Kapitel 37 - Lia (ü)
Plötzlich schrecke ich hoch und schaue geradeaus durch das Fenster.
Schwer atmend schaue ich mich vorsichtig in meinem Zimmer um, und erst als ich mir sicher bin, dass niemand hier ist, lege ich mich vorsichtig wieder zurück – und schrecke gleich ein zweites Mal hoch.
Ich habe ein Shirt in meinen Händen, und es ist nicht meins. Jetzt erkenne ich auch, dass ich noch meine Kleidung von dem Essen mit Elijah trage, und langsam dämmert mir wieder, was gestern war.
Ich hatte mich auf dem Weg nach Hause verlaufen und bin dann voll in Jay gerannt, der mich schlussendlich dazu gebracht hat, mit ihm zusammen nach Hause zu gehen.
Im Bus bin ich dann wohl weggeknickt, denn ich kann mich nicht daran erinnern, jemals ausgestiegen zu sein.
Wahrscheinlich hat Jay mich getragen – doch das erklärt noch lange nicht, weshalb sein Shirt hier ist, auch wenn der Geruch mich sofort beruhigt.
Was soll das?
Da es draußen gerade dämmert gehe ich davon aus, dass es ungefähr sechs Uhr morgens ist.
Müde sinke ich in mein Kissen zurück und schließe die Augen, während ich Jays Geruch einatme und versuche, nicht an den Albtraum von eben zu denken.
Obwohl das Geschehen zwischen Jason und mir schon einige Wochen zurückliegt, träume ich immer noch davon und schrecke regelmäßig auf.
—
„Lia, bitte wach auf."
Ich werde wachgerüttelt durch zwei starke Hände und schrecke nach Luft schnappend auf, dann erkenne ich eine – nein, gleich drei männliche Personen in meinem Zimmer.
Jay kniet über mir und hält mich immer noch an den Schultern fest, während Nico lässig am Kleiderschrank lehnt, mich jedoch besorgt anschaut.
Und Lars hockt vor meinem Fenster mit dem Kopf in seinen Händen. Er sieht aus wie ein Zehnjähriger der gerade heftig von seiner Mutter ausgeschimpft wurde.
„Was macht ihr alle hier?"
Lars schaut sofort auf und blickt mich traurig an. Er sieht aus als würde er gleich weinen, was mich noch mehr verwundert als die Tatsache, dass er und Jay mitsamt dessen Bruder alle in meinem Zimmer versammelt sind.
„Du hast nach Jay gerufen wie eine Verrückte, Lia. Ich musste ihn holen, und Nico war auch da."
Lars steht auf und setzt sich an die Bettkante, während Jay immer noch über mir kniet.
Nico quittiert das mit einem Grinsen, wofür er von mir einen bösen Blick bekommt. Er hebt die Hände und kommt ebenfalls auf mich zu. Jetzt steht er neben Lars, und langsam aber sicher fühle ich mich etwas bedrängt.
„Jungs – ich hätte gerne etwas mehr Freiraum, wenn das okay ist?" Ich ringe mir ein Lächeln ab, während ich langsam merke, wie stark ich wohl um mich getreten haben muss – meine
Decke ist komplett zu einem Knäuel in die Ecke gedrückt, mein Kopfkissen ist auch nicht unter meinem Kopf – nur Jays Shirt halte ich immer noch in der Hand.
„Was macht dein Shirt hier?" frage ich Jay sofort, ohne daran zu denken wie nah wir uns gerade sind.
Nico pfeift durch die Zähne und zerrt Lars mit sich aus dem Zimmer, was Jay nur die Augen verdrehen lässt.
Sobald die Türe zu ist schaut er mich wieder an. „Du bist gestern im Bus eingeschlafen, ich habe dich nach Hause getragen und dann wolltest du mein Shirt nicht loslassen. Also habe ich es ausgezogen und hiergelassen."
Ich nicke stumm. Er hat mich also nach Hause getragen. Und mir sein Shirt hiergelassen. So viel zum Thema keinen Kontakt.
„Okay... und was machst du hier?" frage ich nochmal, und Jay zieht belustigt eine Augenbraue hoch.
„Ach, du hast nach mir geschrien. Lars hat mich geholt, da er dich nicht wachbekommen hat, und da habe ich natürlich nicht gezögert. Nico war bei mir und ist mir nur gefolgt, er hat nichts dazu beigetragen, abgesehen von ein paar Pfiffen, als ich... naja, über dir hing um dich wachzubekommen. So wie jetzt eben."
Warte, wie spät ist es, wenn sogar Nico schon bei Jay ist?
„Wie spät ist es?" frage ich, und Jay schaut auf die Uhr über meinem Bett.
„Halb eins am Nachmittag."
Ich bringe meinen Mund nicht mehr zu. So spät? Wie lange habe ich bitte geschlafen?
„Komm, wir gehen heute an den Strand."
Jay hüpft von mir runter und zieht mich gleich mit, so dass ich beinahe vom Bett gerissen werde.
Strand? Wir beide?
„Die anderen kommen auch" fügt Jay noch hinzu, und ich nicke.
Warum eigentlich nicht?
—
Die Sommerferien dauern noch vier Tage, dann werde ich das erste Mal hier zur Schule gehen.
Wie wird das wohl sein? Wie werden die neuen Schüler so sein, werden sie mich sofort aufnehmen oder eher nicht?
Ich strecke den Kopf etwas aus der Fensterscheibe und entdecke ein Motorrad hinter uns.
„Seth und Elijah kommen auch" sagt Jay sofort, während er sich auf den recht dichten Verkehr konzentriert.
Elijah hat sich sofort eine neue Maschine geholt als feststand, dass seine alte Maschine nur noch für den Schrotthaufen geeignet ist.
Ich versuche mir schon die ganze Fahrt einzureden, dass es eine gute Idee ist mal wieder mit meinen Freunden etwas zu machen, doch je länger ich neben Jay sitze, umso weniger Mut besitze ich.
Ich kann ihn so nicht vergessen oder mit ihm abschließen, ich kann ihn nicht jeden Tag sehen. Das geht einfach nicht.
Ich wage einen kurzen Seitenblick und mustere seine pechschwarzen, verwuschelten Haare, während seine stechend blaue Augen auf die Straße gerichtet sind.
Sein Kieferknochen sticht immer noch unglaublich hervor, was seinem Gesicht etwas spezielles, verdammt Heißes verleiht.
Nur die Stupsnase verleiht dem sonst so harten, kalten Gesicht etwas Weiches, doch man muss es entdecken, um es dann immer zu sehen.
Ich glaube, man muss Jay kennen um dieses weiche in seinem Gesicht und seinem Blick zu sehen.
Mit gemischten Gefühlen schaue ich wieder aus dem Fenster und zähle die Autos, die wir überholen, um nicht die ganze Zeit daran denken zu müssen, wie leidenschaftlich Jay und ich uns geküsst und geliebt haben.
Ich sehne mich danach, ich sehne mich nach seiner Liebe und seiner Zuneigung.
Ich werde es nie vergessen. Ich werde nie vergessen, wie er mich angelächelt hat als wäre ich seine Welt, er hat mich behandelt wie eine Prinzessin und sich für mich eingesetzt, sich für mich gewehrt, wenn mir jemand etwas tun wollte.
Und schon nur seine Anwesenheit hat mich so unglaublich beruhigt, es ging mir gut. Das heißt, wenn er nicht wieder etwas getan oder gesagt hat, was meine Welt komplett verändert hat.
Und trotzdem liebe ich ihn, doch es ist besser so.
„Lia, steigst du auch noch aus?"
Jays Stimme reißt mich aus meinen Gedanken, und hastig öffne ich die Türe. Ich habe gar nicht gemerkt, dass wir angekommen sind.
„Liaa!" Elijah kommt mit seinem Helm in der Hand auf mich zu und umarmt mich stürmisch, was ich sofort lachend erwidere.
„Was macht der hier?"
Nicos Stimme zerstört alles. Elijah versteift sich sofort, und ich drehe mich um. Er starrt Elijah wütend an, und ich stelle mich vor ihn. Jetzt kommt Seth hinter Elijah hervor, und Nico schaut ihn verdutzt an.
„Seth?" fragt er, und er nickt. „Ja, Nico. Dein Mitarbeiter."
Nico schaut ihn verwirrt an, und eigentlich erwarte ich das selbe von Jay, doch der lehnt nur gespannt an seinem Opel. Hat er das etwa geplant?
„Seth, was machst du hier?"
Seth stellt sich nun neben mich, und somit vor Elijah.
„Elijah ist mein Freund, Nico. Ich weiß was zwischen euch vorgefallen ist, oder besser gesagt zwischen Sarah und so, doch Elijah hat da nichts mit zu tun. Er hat Sarah nicht ermordet."
Nico macht einen bedrohlichen Schritt auf Seth zu, den er etwas überragt, doch Seth weicht keinen Millimeter zurück.
Nico ist wütend, das spüre ich sofort. Er hat seine Augen zu kleinen Schlitzen verengt, seine Lippen presst er zusammen und sein Kiefer ist angespannt. Er wird Seth gleich eine reinhauen, so viel steht fest.
Hilfesuchend schaue ich Jay an, doch der steht nur dumm da. Er sollte seinen Bruder zurückziehen!
„Es ist mir egal ob er etwas getan hat, oder ob er nur zugeschaut hat. Ich verachte jeden einzelnen Bastard dieser Bande, der zu dem Zeitpunkt im Stande gewesen wäre, etwas gegen den Mord zu unternehmen. Und noch mehr verachte ich diejenigen, die den Mord ausgeführt haben – Jason allen voran. Es erscheint mir also als eine gute Idee, wenn ihr beide eure Helmchen wieder aufsetzt und abhaut, bevor ich mich vergesse, okay?!"
Nicos Gesicht ist kaum mehr als zwei Zentimeter von Seths Gesicht entfernt, doch auch das scheint den Jungen mit den blonden Haaren und den dunkelbraunen Augen nicht zu stören.
Was hat Elijah denn mit Sarahs Mord zu tun?
Er war doch im Gefängnis!
Verwirrt schaue ich Elijah an, und er schaut schnell weg. Anscheinend verheimlicht auch er mir etwas – perfekt!
Alle verheimlichen mir hier Dinge, bin ich fünf oder so?!
„Dann gibt es keinen Grund, weshalb du Elijah verachten solltest. Er saß da nämlich in der Aufnahmezelle, er hatte keine Ahnung was passieren würde und auch wenn er es gewusst hätte – er hätte uns nicht warnen können. Er konnte gar nichts tun, okay? Er ist an dem was passiert ist nicht schuld, er wusste nicht mal etwas davon. Also lass ihn gefälligst in Ruhe und baue dich nicht so lächerlich auf!"
Nico will gerade etwas sagen, als ich mich einen Schritt von allem entferne.
Jay schaut mich geschockt an, und auch Elijah schaut nicht gerade erfreut.
„Ist das wahr?" frage ich Elijah, und er nickt.
„Du warst bei den Strassenjungs?" frage ich etwas leiser, und meine Stimme zittert gefährlich. Das kann jetzt einfach nicht sein.
Nicht Elijah, bitte, lass wenigstens ihn eine Person sein, die mir nicht etwas Entscheidendes verschweigt.
„Lia, ich... ich kann das erklären." Elijah schaut mich bittend an, doch es ist mir egal.
Ich fühle mich plötzlich unglaublich taub, und alles in mir zieht sich zusammen.
„Ich habe es für euch getan" fängt er an, doch ich unterbreche ihn. Nico weicht erschrocken zurück, als meine Hand mitten in Elijahs Gesicht landet.
„Du warst gar nicht im Gefängnis, du warst bei denen! Du hast mich angelogen, du hast alle angelogen! Wieso? Wieso?!"
Elijah schaut betreten zur Seite, und Nico greift ein, doch was er sagt schockiert mich noch viel mehr.
„E-er hat uns nicht angelogen. Er hat dich und Amelie angelogen, Lia."
Entsetzt drehe ich mich zu Nico um. „Ihr wusstet es alle?" frage ich leise, und Nico nickt.
Scheisse.
Ich trete von allen zurück als wären sie Gift für mich, während Tränen aus meinen Augen rinnen.
„Ich hasse euch" sage ich, und ich meine es so. Gerade verachte ich jeden einzelnen hier. „Ihr habt mich also alle angelogen?" frage ich, und jeder nickt. Jay auch.
Jay.
Ich dachte, er wolle sich jetzt wirklich bessern, doch das war's. Das ist der größte Verrat den ich mir momentan erdenken kann.
Jay, von dem ich es eigentlich gewöhnt bin, Nico, der immer da war, Seth, den ich sofort ins Herz geschlossen habe, und Elijah.
Ich dachte, er wäre mein bester Freund und dass ich wenigstens ihm vertrauen kann, doch auch in ihm habe ich mich getäuscht.
„Ihr habt mich alle angelogen" flüstere ich immer wieder, bis ich plötzlich Jays Hand auf meiner Schulter spüre.
„FASS MICH NICHT AN!" schreie ich und schlage seine Hand weg.
„Lasst mich alle in Ruhe! Ich will nichts mehr mit euch zu tun haben, okay?! Geht und verarscht jemanden anderen, denn mich seht ihr nie wieder."
Genau in dem Moment biegt Amelies roter Toyota auf den Parkplatz, und ehe ich überlegen kann reiße ich die Beifahrertüre auf und stürze in das Auto.
„Fahr mich bitte nach Hause" flüstere ich, ehe Amelie aussteigen kann. „Was ist passiert?" fragt sie besorgt, und es zerreißt mir das Herz noch mehr, dass ihr Freund sie genauso verarscht hat, wie alle anderen mich verarscht haben.
„Das sind keine Freunde" flüstere ich, und Amelie scheint zu bemerken, dass etwas wirklich Schlimmes vorgefallen sein muss.
Plötzlich klebt Elijah an meinem Fenster, und gerade noch rechtzeitig kann ich das Auto von innen abschließen.
„Lia... willst du nicht mit ihm reden?" fragt Amelie vorsichtig, doch ich schüttle den Kopf.
„Fahr. Bitte fahr einfach." Amelie nickt, dann parkt sie aus. Ehe sie voll aufs Gaspedal drückt, schaue ich mich nochmal nach den Jungs um.
Elijah und Jay stehen da wie ein Häufchen Elend, während Nico und Seth sich wieder streiten.
Ich werde euch nie mehr sehen.
—
Während der Fahrt habe ich mich dazu entschieden, Lars und Amelie alles zu sagen.
Nico wird die Eier dazu bestimmt nie finden, und meiner Meinung nach sollte Amelie wissen, was wirklich mit Elijah war.
Meiner Meinung nach sollten alle es wissen.
Ich stürze mit Amelie im Schlepptau in meine Wohnung und laufe direkt in Lars hinein.
„Lia – wow, was ist passiert?" Ich sage nichts – noch nichts – und umarme meinen Bruder.
„Ich weiß es auch nicht" murmelt Amelie, als Lars sie wohl fragend anschaut.
„Ich werde es euch erzählen" sage ich langsam und leise, während ich mich mit Lars ins Wohnzimmer bewege. Wir setzen uns alle aufs Sofa, und dann beginne ich.
Ich sage alles, jedes einzelne Detail.
—
Jetzt ist also alles raus :/
- xo, zebisthoughts
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