29

Nach dem Abendessen löste Zach sein Versprechen ein und besichtigte mit Beth die große Glocke. Ich hatte bisher auch nur Bilder gesehen und nur welche, die bei Tag aufgenommen wurden. Live, bei Nacht und leichtem Schneefall war Big Ben noch viel atemberaubender. Ich konnte gar nicht recht glauben, wirklich davor zu stehen. Außerdem verhielt sich Beth zum ersten Mal wirklich unkompliziert, und es war uns allen dreien möglich, über sie miteinander zu kommunizieren. Danach sahen wir uns noch die Tower Bridge an, aber als sich der Schnee langsam zu Regen verwandelte, machten wir uns wieder auf den Weg ins Hotel.

Der nächste Tag verlief nicht viel anders, als der erste, mit dem einzigen Unterschied, dass nun alle Fragen, die Beth gestellt worden waren, mir gestellt wurden. Am Ende wurde auch ich gefragt, ob ich einverstanden mit den Tests wäre und ich nickte. Als sich die Gruppe der Ärzte langsam auflöste, ging ich zu dem Physik-Professor Typen.

„Ähm... entschuldigen Sie..."

„Dr. Cromwall", lächelte er und richtete seine Brille.

„Tut mir leid, weder Beth noch ich sind besonders gut mit Namen. Besonders, wenn sich ein Duzend Leute auf einmal vorstellen."

Er nickte verstehend. „Liegt Ihnen was auf dem Herzen?"

„Ich sag doch: Weichgespülter Teddybär", murrte Beth.

„Das ist nur sein britischer Akzent", behauptete ich. „Ich habe eine Frage...", begann ich und Dr. Cromwall sah aufmerksam auf mich herab. „Können Identitäten gefährlich sein?" Er blinzelte mich irritiert an.

„Wieso denken Sie das?"

Mir entfuhr ein kleiner Lacher. „Oh, ich weiß nicht, vielleicht, weil ich mit Gegenständen um mich geworfen und meinen Kopf so oft gegen den Kühlschrank gehauen habe, dass ich im Krankenhaus gelandet bin. Also würde ich gerne wissen, ob sowas normal ist. Ob sowas öfter passiert."

„Auf diesen Vorfall werden wir durchaus noch näher eingehen, aber..." Der Arzt lehnte sie vor. „Anna, Sie wissen, dass sich Identitäten wie normale Menschen entwickeln. Manche entwickeln Depressionen und Selbstverletzungsgefahr und verletzten den Gastgeber, wenn sie ins Bewusstsein treten. Andere Persönlichkeiten sind aufgeregt und immer fröhlich. Andere haben Angststörungen oder sind schnell wütend und aggressiv. Oft muss man in einer Therapie erst herausfinden, welche Charakterzüge zu welcher Identität gehören und welche der originalen Persönlichkeit entsprechen. Das müssen wir in Ihrem Fall nicht tun. Aber für die Entwicklung der Persönlichkeiten gibt es keine Regeln. Im Normalfall sind andere Identitäten jedoch nicht gewalttätig."

„Ja, das hab ich gemerkt", murmelte ich sarkastisch und spürte, wie Zach von hinten an mich herantrat und meine Hand nahm. „Aber ich bin nicht der Normalfall, oder?" Dr. Cromwall schwieg. „Was, wenn meine Identität jemanden verletzt? Ich meine, ich bin drei Tage außerhalb der Stadt umhergewandert und kann mich an nichts erinnern. Ich hätte zu der Zeit jemanden erschießen können, ohne davon zu wissen. Bin ich nicht gefährlich?"

Er hob beruhigend eine Hand. „Dass Sie oder einer Ihrer anderen Identitäten eine Gefahr darstellt, ist äußerst unwahrscheinlich."

Ich fragte mich, ob er naiv oder ich paranoid war.

Das fragte ich auch Zach, als wir durch das riesige Hotel zu unserem Zimmer wanderten.

„Vielleicht beides", meinte er. „Aber betrachten wir es doch mal ganz logisch: Es ist dein Gehirn, das diese Persönlichkeiten erschaffen hat. Sie sind alle ein Teil von dir, also glaube ich nicht, dass eine von ihnen gefährlich ist." Er drückte auf den Knopf zum Aufzug.

Ich schüttelte den Kopf. Ivory hatte Narben an ihrem Körper, die sie sich nie zugefügt hat, sondern eine ihrer anderen Persönlichkeiten. Wenn Identitäten den eigenen Körper verletzten, warum dann nicht auch andere?

„So läuft das aber nicht. Es ist zwar mein Gehirn, aber die Persönlichkeiten haben sich trotzdem unterschiedlich weiterentwickelt. Es kann durchaus sein, dass-"

„Hör auf damit." Die Aufzugtüre öffnete sich und wir traten ein. Spiegel waren an allen Seiten angebracht und erinnerten mich daran, dass ich mir die Haare bürsten sollte. „Wenn du an DIS leidest, dann ist sicher keine deiner Persönlichkeiten gewalttätig", versicherte Zach.

„Klar, ich hab meinen Kopf ja auch nur-"

„Vier Mal gegen den Kühlschrank geschlagen." Zach verdrehte die Augen.

Ich zog die Stirn in Falten. „Hey, nerve ich dich etwa?"

Er seufzte angestrengt. „Nein, aber... denk doch mal nach. Diese Persönlichkeit hatte vielleicht zum ersten Mal Kontakt zur... wie nennst du es?"

„Äußere Welt."

„Genau. Zur äußeren Welt. Was, wenn diese Identität einfach nur verängstigt war?"

„Und durchgedreht ist? Warum hat sie nach meiner Mom gerufen?"

„Vielleicht hat diese Persönlichkeit nach ihrer eigenen Mom gerufen. Du hast doch gesagt, dass sie in ihrer inneren Welt eigene Leben -sogar eigene Jobs und Familien- haben können."

Ich setzte mich wieder in Bewegung. „Das schon, aber die innere Welt ist nicht einfach da. Glaube ich zumindest..."

Die innere Welt war so Komplex, dass sie in jedem System anders zustande kam und anders aufgebaut war. So war auch jedes System anders. Nicht einmal Ivory verstand die innere Welt so wirklich, obwohl sie sie seit Jahren regelmäßig betreten konnte. Aber noch nie hatte ich davon gehört, dass eine innere Welt einfach so da gewesen wäre. Ivory hatte sie mit der Zeit gebaut. Sie hatte sich die Welt vorgestellt, wie den Raum der Wünsche in Harry Potter. Ihre Identitäten lebten in einer Villa, und wenn sie etwas in besagter Villa haben wollten, war es aufgetaucht. Aber ich wusste auch von Systemen, in denen die Identitäten die innere Welt aktiv kreierten, also tatsächlich Häuser und Möbel und so weiter bauen konnten.

So oder so hatte jeder innere Welt einen Ort oder einen Gegenstand, der für alle im System von großer Bedeutung war, oder wozu alle einen emotionalen Bezug hatten. Für Ivory und ihr System war das ein Karussell gewesen, sie hatte mir aber nie erzählt, warum.

„Ich glaube Beth oder ich müssten an der Erschaffung dieser Inneren Welt beteiligt sein." Der Aufzug hielt und wir gingen unseren Flur entlang. „Aber Beth ist doch ohnehin immer da, also wozu eine innere Welt erschaffen?" Vielleicht hatte ich doch keine DIS. Verdammt, bei dem Gedanken hätte ich am liebsten gegen die Wand geschlagen.

„Aber das heißt doch nicht, dass diese Persönlichkeit keine eigene Mutter haben kann."

„Nein, da hast du recht." Aber den Ausraster und die Kopfnüsse konnte ich trotzdem nicht nachvollziehen. „Ich würde manchmal gerne in einer inneren Welt leben", sagte ich schließlich. „Du bist in einem Haus oder einer Villa mit deinen anderen Identitäten. Wie eine Familie. Sie alle habe ihr eigenes Aussehen. Ihre eigene Geschichte. Eine kleine Wohngemeinschaft."

„Glaubst du, fühlt sie sich real an?", fragte Zach. „Die innere Welt." Ich zuckte mit den Schultern.

„Für manche tut sie das. Stell dir vor, das hier" Ich deutete um mich. „Wäre alles meine innere Welt und ich lebe seit Jahren in ihr, ohne es zu raffen."

Zach sah mich verstört an. „Hör auf, der Gedanke macht mir Angst. Ich will nämlich keine deiner Identitäten sein."

Ich lachte. „Ich meine es ernst. Vielleicht sitzen wir alle wegen einer DIS in der Irrenanstalt und haben keine Lust auf den Alltag, deshalb leben wir in unserer inneren Welt."

„Okay, du brauchst Zucker", lachte Zach. „Du denkst zu viel nach."

„Ich hasse Zucker."

„Aber du magst Vanilleeis", entgegnete er. „Sie haben hier bestimmt tolles Vanilleeis mit heißen Himbeeren und geraspelten Goldbarren." Geraspelte Goldbarren. Ich musste lachen.

„Überredet!" Die Vanilleeis-Liebe lag bei uns in der Familie, auch wenn ich Süßes sonst nicht unbedingt mochte.

-

„Wie ist das eigentlich mit dem Alter?", fragte Zach, als wir gemeinsam auf dem Sofa lagen und das Eis löffelten, das Zach bestellt hatte. „Wie kann es sein, dass Beth vier Jahre älter ist als du?"

Ich kratzte den Rest des Eises aus meinem Schälchen. „Naja. Das Gehirn kreiert, was es kreieren muss, um zu überleben. Ich schätze ich wollte... noch eine große Schwester. Oder eine Freundin, die mich beschützen kann. Oder... jemanden, der die Dinge einfach mit mir durchsteht. Beth hat immerhin vor nichts so richtig Angst und weiß sich zu verteidigen. Vielleicht wollte ich auch selber älter sein, und dann hat mein Gehirn eine Persönlichkeit modelliert, die meinen Anforderungen entsprochen hat. Keine Ahnung, wie das passiert ist."

„Das heißt, du könntest einen vierzigjährigen Asiaten als weitere Identität haben?", hakte Zach nach. Ich nickte. „Altern sie denn?"

„Beth altert." Ich stellte mein Schälchen auf den Boden und rutschte ein Stück weiter nach unten. „Sie hat am selben Tag Geburtstag wie ich und sie altert gleichmäßig. Aber... nicht alle Identitäten tun das. Ed, eine Persönlichkeit einer Freundin von mir, ist ein Age-Slider. Sein Alter verändert sich. Mal ist er vier Jahre alt, dann ist er fünfunddreißig, am nächsten Tag geht sein Alter in den tausender Bereich." Zach hob ungläubig die Augenbrauen. „Identitäten können stetig Älter werden, oder immer gleich alt bleiben. Ist unterschiedlich."

Auch Zach stellte nun das leere Schälchen auf den Boden.

„Wie vergeht die Zeit in der inneren Welt?" Seit wir hier in London waren, hatte Zach wirklich einen anstrengenden, neugierigen Trieb für DIS entwickelt. Dabei wussten wir noch nicht einmal mit hundert prozentiger Sicherheit, dass ich an dieser Störung litt. Eigentlich störten mich seine Fragen nicht, aber auf manche hatte ich keine Antworten oder nur gefährliches Halbwissen zu bieten.

„Zach, wenn ich die innere Welt betreten könnte, oder überhaupt eine hätte, wäre es viel leichter, diese Fragen zu beantworten", lächelte ich. „Jedes System ist anderes, aber in denen, die mir bekannt sind, vergeht die Zeit in der inneren Welt genauso, wie in der äußeren. Wenn in der äußeren Welt Nacht ist, ist in der inneren auch Nacht."

„Beth, buddel mal ein bisschen tiefer", meinte er scherzhalber, und legte seine Hände auf meine Schienbeine. „Ehrlich, die innere Welt finde ich total spannend. Aber vergrab dich bloß nicht in ihr, wenn du sie gefunden hast." Er zeigte warnend auf mich. „Ich will nicht auf ewig mit einer anderen Identität feststecken."

Ich musste lachen und setzte mich auf, um mich auf der anderen Seite zu Zach kuscheln zu können. „Keine Sorge. Das mach ich schon nicht."

-

Schlaf ist eine seltsam faszinierende Sache, nicht? Als Kind habe ich eine Zeit lang Angst gehabt einzuschlafen. Anfangs, weil ich es gehasst habe, dass Beth aufwachen könnte. Ein bisschen später, weil ich gefürchtet habe, nicht zu merken, wenn mein Vater mein Zimmer betreten würde.

Aber es hat auch eine Zeit gegeben, in der ich einfach vor dem Einschlafen selbst Angst gehabt habe. Davor, dass man beim Einschlafen gar nicht so recht bemerkt, was passiert. Davor, in eine seltsame Traumwelt zu versinken. Allein die Vorstellung vom Einschlafen hat mir eine solche Panik gemacht, dass ich manchmal Nächte lang wachgeblieben bin. Irgendwann hat sich diese Phase wieder gelegt, und ich hab das Schlafen zu lieben gelernt. Besonders in meinen Teenager-Jahren, in denen ich nach der Schule an nichts Anderes habe denken können, als ein schönes Nickerchen.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass manche Nächte seltsame Geschehnisse mit sich bringen, die mir noch heute eine Scheißangst einjagen.

Schlafwandeln.

Ich glaube nicht, dass ich selbst je davon betroffen war. Ich glaube, dass Jamie derjenige ist, der darunter leidet.

-

„Anna?"

Müde blinzelte ich und sah mich um. Es war stockfinster. Ich war eben erst aufgewacht. Aber ich spürte ein unangenehmes Pochen an meinen Schläfen.

„Was ist?"

„Warum schläfst du nicht?", fragte Zach und setzte sich verwirrt auf.

„Was?"

Er schaltete das Licht über seiner Bettseite an. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich neben seinem Bett stand und auf ihn herunter sah. „Ich... Ich weiß nicht", stammelte ich verwirrt. Wie lange ich wohl schon da gestanden hatte? „Ich glaub, ich hatte schon wieder einen Identitätswechsel... Oder ich schlafwandle jetzt schon."

Zach zog mich auf seinen Schoß. „Hat Beth schon mal versucht, sich als dich auszugeben?", lächelte er plötzlich und küsste mich sanft.

Ich musste schmunzeln. „Das hat sie fast ihr Leben lang machen müssen, schon vergessen?"

„Nein, ich meine, wenn ich mit dir zusammen war, aber sie aufgewacht ist."

Ich schüttelte den Kopf. „Nicht seit du weißt, dass es sie gibt. Davor hat sie es ein paar Mal müssen, wenn ich bei dir übernachtet habe und sie aufgewacht ist. Ist aber nicht allzu oft passiert."

„Ich weiß, du hast fast nie bei mir geschlafen. Jetzt weiß ich wenigstens, dass es nicht an mir gelegen hat", lächelte er und nahm meine Hände in seine.

„Naja, also manchmal schnarchst du schon", behauptete ich, obwohl es nicht stimmte. Er lachte und lehnte seine Stirn gegen meine. Dann zog er plötzlich verwirrt die Augenbrauen zusammen. „Was hast du da?"

„Wo?"

„Da." Er zeigte auf meine linke Hand. Von meinem kleinen Finger ausgehend zog sich eine dunkelblaue Spur bis zu meinem Handgelenk.

„Was ist das?", fragte nun auch Beth.

„Sieht wie Tinte aus. Von einem Kugelschreiber oder so", meinte ich und zuckte mit den Schultern.

Zach stieß amüsiert den Atem aus. „Linkshänder Problem. Kenn ich." Er rollte mich herum, sodass ich wieder auf meiner Seite des Bettes lag, beugte sich über mich und küsste mich. Aber dann fiel mir ein entscheidender Punkt ein, der mich Zach schlagartig von mir drücken ließ.

„Was ist?", fragte er überrascht.

Ich sah ihn erschrocken an. „Ich bin keine Linkshänderin. Und Beth ist es auch nicht."

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