautstark quitschend nach ihrem Herrchen zu schreien, dann sah ich auf den Zettel hinab, überflog die Worte.

Gut. Also das musste ich jetzt einfach sagen? Und dann?

Bei dem Gedanken, ihm tatsächlich gleich in seine dämliche Brust greifen zu müssen, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken.

Trotzdem umklammerte ich das Pergament noch entschlossener als vorher.

Für einen Augenblick hatte ich tatsächlich darüber nachgedacht, Will einfach alles zu erklären, ihm von allen zu erzählen, Little Falls und meinen Geschwistern, Ben, den Hybriden und, dass er Alec und mich unbedingt gehen lassen musste.

Allerdings, seit dem ich wusste, was mit Roya geschehen war - außen vor gelassen, was sie getan hatte - war da irgendwie das Gefühl, mir könnte ein ähnliches Schicksal widerfahren.

So nach dem Motto: Zur Not würde sie das gleiche abziehen wie Roya, immerhin war sie ebenso unaufrichtig gewesen.

Ich schüttelte den Kopf. Nein. Das war ausgeschlossen. Damit musste ich jetzt alleine fertig werden.

Ich räusperte mich leise, die Anspannung, das Will aufwachen würde, immer allgegenwärtig. Einzig und allein Poppys Aussage von vor ein paar Tagen, dass eine Bombe neben Willi (ein dämlicher Spitzname...) einschlagen könnte und er trotzdem ruhig weiterschlafen würde, beruhigte mich.

»Denn der Schlüssel deines Herzens ist was sie begehren...«

Ich war überrascht. Wirklich. Ich wusste nicht wieso, aber meine Stimme schien vollkommen ruhig, schien nicht einmal zu zittern.

Ganz anders übrigens als meine Hände.

Sie war bloß so unendlich leise, dass ich fürchtete, es würde nicht funktionieren. Ich krallte meine Finger noch fester in das Pergament, ein Schauer überkam mich, dann las ich weiter.

»So Freund, mein Freund, versteck ihn gut und rein. Greife nur hinein, wenn du wahrlich dein Vorhaben Ziel begehrest am meisten auf dieser Welt.«

Begehrte ich es?

Ja. Ja, ganz sicher. Ich wollte Antworten und noch viel mehr wollte ich bald endlich zu meiner Familie zurück kehren. Es war viel zu lange her.

Ich wusste nicht genau, wie lange, aber mittlerweile mussten sie mich seit zwei, vielleicht drei Monaten für tot halten.

Und das letzte, was meine Eltern von ihrer ältesten, lebenden Tochter mitbekommen hatten, war, wie sie vor dem Angebot, die nächste Alpha zu werden, geflüchtet war. Brilliant...

Ich seufzte, doch umfasste das Pergament irgendwie noch fester, während meine Stimme entschlossener würde. Ich würde alles wieder gut machen!

»Greif hinein mein Freund und fürchte dich nicht vor dem Licht, es wird dich wärmen, es wird dich leiten und es wird dich lieben.«

Will bewegte sich nicht. Kein einziges Mal bewegte er sich, reagierte weder auf meine Anwesenheit, noch auf meine Worte.

Ein Kribbeln machte sich in meinen Fingern breit, als wären sie die ersten, die spürten, was gleich passieren würde.

Und es war seltsam, wo ich doch nach dem Gespräch zwischen Alec und mir so nervös gewesen war. Doch jetzt spürte ich nichts.

Keine Angst, die ich erwartet hatte, keine Unsicherheit, kein schlechtes Gewissen.

Nur Entschlossenheit.

Und ich war mir sicher, dass sich diese Entschlossenheit in meiner Stimme wieder spiegelte.

Ich atmete tief durch.

Und dann sprach ich die letzten Worte. Irgendwie bedeutungsvoller, als die vorherigen, obwohl ich es selbst nicht steuerte.

»So greif hinein, greife nur hinein mein Freund.«

Keine Sekunde, nicht einmal der Bruchteil. Dann kippte ich um.

Es war warm. Ich lächelte.

Das Gras, auf dem ich mit weit ausgestreckten Gliedern lag, kitzelte meine nackte Haut, während sich das hellblaue Kleid weit um meinen Körper herum ausbreitete.

Das bekannte, beinahe beruhigende Rauschen der Tannen ließ mir einen wohligen Schauer den Rücken hinab laufen und der sachte Wind, der aufkam und behutsam meinen Körper umspielte, veranlasste mich dazu, meine nackten Füße auszustrecken, damit sie ihn auffangen konnten.

Die Sommervögel, die fröhlich über die Lichtung hinweg segelten, sangen unbeschwert ihre Lieder, als wollten sie mich zum Tanz auffordern und die Sonne, die hoch am Himmel stand, wärmte mir mein Gesicht.

Der liebliche Geruch der Duftpelargonien umspielte meine Nase und ließ mich noch glücklicher lächeln.

Diese hier mochte ich ganz besonders gerne. Die hübschen Blüten auf der Lichtung, auf der ich lag, rochen immer zu nach Fichten.

Ich mochte den Geruch von Fichten.

Irgendwie versprach er mir immerzu ein Gefühl der Geborgenheit. Außerdem war es einer der wenigen Gerüche, wegen denen mir nicht augenblicklich schlecht wurde.

Diese Blumen waren lustig, dachte ich lächelnd. Es gab so viele Varianten von ihnen, die alle anders rochen.

»Her Ary! Jetzt komm endlich.«

Ich grummelte und blinzelte dann missmutig, bis mein Blick auf Fen fiel, der mit verschränkten Armen vor mir stand und mir die Sonne klaute, während er abwartend eine Braue hob.

Ylva hingegen war zunächst noch mit dem Rücken zu mir gewandt und kniete auf dem Boden. Keine Ahnung, was sie da tat.

»Aber es ist so schön hier«, schmollte ich.

»Ich will noch nicht weg.«

Fen seufzte und warf einen Blick über seine Schulter.

»Aber willst du denn Lupa und Phelan hängen lassen? Es ist ihre erste Woche hier auf dieser Welt, da kann ihre große Schwester ja nicht fehlen, oder?«

Das brachte mich zum lächeln und ich nahm Fenris Hand entgegen.

»Natürlich nicht«, gab ich überzeugt von mir, während ich wieder diesen Stolz spührte, der in mir hochkam.

Ich war jetzt nämlich große Schwester! Vor ein paar Tagen waren die kleinen Zwillinge geboren, kaum zwei Wochen nach meinem elften Geburtstag.

Und ich war mir sicher, nie etwas Süßeres, nie etwas Wunderbareres, nie etwas Vollkommeneres gesehen zu haben.

»Ich weiß nur nicht, warum wir nicht einfach hier das Picknick machen können. Ich finde es toll hier.«

Fenris lächelte, während meine Schwester immer noch mit sich selbst beschäftigt war, das hellblonde Haar schwang sacht im Wind mit.

Liebevoll wuschelte mein Bruder mir durch mein störrisches Haar, woraufhin ich ihn böse anfunkelte.

»Lass das!«, beschwerte ich mich, woraufhin Ylva, drei Meter entfernt von uns, kurz aufhorchte, allerdings nichts tat.

»Du weißt, dass es unsere Tradition ist, an diesen Ort zu gehen. Mama und Papa sind mit Yve und mir dort hingegangen, als wir die ertsen Tage auf der Welt erleben durften, wir sind mit dir dort gewesen und jetzt gehen wir mit Lupa und Phelan.«

Ich runzelte die Stirn. Das machte Sinn. Trotzdem fand ich es hier auch schön.

»Feny?«, fragte ich nachdenklich, während Fen sich schon zum gehen abwenden wollte, weil er wusste, dass er mich überzeugt hatte.

Das war allerdings auch nicht schwer. Er war immerhin auch mein großer Bruder. Er hatte immer Recht und ich war überzeugt davon, dass er alles wusste.

Außerdem war er vor kurzem zu den Novizen gekommen, genau wie Ylva. Ich gab es zu, ich bewunderte sie, mehr als alles andere.

Fenris warf mir einen fragenden Blick zu und hob seine Augenbrauen.

»Socke?«, erwiderte er, woraufhin ich ihm die Zunge raus streckte.

»Socke ist ein doofer Name«, beschwerte ich mich.

Immerhin war ich schon elf! Socke genannt zu werden war blöd.

Fenris schmunzelte bloß über meine Beschwerde, nicht zuletzt, weil ich doof gesagt hatte. Er meinte immer, ich würde es lustig aussprechen.

Fand ich übrigens nicht.

Seufzend strich ich das blöde Kleid glatt, das ich hatte anziehen müssen, weil es ja Sommer war.

Ich glaubte, ich hatte eine halbe Stunde mit Lumina diskutiert, bis diese erschöpft nach ihrer ältesten Tochter gerufen hatte, weil die Babys nach ihrer Mutter geschrien hatte.

Mit dem Versprechen, danach mit mir Eis essen zu gehen, hatte Ylva mich erstaunlich schnell überzeugen können, das Kleid doch noch anzuziehen.

Ich runzelte die Stirn und dachte über meine Frage nach.

»Warst du auch stolz, als ich geboren wurde? Also ich bin stolz, immerhin bin ich ja jetzt eine große Schwester. Aber ich war ja damals nur eine und ich habe Bane sagen gehört, dass Rot was blödes ist und -«

»Natürlich.«

Verwirrt sah ich auf, geradewegs in die dunklen Augen meines Bruders und für den Bruchteil einer Sekunde meinte ich, so etwas wie Ärger in ihnen erkannt zu haben.

Ärger? War er sauer darüber, weil ich etwas dummes gefragt hatte? Weil es klar war, dass er natürlich nicht stolz auf mich war, weil ich eben war, was ich war.

Ich schluckte schwer.

Ich war ja nicht dumm...

Ich wusste, dass ich einen Zwilling gehabt haben müsste, ich wusste, wie sie manchmal darüber redeten, dass ich eine Rote war.

Es machte mich traurig.

Manchmal redete ich mit Glück darüber. Ein kleines Kuscheltier, ein grauer, blauäugiger Hund, um genau zu sein, gerade groß genug, dass es in meine Hand passte.

Mama hatte ihn mir geschenkt, nachdem ich nach der Sache mit dem Gebissenen so traurig gewesen war.

Er hatte die perfekte größe, dass meine kleine Hand ihn komplett einschließen konnte. Und dann hielt ich mich an meinem Glück fest, damit es mir nicht vollkommen entglitt. Ich hielt mich an ihm fest, damit ich wusste, dass mein Glück eben noch da war.

Viel zu schwere Gedanken für eine elfjährige, das wusste ich selber.

Aber Glück half. Er half mir zu sehen, dass mein Glück nicht weg war, dass ich mich immer an ihm festhalten konnte. Und sollte.

So in meinen Gedanken versunken merkte ich nicht einmal, wie Fenris seine Arme nach mir ausstreckte.

Erst, als sich seine warmen Hände auf meine Schultern legten, sah ich auf.

Ich blinzelte. Und ich war mir sicher, noch nie hatte ich gesehen, dass Fens Augen so voller Ernsthaftigkeit funkeln konnten.

»Jetzt hör mir mal gut zu Aruna.«

Ich schluckte schwer. Hatte ich etwas falsches gesagt?

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Ylva aufsah und ihrem Zwilling und mir einen verwirrten Blick zuwarf.

»Wie kannst du denn auch nur daran denken, dass ich nicht der stolzeste große Bruder auf dieser ganzen Welt bin, mit dem Wissen, dass du meine kleine Schwester bist?«

Mein Mund öffnete sich überrascht, ich wollte etwas sagen, brachte allerdings kein Wort heraus.

Aber das musste ich auch gar nicht. Fenris redete einfach weiter.

»Natürlich war ich stolz. Natürlich bin ich stolz. Du weißt gar nicht wie stolz! An dem Tag, an dem du geboren wurdest, Yvy und ich sind kein einziges Mal von der Tür des Geburtszimmers gewichen, weil wir uns so sehr gefreut haben. Und als ich dich dann das erste Mal gesehen habe, glaub mir Ary, das war das erste Mal in meinem Leben, in dem ich gespürt habe, was es bedeutet, einen kleinen Menschen bedingungslos und aufrichtig zu lieben. Mir war es egal, dass du keinen Bruder hattest, das spielte überhaupt keine Rolle! Denn da warst du. Das bezaubernste kleine Geschöpf, dass diese Welt jemals erblickt hat. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie du gelacht hast. Ich war mir sicher, nie etwas Schöneres gehört zu haben. Du hast gelacht und mit Mamas Haaren gespielt, neugierig und fröhlich, wie du nun einmal bist, schon von diesem Zeitpunkt an warst. Und als ich dir dann zum ersten Mal in die Augen geblickt habe, so sehr mit Stolz erfüllt, dass ich mir sicher war, jeder würde es spüren, habe ich mir geschworen, dass diesem kleinen, wunderbaren, wunderschönen Engel nie, niemals etwas geschehen sollte. Ich habe mir geschworen, dass ich dich mit meinem Leben beschützen werde. Ich habe mir geschworen, dass ich sterben würde, wenn es bedeuten sollte, dass du leben würdest. Und ich habe mir geschworen, jedem, der es wagen sollte, dich schräg anzusehen, zu zeigen, was es bedeutete, meiner kleinen Schwester ein Haar zu krümmen.«

Ich blinzelte heftig. Ich wollte nicht weinen - ehrlich nicht! Immerhin war ich schon elf! - aber irgendwie berührten mich Fenys Worte so sehr.

Nach all diesen Nächten, in denen ich leise mit Glück geredet hatte und ihm meine Zweifel mitgeteilt hatte.

Fens Griff um meine Schultern wurde stärker, während meine Lippen bebten, aus dem Augenwinkel sah ich, wie Yvy sich aufrichtete.

»Und dann, als du größer geworden bist, glaub mir Ary, ich hätte niemals stolzer sein können, niemals stolzer darauf, dass unbedingt ich das Glück haben sollte, dein großer Bruder zu sein. Es war faszinierend, du und einfach alles um dich herum. Wie du die Welt angesehen hast, mich und Yvy, wie du geschaut hast, als du Cole und Ezaly das erste Mal begegnet bist. Als du sie das erste Mal wirklich wahrgenommen hast, nicht nur als lachendes Baby neben ihnen lagst und sie mit deinem Gebrabel unterhalten hast. Ihr lerntet gerade laufen und du in deinem unendlichen Ehrgeiz konntest es natürlich als erste. Du bist glucksend auf sie zugerannt und hast dich immer wieder auf den Boden fallen lassen, nur um ihnen zu zeigen, wie man vernünftig aufstand. Du hattest immer dieses gewisse Strahlen in deinen Augen, diese unbändige Neugierde in dir. Es war das wundervollste auf dieser Welt, mitzuerleben, wie du die Welt entdecktest, es war unbeschreiblich, dir all diese Dinge zeigen zu können. Du warst immer schon fasziniert von den kleinen Dingen und als du das erste Mal Schnee gesehen hast, wolltest du nie wieder ins Haus zurück. Du hast gebrabbelt und gelacht und die Flocken mit deinen kleinen Fingern aufgefangen. Ich erinnere mich noch ganz genau daran, wie Yvy und ich in der Nacht mit dir raus geschlichen sind, einfach, um dir all die wunderbaren Dinge zu zeigen, die der Schnee mit sich gebracht hatte. Es war unbeschreiblich mit anzusehen, wie du größer wurdest, als allererste diesen ausgeprägten Sinn von Gerechtigkeit bekamst und die andere in deine Welt einweihtest, voller Fantasie und Magie. Du warst immer schon ein schlaues Mädchen, hast ihnen Sachen erklärt, an die sie nicht einmal dachten, die für dich allerdings umso wichtiger schienen. Und es war wunderbar zu sehen, wie aus dem kleinen, vergnügten Baby, ein aufgewecktes, neugeriges Mädchen wurde, mit diesem gewissen Strahlen in den Augen. Es war beeindruckend zu sehen, wie du nach der Sache mit dem Gebissenen deine Freude nicht verlorst, obwohl ich damals vor Schreck Wochenlang wie erstarrt war. Du hast einfach weiter gemacht, weil du mutiger bist, als alle anderen Wölfe, die mir jemals begegnet sind und ob Rot oder nicht, das spielt überhaupt keine Rolle. Du bist Aruna, nicht mehr und nicht weniger. Und ich könnte niemals stolzer sein, dass du meine Schwester bist.«

Er war stolz. Er war stolz auf mich. Feny war wirklich stolz auf mich.

Meine Lippen bebten und ich starrte ihn mit großen Augen an, irgendwie überfordert.

Fen seufzte und lehnte sich vor, um seine Stirn gegen meine eigene zu legen.

»Natürlich bin ich stolz auf dich«, hauchte er.

»Du bist meine Schwester Ary, wie könnte ich denn nicht?«

Ich schloss meine Augen, während Fen mich immer noch festhielt.

»Ich hab dich lieb Feny«, murmelte ich, in dem Moment wusste ich nicht, was ich sonst sagen sollte.

»Und ich bin auch stolz, dass du mein Bruder bist, ehrlich.«

Fenris lachte leise auf und nickte leicht, als ich plötzlich eine Bewegung hinter mir spürte.

Im nächsten Moment schlossen sich zwei schlanke Arme um mich und ich riss erschrocken meine Augen auf, während Yvy mir einen Kuss auf die Wange hauchte.

»Natürlich sind wir stolz auf dich, was denkst du denn?«, lachte sie, während Fen grinsend einen Schritt nach hinten trat und zwei seiner drei Schwestern betrachtete.

Ylvas langes Haar kitzelte mich im Nacken und ich musste kichern.

Grinsend ließ Yvy mich wieder los und stellte sich neben ihren Bruder. Dann sah sie beinahe nachdenklich aus.

Sie runzelte die Stirn und tippte sich etwas übertrieben ans Kinn, was mich wieder leise zum glucksen brachte.

»Aber weißt du was Fen?«, sprach sie, woraufhin Fen ihr ein kurzes Grinsen zuwarf.

»Nein? Was denn?«, erwiderte er und schielte auf etwas hinab, dass Ylva hinter ihrem Rücken verborgen hatte.

Neugierig reckte ich meinen Kopf, um sehen zu können, was es war.

»Ich glaube, da fehlt noch etwas«, redete Yvy weiter und ich begann aufgeregt, auf und ab zu wippen.

»Was denn? Was?«, fragte ich neugierig, was Ylva nur noch breiter grinsen ließ.

Ich blinzelte ein paar Mal und musterte meine Schwester aufgeregt.

Sie sah ganz anders aus als ich, dachte ich. Manchmal glaubte ich, Ylva war ein Engel, mit den filigranen, wunderschönen Gesichtszügen und den langen, hellblonden Locken, die im Gegensatz zu meinen allerdings ganz und gar nicht wirr wirkten.

Und manchmal, wenn man in diese großen, hellgrünen Augen sah glaubte man, es wäre vollkommen unmöglich, dass jemals etwas schreckliches passierte, weil Ylva eben da war.

Ylva würde auf einen aufpassen, das war klar.

Wie einmal, als ich mich überschätzt hatte und einen Baum hinauf geklettert war, der für meine damals sieben Jahre zu hoch war. Ich wusste noch genau, wie sehr ich geweint hatte und Cole und Eza hatten ziemlich verzweifelt Hilfe geholt.

Ylva war sofort gekommen, hatte beruhigend auf mich eingeredet, während sie selber die Höhe des Baumes problemlos gemeistert hatte.

Ich erinnerte mich noch ganz genau, wie ich mich an sie geklammert hatte und wie sie mir immer wieder versicherte, dass ich keine Angst haben musste, weil sie da war.

Oder die Zeit, in der ich viel geweint hatte, weil ich erst nicht mit der Blindheit klar gekommen war.

Fenris hatte zwar gesagt, ich hätte einfach so weiter gemacht, aber das stimmte nicht ganz. Jetzt kam ich zwar gut damit klar, aber unmittelbar nach den Geschehnissen...

Die Albträume hatten mich gequält.

Ylva war manchmal mitten in der Nacht aufgestanden, während alle bereits geschlafen hatten. Ich allerdings hatte auf meinem Bett gesessen und stumm in mein Kissen geweint.

Bis heute wusste ich nicht, was Yvy geweckt hatte. Vielleicht war es ein Gefühl gewesen, wie es auch Mütter hatten. Ein leichterer Schlaf, jederzeit alarmiert, bei jedem kleinsten Geräusch.

Jedenfalls war sie immerzu gekommen und hatte mich ohne zu zögern in den Arm genommen.

Erst hatte sie beruhigend auf mich eingeredet, das Lied gesummt, das Lumina immer sang, um mich zu beruhigen.

Ich hatte mich auf ihrem Schoß zusammen gerollt und stumm in ihre Brust geweint, während sie beruhigend über meinen Rücken strich.

Und dann, wenn ich mich beruhigt hatte, hatte sie immerzu die Geschichten von Rey der einäugigen Piratin erzählt, die gemeinsam mit Ceza ihrem treuen Hippogreif die wildesten Abenteuer erlebte und wenn die Dunkelheit nach einem jeden ihrer Abenteuer einbrach, zurück zu ihrer Stadt reiste, Lalls, und dort den anderen erzählte, was sie erlebt hatte.

Und manchmal, wenn es zu schlimm wurde, wenn ich es wirklich gar nicht mehr schaffte, mit dem Weinen aufzuhören, schlich sich Yvy mit mir raus und kletterte gemeinsam mit mir auf das flache Dach einer der Schuppen, etwas abseits vom Dorf.

Normalerweise mochte ich die Dunkelheit nicht, aber mir ihr an meiner Seite fühlte ich mich immer sicher.

Und dann erklärte sie mir die Sterne und den Mond, ihre Bedeutung, während mein Kopf auf ihrem Schoß ruhte und ich meinen Körper umklammerte.

Sie erzählte mir von ertsaunlichen Dingen, dass manche der Sterne Beispielsweise gar nicht mehr wirklich existierten, schon längst erloschen waren und lange, lange Zeit zuvor existiert hatten, zum Beispiel zur Zeit der Dinosaurier.

Und so zeigte sie mir, dass es mehr, als das Hier und Jetzt gab, etwas, was viel größer war, als wir selbst.

Und da waren immer diese ganz bestimmten Sätze, die sie jedes einzelne Mal sagte. Irgendwie waren sie es, die mich am meisten beruhigte.

»Und da ist der Mond, siehst du Ary? Die Heimat der Mondgöttin. Und weißt du was? Sie schaut auf uns hinab, genau jetzt! Deshalb musst du nicht traurig sein, verstehst du? Deshalb musst du keine Angst haben. Die Mondgöttin ist da und wird dich beschützen.«

Als ich ihr die Vermutung mit dem Engel einmal mitgeteilt hatte, hatte sie bloß gelacht, den Kopf geschüttelt, danach allerdings noch breiter Gestrahlt.

Es war eines dieser Strahlen, das einen vollkommen einnehmen konnte und sofort dazu veranlasste, selber zu lächeln.

Ein Strahlen wie das, was sie mir in eben jenem Moment zuwarf, woraufhin meine Mundwinkel automatisch ebenfalls aufgeregt hochzuckten.

»Rey braucht natürlich noch ihre Piratenkrone«, stellte Ylva schließlich irgendwann überzeugt fest und setzte mir im nächsten Moment einen geflochtenen Blumenkranz auf, den sie wohl gerade gemacht haben musste.

Er duftete nach Fichten.

Ich musste lachen und strich behutsam mit meinen Fingerkuppen über die hübschen Blumen, die sich nun unter meine wirren Locken mischten.

»Wo ist Ceza?«, grinste ich, woraufhin Fen verwirrt zwischen Yve und mir hin und her sah.

Er wusste nichts von den Geschichten. Aber das musste er auch nicht.

»Bestimmt bei Mama und Papa«, überlegte Ylva nachdenklich.

»Vielleicht passt er auf Lupi und Phel auf. Vielleicht solltest du Mal nachgucken gehen.«

Hastig nickte ich und wirbelte aufgeregt herum.

»Ja! Bestimmt!«, rief ich aus und lief dann ohne zu zögern los, wobei ich noch hören konnte, wie Fen leise lachte.

Fröhlich grinsend brach ich durch die Tannen in den dichteren Wald hinein, wobei es wohl ein enormer Vorteil war, dass sich meine Füße lange schon an steinigen Boden gewöhnt hatten, so oft wie ich schon ohne Schuhe herum gerannt war.

Ich hüpfte über einen kleinen Ast und streckte dann lachend meine Arme aus, als wollte ich gleich abheben.

Fliegen! Das musste toll sein!

Ich schloss meine Augen und ließ einzig und allein meine anderen Sinne mich leiten, die seit dem Vorfall von damals so viel ausgeprägter schienen.

Und im nächsten Moment flog ich.

Ich flog durch die Lüfte, segelte auf Cezas Rücken über das endlose Meer und ließ die salzige Luft mein Haar zurück wehen und meine Kleidung klamm machen.

Ich lachte fröhlich auf, während Ceza einen glücklichen Ruf hören ließ. Bald würden wir wieder nach Lalls kommen, ein weiteres Abenteuer hinter uns gebracht, und ich spürte geradezu die schwere meiner Taschen, die gefüllt waren mit den schönsten Diamanten und Kristallen, die ich meinen Freunden mitgebracht hatte.

Erst, als sich ein leises Rauschen in meine Ohren schlich, öffnete ich meine Augen wieder blinzelnd.

Der Wasserfall war es, den ich als erstes sah und als ich meinen Kopf hob, konnte ich den ersten Vorboten der Rocks erkennen.

Die Felswand, an der sich der Wasserfall hinab schlängelte kannte ich mittlerweile so gut wie den Wald selbst und als ich einen Vogel dazu veranlasste, vor meinen donnernden Schritten laut kreischend zu fliehen, konnte ich die Bäume quasi mitzählen, bis ich durch das Dickicht des Waldes brach und auf die große Wiese stolperte, die vor dem kleinem See lag, in dem der Wasserfall mündete.

Meine Augen überflogen das Bild, das sich vor mir aufbot, dann entdeckte ich meine Eltern, wie sie auf einer bunten Picknickdecke saßen und während Ten lachend und mit strahlenden Augen zu seinen zwei Neugeborenen sprach, packte Lumina summend all die Leckereien aus, die Fen, Ylva und ich ihr geholfen hatten zu machen.

»Mama!«, rief ich fröhlich und sprang aufgeregt auf meine Eltern zu.

»Ist Ceza hier?«, fragte ich aufgeregt, die Blicke meiner Eltern hoben sich, Ten entdeckte mich als erstes.

Lumina nickte lachend mit dem Kopf.

»Bestimmt! Lupa meinte, sie hätte ihn hinter dem Wasserfall verschwinden sehen.«

Ich musste kichern und ließ mich in einem Zug auf die Picknickdecke fallen.

Meine Mutter wusste von den Geschichten, die Yvy mir erzählte.

»Ich werde ihn gleich vielleicht suchen gehen«, überlegte ich und nahm mir das Stück Melone, das meine Mutter mir hin hielt.

»Fen und Ylva helfe dir bestimmt gerne«, steuerte meine Mutter mir bei und lächelte liebevoll auf mich hinab, während ich mich Melone essend nach hinten fallen ließ, um in den Wolkenlosen Himmel hinauf zu schaute.

Ich hörte die langsameren Schritte meiner großen Geschwister und runzelte die Stirn.

»Wenn ich sechzehn Jahre alt bin, muss ich dann auch immer so schrecklich langsam laufen? Oder darf ich auch rennen?«, überlegte ich.

Mir war aufgefallen, dass die Leute immer langsamer gingen, je älter, je erwachsener sie wurden. Als hätten sie vergessen, wie viel Spaß es machte, mit einem Hippogreif durch den Wald zu rauschen.

Lumina lachte auf und strich mir liebevoll ein paar Strähnen meines wirren Haares aus dem Gesicht.

»Du darfst rennen wie du willst mein Engel, egal wie alt du bist.«

Zufrieden nickte ich und aß meine Melone weiter.

»Das ist aber eine hübsche Krone Ary«, wandt sich mein Vater lächelnd zu mir, die schlummernde Lupa auf dem Arm, während Phelan in seinem Korb-Dings schlief.

»Hat Yve mir gemacht«, erzählte ich stolz, während Fen und Ylva bei uns ankamen und sich zu Lumina setzten, die sie sogleich in ein Gespräch über ein paar junge Lykanthropen verwickelte, die bald unser Rudel besuchen würde.

Mein Blick fiel auf die kleine Lupa in Papas Armen und sofort machte mein Herz einen kleinen Sprung.

»Oh, darf ich sie auch mal halten?«

Flehend sah ich meinen Vater an, der kurz einen zweifelnden Blick auf das kleine Mädchen in seinen Armen warf.

Doch da meldete sich plötzlich Luminas Stimme hinter mir zu Wort.

»Komm schon Ten, Aruna ist ein großes Mädchen, sie wird ihre Schwester schon nicht fallen lassen.«

Heftig nickte ich mit dem Kopf und schenkte meinem Vater meinen besten Dackelblick, den ich zwar noch nie wirklich drauf gehabt hatte, wenn ich etwas unbedingt wollte, jedoch trotzdem immer brachte.

Schließlich zuckten Tens Mundwinkel etwas in die Höhe und er nickte geschlagen.

»Gut. Aber sei ganz vorsichtig, ja?«

Wortlos nickte ich, während mein Vater mir zeigte, wie ich meine Hände halten musste.

Und dann, als er mir Lupa ganz behutsam reichte war es, als würde mich dieses kleine Mädchen sofort in ihren Bann ziehen, obgleich sie nun schlief oder nicht.

Ein unglaubliches Gefühl der Liebe, dass sich in mir hinauf bahnte, wie Fen es gesagt hatte.

Ich blinzelte und beugte mich dann hinab, um meiner Schwester einen federleichten Kuss auf die Stirn zu hauchen, während ich kleine Muster auf ihr Bein zeichnete.

»Hallo Lupi«, hauchte ich und konnte meinen Blick einfach nicht mehr von ihr abwenden.

Sie war so winzig. Ich lachte leise.

»Wie ein kleines Würmchen«, murmelte ich, hörte, wie Papa lachte, achtete allerdings nicht einmal wirklich auf ihn.

Lupa würde bestimmt aussehen wie Yvy, schon jetzt konnte man ganz leicht den hellen Flaum auf ihrem kleinen Köpfchen erkennen.

Außerdem hatte sie die gleiche Stupsnase.

»Aber weißt du Lupi, rote Haare sind auch cool«, erklärte ich ihr leise, woraufhin das kleine Mädchen gähnte, was mich zum lachen brachte.

Mein Kopf schoss beinahe aufgeregt in die Höhe.

»Hast du das gesehen Papa!«, fragte ich aufgeregt.

»Wie ein kleiner Welpe!«

Mein Vater nickte grinsend.

»Ja. Ist sie nicht wunderbar?«

Ich nickte langsam und sah wieder liebevoll auf meine kleine Schwester hinab.

Ja, das war sie.

»Wenn du willst, kann ich dir das laufen beibringen«, erklärte ich ihr leise und strich über den kleinen Kopf.

»Dir und Phel.«

Ich spürte, wie Lumina mich kurz ansah und konnte ihr Lächeln geradezu fühlen.

»Und wenn es schneit kann ich mit dir Schlitten fahren! Du wirst es bestimmt lieben.«

Ich lachte leise und schüttelte den Kopf.

»Nur wegen Mathe, da solltest du mich lieber nicht fragen. Aber Yvy kann das! Sie ist eine tolle große Schwester, das wirst du bald bestimmt auch merken.«

Lupa streckte sich etwas, als würde sie bald aufwachen, was mich wieder leise zum kichern brachte.

»Du kannst dich auf mich verlassen Lupi, ehrlich. Du und dein Bruder. Du brauchst keine Angst haben, ich werde euch schon zeigen, wie ihr in dieser Welt zurecht kommt! Aber Äpfel sind eklig, so viel solltest du jetzt schon wissen!«

Fen tat genüsslich einen weiteren Bissen von seinen Apfel und warf mir einen grinsenden Blick zu.

Ich verdrehte die Augen und beugte mich ganz tief zu Lupas Ohr hinab.

»Fenris ist ein Idiot Lupi, aber für dich würde er töten. Es fällt also nicht wirklich schwer, ihn zu lieben.«

Ich seufzte und hob meinen Blick, betrachtete die Felswand.

»Irgendwann bring ich dir das Klettern bei. So wie Fenris es mir beigebracht hat. Aber beim Schwimmen solltest du lieber jemand anderen fragen. Ich mag Wasser nicht so. Aber vielleicht magst du es ja auch nicht. Dann könnten wir zusammen einen Ausflug in die Rocks machen und die anderen gehen schwimmen. Und wenn Phely es auch nicht mag, dann nehmen wir ihn mit.«

Ich warf einen zweifelnden Blick zu dem See, der keine drei Meter von uns lag. Früher hatten Fenris und Ylva alles getan, um mich zum schwimmen zu ermutigen, aber ich hatte es so sehr gehasst, dass ich irgendwann vor Frustration einfach in Tränen ausgebrochen war.

Und dann plötzlich, während ich immer noch behutsam über Lupas Bein strich, stockte ich. Ich blinzelte heftig. Was war das?

Ein Licht. Ein Licht hinter dem Wasserfall.

Ich zog die Augenbrauen zusammen, es war, als würde etwas in meinem Kopf auflackern.

Eine Erinnerung. Eine Erinnerung, warum ich hier war.

Und langsam, ganz langsam, verschwanden die Gedanken einer elfjährigen, die ich damals, vor sechs Jahren gehabt hatte, als meine Geschwister gerade geboren wurden, deren sechster Geburtstag unter dem ganzen Trubel mit den Ven beinahe untergegangen war.

Langsam verschwand dieses Denken, auch wenn der Körper der gleiche blieb.

Und dann weiter, immer weiter schob sich mein siebzehnjähriges Ich in den Vordergrund, das so viel mehr wusste. Wusste, warum ich hier war.

Fürchte dich nicht vor dem Licht.

Nein.

Ich klammerte mich fester an meine kleine Schwester, während meine Familie um mich herum einfach fröhlich weiter redete.

Nein! Ich wollte nicht in die Gegenwart zurück! Ich wollte hier bleiben! Hier in dieser Erinnerung, die so voller Liebe steckte.

Heftig blinzelnd drehte ich meinen Kopf zu Ylva und Fenris die da saßen, fröhlich lachten und sich gegenseitig ärgerten.

Nein. Nein. Ich wollte nicht weg!

Nicht in die Realität.

Denn da... da waren sie tot.

Das Licht hinter dem Wasserfall schien immer aufdringlicher zu werden, ich schüttelte den Kopf, sah mich hastig um, sah jedes einzelne Mitglied meiner Familie an.

Ich wollte hier bleiben. Ich wollte wieder elf Jahre sein. Ich wollte zu dem Zeitpunkt zurück, an dem meine Familie noch vollständig war, zu dem Zeitpunkt, in dem alles voller Liebe gewesen sein zu schien, wo ich noch glücklich war.

Ich wollte nicht, dass mein Glück wieder verschwand.

Ich drückte Lupa noch fester an mich, die langsam immer wacher werden zu schien.

Nein! Nein! Ich wollte sie nicht los lassen! Bitte... Ich wollte doch nur bei ihnen sein... Ich wollte doch nur glücklich sein...

Ich wollte doch nur, dass sie alle bei mir waren.

Meine Mundwinkel schienen immer schwerer zu werden und als ich meinen Blick zittrig auf meine kleine Schwester hinab senkte, öffneten sich diese unglaublich bekannten, rehbraunen Augen, die mich müde, unwissend, vollkommen unschuldig anblinzelten.

»Hallo Lupa«, hauchte ich mit zittriger Stimme, während das kleine Mädchen zu mir hinauf blinzelte, den Mund leicht geöffnet, und absolut nichts tat.

»Oh, jetzt ist sie wach, gib sie lieber Papa Liebling, sie fängt gleich bestimmt an zu weinen.«

Ten streckte seine Arme aus, doch ich rührte mich nicht. Genau so wenig wie Lupa. Sie blieb vollkommen still, starrte mich irgendwie fasziniert an und schlug mit ihren kleinen Fäusten nach meinen Locken.

Für einen Moment schloss ich meine Augen und spürte das schmerzhafte Stechen in meiner Brust.

»Ich vermisse dich meine kleine Prinzessin...«, hauchte ich und sah dann zittrig auf.

Mein Vater blickte mich verwirrt an, während ich meine Schwester ein letztes Mal drückte und sie dann zittrig an Ten weiterreichte.

Er nahm seine Tochter zögerlich entgegen und sah mich dann stirnrunzelnd an.

»Alles in Ordnung Liebling?«

Ich schluckte schwer, dann nickte ich langsam und ließ meinen Blick zu Phelan, meinem kleinen Phelan, gleiten, der, anders als Lupa, immer noch tief und fest schlief.

»Ja...«, hauchte ich.

»Ja, natürlich Papa.«

Papa. Es fühlte sich so endlich fremd an, dieses eine Wore.

Wann hatte ich - mein siebzehnjähriges Ich - das letzte Mal Papa gesagt? Ich wusste es nicht.

Ich seufzte schwer und strich Phelan kurz über den kleinen Kopf.

»Ich wünschte nur, ihr wäret wirklich bei mir.«

Mein Vater runzelte verwirrt die Stirn und streckte seine Hand nach mir aus, um meine eigene zu umfassen.

»Geht es dir gut Ary?«, fragte er mit einem besorgten Blick und strich behutsam über meinen Handrücken.

Für einen Moment schloss ich die Augen, ein dicker Kloß bildete sich in meinem Hals, dann nickte ich langsam, ganz langsam, versuchte mit aller Kraft, die Tränen zurück zu halten.

»Ich vermisse euch«, hauchte ich und löste meine Hand dann mit schmerzender Brust von meinem Vater.

Ten sah mich verwirrt an, während ich mich langsam zu Lumina und meinen großen Geschwistern umdrehte, die mich ebenso besorgt und verwirrt musterten, wie mein Vater.

Aber ich wusste, dass das hier nicht real war, niemals real sein könnte...

Deshalb musste ich es tun...

»Ich vermisse dich Mama«, keuchte ich kurz davor, einfach in Tränen auszubrechen, während die sanften Augen meiner Mutter mich verwirrt betrachteten.

Ohne zu zögern zog sie mich zu sich heran und legte die Arme behutsam um mich.

»Aber ich bin doch hier mein Engel«, hauchte sie gegen meinen Haaransatz und drückte einen kleinen Kuss gegen meine Stirn.

Ich schluckte schwer, mein Körper fing an zu beben, während ich mich am liebsten nie wieder bewegen wollte, für immer in der liebevollen Umarmung meiner Mutter gefangen bleiben wolllte, für immer ihre Nähe spüren wollte, für immer diesen bekannten Geruch bei mir tragen wollte.

Stumm schüttelte ich den Kopf und löste mich dann langsam von meiner Mutter, während Lupa anfing, leise zu wimmern.

»Aber ich komme bald wieder, das verspreche ich... Ich brauche nur diesen Schlüssel...«

Verständnislos schüttelte Lumina mit dem Kopf.

»Aruna...?«, wollte sie ansetzen, doch ich drehte mich einfach zu Ylva und Fenris um, die mich ebenso verwirrt ansahen.

Ich schluckte schwer, blinzelte heftig und öffnete meinen Mund, bekam doch nichts raus.

In dieser Erinnerung sahen sie so jung aus - gerade einmal sechzehn Jahre - und doch waren sie so bekannt, so unendlich bekannt.

Und im echten Leben... im echten Leben waren sie...

»Es tut mir so leid«, hauchte ich und da schien irgendetwas in mir zu zerbrechen.

»Es tut mir so unendlich leid«, wimmerte ich und schlang meine Arme um meine beiden Geschwister, sodass ich meinen Kopf zwischen ihre eigenen legen konnte.

Und dann kamen die Tränen.

Augenblicklich legten sie ihre Hände auf meinen Rücken, auch wenn ich ihre Verwirrung mehr als deutlich spüren konnte.

Und mein Herz schmerzte, schmerzte so sehr.

»Aber was tut dir denn Leid? Du hast doch gar nichts gemacht«, hauchte Ylva beruhigend gegen mein Ohr, was mich erschaudern ließ.

Ich kniff meine Augen nur noch fester zusammen und krallte meine Hände in ihre T-Shirts.

Langsam schüttelte ich den Kopf, während ich all ihre Blicke auf mir spüren konnte.

»Ich liebe euch, vergesst das niemals, okay? Ich liebe euch so sehr...«

Es war als würden mich meine Geschwister nur noch fester an sich drücken und es war so vertraut, diese Umarmung, ihr Geruch, ihre Wärme, ihre Nähe.

»Yvy«, hauchte ich mit zittriger Stimme.

»Fen...«

Und dann, so sehr ich mich dagegen sträubte, so sehr ich einfach für immer in dem Sommer vor sechs Jahren gefangen sein wollte...

Wenn ich, die, die ich liebte, die, die... die lebten, jemals wieder sehen wollte, musste ich gehen. Ich musste sie verlassen, um sie wieder bei mir haben zu können.

Zittrig löste ich mich von meinen Geschwistern, Fenris griff nach meiner Hand, als wolle er mich da behalten, doch ich schüttelte den Kopf.

»Nein«, hauchte ich mit brüchiger Stimme.

»Ich muss gehen.«

Ein letztes Mal sah ich sie an, Yve und Fen, versuchte mir so gut es ging, all diese kleinen Details ins Gedächtnis zu rufen, Ylvas Muttermal überhalb der linken Augenbraue, die kleine Narbe an Fenris Kinn, die er sich geholt hatte, als er einmal mit mir gewippt hatte und hingefallen war.

»S-So sehr...«, hauchte ich erneut mit zittriger Stimme und wandt mich dann mit einem erstickten Geräusch und schmerzendem Herzen Lumina und Ten und den zwei kleinen Zwillingen zu.

Ich blinzelte heftig, während mich meine Eltern weiterhin verständnislos anblinzelten.

»Aruna, was...«, setzte Lumina an, doch ich unterbrach sie kopfschüttelnd.

»Ich komme bald wieder, versprochen«, hauchte ich, sah ein letztes Mal in Lupas kugelrunde Augen, die aus irgendeinem Grund aufgehört hatte zu wimmern und mich nun vollkommen still anblinzelte.

Ich sah Phelan an, der weiterhin lautlos schlief. Phelan... Er war schon immer solch ein liebes Kind gewesen...

Und dann wandt ich mich ab. Ich sah nicht mehr zurück.

Mein Blick war stur auf das hinab prasselnde Wasser gerichtet, dass mir einen kalten Schauer den Rücken hinab laufen ließ.

Ich wusste, würde ich jetzt zurück sehen, würde ich es nicht über mich bringen, sie zu verlassen.

Und sie rührten sich nicht. Sie sagten nichts. Als wäre es ihnen verboten worden.

Ich senkte meinen Blick, schloss die Augen, ballte die Hände zu Fäusten.

Und während die Aruna vor sechs Jahren glücklich bei ihrer Familie gesessen hatte und ihrer geliebten kleinen Schwester erklärt hatte, was sie ihr alles beibringen würde und welch tolle Sachen die kleine Lupi bald schon sehen würde, ging die Aruna, die ich jetzt war.

Entfernte sich immer weiter von ihrer Familie.

Meine Schritte schienen mich beinahe von alleine zu leiten, als wäre es notwendig gewesen, sich der Situation vollends bewusst zu werden, bevor ich an den Schlüssel herankommen würde.

Denn das war es, was ich wahrlich auf dieser ganzen Welt begehrte, dachte ich.

Ich wollte meine Familie wiedersehen.

Deshalb tat ich, was ich tat.

Früher hatte ich Angst vor dem kleinen Weg, der hinter den Wasserfall führte, gehabt, weil er immerzu steinig und glitschig gewesen war, doch nun führten mich meine Füße sicher, während ich das Gefühl hatte, meine Familie hinter mir würde einfach verblassen.

Ich öffnete meine Augen nicht. Ich öffnete sie nicht, als ich den schmalen Weg entlang ging, der mich hinter den Wasserfall führen würde, wo das Licht her kam, öffnete sie nicht, als die Gischt meine Kleidung durchnässte, mein Haar, die Tränen von meinen Wangen spülte.

Ich lief einfach. Lief weiter und weiter, die Augen fest geschlossen, weil ich sonst bestimmt keinen Schritt getan hätte, ließ meine Hand an der Felswand zu meiner linken entlang streichen, an der ich Lupa vor gehabt hatte, nach ihrem sechsten Geburtstag das klettern beizubringen.

Und dann, plötzlich, vollkommen ruckartig, wurde es totenstill.

Ich hielt einfach an, ohne den Befehl zu geben, ein Schauer überkam mich, mein Herz setzte für einen Moment aus und dann öffnete ich meine Augen.

Ich blinzelte heftig, während sich das goldene Licht gigantisch vor mir auftürmte.

Doch es war, als wäre die Lichtung einfach verschwunden, der Wasserfall, der steinige, nasse Untergrund, die klamme Felswand.

Es war, als würde ich schweben, völlige Schwärze um mich herum, einzig und allein das Licht schien neben ihr zu existieren.

Greife hinein mein Freund, fürchte dich nicht.

Zittrig sah ich auf meine Hand hinab, während ein merkwürdiges Gefühl meine Magengrube durchzuckte.

Angst. Vielleicht war es Angst.

Die Schwärze um mich herum machte mir Angst, das schwerelose Gefühl war unheimlich.

Und deshalb musste ich ins Licht.

Der Gedanke kam einfach, schoss mir durch den Kopf und kaum war er da, bewegte sich meine Hand einfach.

Viel zu schnell.

Sie durchschnitt das Licht, für den Bruchteil einer Sekunde war da dieses unerträgliche Gefühl, als würde ich in etwas weiches und doch gleichzeitig irgendwie hartes fassen, es war warm und dann spürte ich es.

Etwas Spitzes.

Ich packte zu.

Und dann wurde meine Hand nach hinten geschleudert.

Keuchend riss ich meine Augen auf, schnappte hektisch nach Luft und brauchte einen Moment um zu realisieren, was geschehen war, während sich meine Wangen merkwürdig klebrig anfühlten.

Ich erinnerte mich, umgekippt zu sein, doch jetzt stand ich.

Ich blinzelzte heftig, meine Brust hob und senkte sich hektisch und da fiel mein Blick auf Will.

Ich erstarrte.

Die Decke war von seiner Brust gezogen worden, die sich beinahe schwächer hob und senkte, als noch zuvor.

Und erst da fiel mir der dunkle Stern in meiner linken Hand auf, meinen Arm hatte ich weit von mir gestreckt.

Und sobald ich ihn erblickte kam dieses widerliche Gefühl in meiner Hand auf, ein unangenehmes Jucken. Es brannte.

Ich zischte auf und ließ den Stern in meine Hosentasche gleiten.

»Au«, fluchte ich leise und strich über die kleinen Blasen auf meiner Hand.

Es war, als würde ich immer stärker auf Obsidian reagieren.

Dann blinzelte ich.

Nein. Dort war noch etwas anderes gewesen.

In der Mitte des Sternes. Silber.

Wieso zur Hölle fertigte man als verdammter Lykanthrop einen Schlüssel aus Silber an?

Ich rieb mir meine Hand, dann fiel mein Blick wieder auf Will, ein leichter Windhauch erfasste mich, ließ mich erschaudern.

Er schlief. Unruhig, aber er schlief.

Und langsam schienen die Züge seiner Brust wieder stärker zu werden.

Beinahe erleichtert atmete ich aus. Egal wer er war, ich hatte ihn sicher nicht umbringen wollen.

Mein Blick fiel auf meine Uhr.

Eins.

Ich stockte. Aber ich musste doch mindestens eine Stunde weg gewesen sein! Allein die Aktion mit Poppy und Falkenauge musste mich beinahe eine halbe Stunde gekostet haben, ich konnte doch nicht bloß ein paar Minuten weg gewesen sein.

Ich schüttelte meinen Kopf und drehte ihn schließlich entschlossen zur Tür.

Unwichtig.

Denn diese Erinnerung hatte mir eines klar gemacht. Ich musste zurück. Ich musste nach Hause. Und deshalb musste ich gehen, mich beeilen.

Entschlossen setzte ich meine Schritte, hörte Wills gleichmäßigen Atem hinter mir und drehte dann den Knauf der Tür um.

Sie bewegte sich fast genau so lautlos, wie beim ersten Mal und plötzlich kam ein Gefühl des Triumphes in mir auf.

Ich hatte es geschafft! Ich hatte es tatsächlich geschafft! Ich hatte den Schlüssel, jetzt musste ich nur noch zu Alec und ihn befreien!

Endlich würden wir nach North Carolina fahren, es würde keinen Tag mehr dauern!

Und ich sah es nicht einmal kommen.

Meine Euphorie machte mich blind. Blind für alles. Blind für jeden. Blind für die Gestalten.

Ich setzte einen entschlossenen Schritt nach vorne, war beinahe versucht, glücklich aufzuseufzen.

Und es kam so unerwartet. So unerwartet und schmerzhaft, dass ich es nicht verhindern konnte.

Im einen Moment war ich dabei, aus der Tür zu treten und dann kam er. So plötzlich, dass ich es nicht einmal zuordnen konnte.

Es knallte.

Ein unheimlicher Schmerz an meinem Hinterkopf, der alles übertraf, was ich heute gefühlt hatte.

Und dann kippte ich einfach um.

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