◊ 3. Kapitel ◊


Ich wusste nicht, wie lange ich dem Treiben zuschaute. Die züngelnden Flammen und die Musik waren so schön, dass ich mich nicht davon abwenden konnte. Der Maskenmann tanzte immer noch tückisch und schnell um das Feuer. Gedanken wirbelten durch meinen Kopf. Wenn ich frage, ob sie mich aufnehmen, würden sie das dann tun?, dachte ich wehmütig und sah den Menschen zu. Immerhin komme ich ja von ihnen. Sie müssen mich damals verloren haben. Ob sie mich erkennen würden? Und wären sie froh, mich wiederzuhaben? Ich musterte die Menschen einer nach dem anderen. Ob meine Eltern dabei sind?
Ich war so in Gedanken vertieft gewesen, dass ich Robby gar nicht bemerkt hatte. Erst, als ich seine feuchte Bärennase an meinem Fuß spürte und seine schwarzen Knopfaugen sah, realisierte ich, dass er mir gefolgt war.
„Was tust du hier?", entfuhr es mir. Ich sah entsetzt, wie der Schein des Feuers sich über seinen Pelz legte. Man wird ihn entdecken. Ich ließ die raue Rinde des Baums los und ließ mich auf den Boden fallen. Ich landete weich auf dem federnden Untergrund. Als ich meine Hände sah, die vor Harz ganz verklebt waren, fluchte ich innerlich. Robby kam gelassen zu mir und schnupperte an meinem Kopf, dann sah er halbwegs interessiert zum Feuer.
„Verschwinde!", knurrte ich ihn an und drückte seinen Kopf weg. Robby hatte schon immer einen Dickschädel gehabt, so wie ich, und natürlich hörte er nicht auf mich. Er schüttelte seinen Pelz und brummte – wäre die Musik nicht so laut gewesen, hätte man ihn wahrscheinlich gehört. Ich versuchte, Ruhe zu bewahren, als mein Bärenbruder mich dazu aufforderte, mit ihm zu spielen.
„Das sind Clanmenschen", versuchte ich es ihm beizubringen, „wilde Menschen...Robby? – Tu nicht so, als würdest du mich nicht verstehen, ich weiß, dass du mich hörst!" Mein Bärenbruder schüttelte den Kopf und gähnte, um mir demonstrativ seine Zähne zu zeigen.
„Wieso schläfst du nicht? Was ist mit Nanuk?", fragte ich und mir wurde heiß und kalt, als ich daran dachte, wie sauer meine Bärenmutter sein würde, wenn sie erfuhr, dass Robby mir gefolgt war.
Robby wirkte unbekümmert, er kauerte sich hin und hüpfte dann auf, als wolle er mit mir spielen. Ich ballte die Fäuste.
„Geh weg!", schnauzte ich. Ich gab ihm einen Knuff mit dem Fuß, zeigte in Richtung Nanuks Bau und fügte hinzu: „Und wehe du weckst Nanuk!" Er musste begriffen haben, dass ich es nicht witzig meinte. Vielleicht lag es daran, dass ich die für ihn ungewohnte Menschensprache benutzte, vielleicht auch einfach an meinem Ton. Als ich sah, wie er sich dann doch in Bewegung setzte, atmete ich erleichtert auf. Er trottete missmutig durch den Fichtenwald, und ich ließ die Menschen nicht aus den Augen. Ich wusste nicht, was sie tun würden, wenn sie Robby entdeckten.
Vorsichtig kletterte ich wieder auf die Fichte, lehnte meinen Rücken gegen den Stamm und begann, mir das klebrige Harz von den Händen zu reiben. Ich hasste es, wenn diese zähflüssige Masse mir die Finger verklebte.
Ich hatte gedacht, Robby würde überhaupt gehen, wieder zurück zur Höhle. Deshalb hatte ich auch nicht weiter aufgepasst, was er tat, sondern wieder dem Fest der Menschen zugeschaut. Denn erst, als ich das Scheppern der Krüge hörte, sah ich ihn wieder, mit der Schnauze halb in einem Topf, der verdächtig nach Blaubeeren roch.
„Nein, Robby, nein", kreischte ich fast und zwang mich dazu, meinen Schrei hinunterzuschlucken. „Du gehst wieder!" Robby realisierte mich nur kurz mit einem Zucken des linken Ohrs, dann steckte er die verschmierte Schnauze in den nächsten Krug. Mit den Vorderpfoten hielt er ihn fest, um auch die letzten Beeren herauszuholen. Da rutschten seine Pfoten plötzlich ab und er stolperte über die eigenen Tatzen. Der Krug wankte hin und her und ich sah wie versteinert zu, wie er umzufallen drohte. Eine Sekunde schien er still zu stehen, doch dann krachte er auf den Boden und zerbrach. Ich zuckte zusammen, als sich ein Mensch umwandte. Seine dunklen Augen musterten skeptisch die Krüge, doch er hatte die Scherben offenbar nicht gesehen. Mein Bärenbruder kauerte versteckt hinter den Krügen, doch als der Mensch sich wieder dem Fest zuwandte, begann er, abermals nach Nahrung zu suchen. Ich platzte fast vor Wut.
„ROBBY!" Ich gestikulierte wie wild und zischte seinen Namen, doch ich war für ihn offenbar gar nicht da. Träge richtete er sich auf die Hinterbeine und reckte die Tatze nach einem Netz, dass in einem Baum baumelte. Ich erkannte sofort, was da gelagert war: Fleisch.
„Bitte, Robby, hör auf!", hauchte ich. „Man wird uns finden! Hau ab! Verschwinde!"
Das Netz riss. Das Fleisch fiel vom Baum, teils auf meinen Bärenbruder, teils auf die anderen Krüge, die nun auch laut scheppernd zerbrachen. Die Musik der Clanmenschen wurde leiser und verstummte zu einem kläglichen Nachklang der Trommelschläge und der Großteil drehte sich zu Robby um. Es war kurz still. Dann wurde die Ruhe von einem Aufschrei gestört.
„Bär!", keuchte eine Frau mit schmalem Gesicht und roter Bemalung noch dazu und deutete auf ihn. Der maskierte Mann, der vor dem Feuer getanzt hatte, hielt Inne und ging ein paar zaghafte Schritte auf Robby zu.
Robby musterte die Menschen halb interessiert, halb gelangweilt. Er wollte ihnen nichts tun. Wahrscheinlich fand er sie nur lästig. Ich beobachtete angespannt ihre Reaktion. Vielleicht werden sie ihn ja nicht verletzen, wenn ich mich zu erkennen gebe, dachte ich fieberhaft. Sie würden mir doch niemals etwas tun – ich war eine von ihnen. Und Robby schien sie ja zu akzeptieren.
Jedenfalls, bis ein Pfeil direkt neben Robbys Schulter einschlug.
„Robby!", entfuhr es mir vor Schreck, doch ich wurde von Robbys entsetztem Gebrüll übertrumpft. Er legte irritiert die Ohren an, bleckte die Zähne und brüllte kehlig. Verdammt, er will euch doch nichts tun, begreift ihr das denn nicht?
Nun erwachte die Menge. Ein zweiter Pfeil zischte auf Robby zu. Ich schrie auf vor Schreck, ließ mich auf den Boden fallen und stellte mich schützend vor Robby, der mit Panik in den Augen die Menschen anknurrte. Es herrschte Stille und ich spürte die Blicke der Menschen auf mir. Der maskierte Tänzer kam etwas taumelnd auf mich zu, so, als könne er nicht begreifen, was da eben passiert war. Dann riss er sich die Maske vom Kopf. Ich sah seine Hakennase, das kantige Gesicht und die braunen Augen. In der Hand hielt er eine Fackel, die mein Gesicht beschien. Ich musste blinzeln, so hell war es.
„Entschuldige. Wir wollten euch nichts tun, wirklich", würgte ich die Worte heraus. Es war, als hätten meine Worte die Menschen wieder zum Leben gebracht. Und dann sah ich, wie der Mann, der sich so überrascht die Maske vom Kopf gerissen hatte, sich einen Bogen schnappte. Er war nicht aufgespannt, doch die Hände des Maskenmannes bewegten sich so schnell, dass ich es kaum glauben konnte. Eben noch war der Bogen ein Stock mit baumelnder Sehne gewesen, im nächsten Moment hatte der Mann die Sehne eingehakt und schnappte sich einen Pfeil. Robby spürte wohl meine Angst, denn er knurrte und stellte sich auf die Hinterbeine. Er überragte mich und brüllte und ich hätte mich am liebsten auf ihn geworfen, um ihn wieder hinter mich zu zerren. Der Maskenmann war schneller. Er zog den Bogen in einer einzigen, flüssigen Bewegung auf und zielte auf Robbys Kopf. Er will ihn umbringen!, schoss es mir panisch durch den Kopf und Robby verstand es auch. Wir reagierten beide so schnell, dass ich gar keine Zeit hatte, nachzudenken. Noch während Robby sich auf alle Viere fallen ließ, packte ich sein Nackenfell und warf mich auf seinen Rücken. Ich spürte sein warmes Fell in den Händen und seinen zitternden Körper und mich durchströmte eine Welle von Mitgefühl und dem Drang, ihn zu beschützen. Im selben Moment katapultierten Robbys angespannte Muskeln ihn nach vorne, sodass es mich fast von seinem Rücken riss. Ich hörte, wie sich der Pfeil hinter uns in die Rinde des Baumes grub. Holz knirschte und splitterte und der Maskenmann fluchte.
Niemals werde ich zulassen, dass ihr Robby wehtut, dachte ich entschlossen.
Robby jagte so schnell durch die Stämme, dass sich ihre Rinde mit dem Hintergrund vermischten und in eine braune Masse verwandelte, sie an unseren Ohren vorbeipfiff. Ich legte mich flach auf seinen Rücken, stemmte meine Knie in seine Hüften und hob meinen Bauch nach oben. Gestützt auf meine Arme bot ich ihm die Gelegenheit, noch schneller zu rennen. Sie werden uns nie einholen, versuchte ich mich zu beruhigen. Und das werde ich auch nicht zulassen.
Ich hatte offensichtlich falsch gedacht. Kaum hatten wir den Wald verlassen, hörten wir das Geräusch von Hufen, die über die Heide trampelten. Als ich mich umdrehte, blieb mir das Herz fast stehen. Was ist das?
Es waren Tiere. Zuerst dachte ich, es wären Hirschkühe, doch offensichtlich war dies nicht so. Erst aus der Nähe erkannte ich die Elche. Man hatte ihnen die Geweihe abgebrochen und sie sahen aus wie überdimensionale Kälber, auf deren Rücken die maskierten Menschen saßen und uns nachjagten. Ich war schockiert, wie einfallsreich diese Menschen waren. Bis jetzt hatte ich sie immer für dumm oder einfach nur seltsam gehalten, doch ihre Elchkühe waren derart zahm, dass sie sich immer schneller antreiben ließen. Sie zeigten keine Scheu vor Robby und mir und duldeten die Gestalten auf ihren Rücken. Allerdings war es keine Verbindung, wie sie zwischen mir und Robby vorhanden war.

„Komm schon!", trieb ich ihn an und er knurrte hilflos. Die Elche waren schnell. Ihre Hufe schienen den Boden kaum zu berühren und sie waren schnell und flink ohne ihre Geweihe. Es waren insgesamt drei. Auf dem vordersten saß der dürre Maskenmann, auf den zwei hinteren ebenfalls leichte und dürre Gestalten. Wahrscheinlich können die Elche nur leichte Menschen tragen, spekulierte ich.
„Wohin, kleiner Bruder?", fragte ich keuchend. Robby brummte nur, ich konnte in der Dunkelheit nicht erkennen, wo wir waren, weder, wo Robby mit mir hinwollte. Die dunkelgrünen Bäume waren nur Schemen. Ich glaubte, in der Nähe das Rauschen des Flusses auszumachen und ich roch, dass der Harzgeruch der Bäume nachgelassen hatte. Wir müssen schon weit außerhalb des Nadelwaldes sein!, dachte ich entsetzt und sah über die Schultern. Wie konnten diese Biester da so schnell laufen? Wahrscheinlich navigierten sie die Reiter mithilfe des Mondlichtes. Wo sollen wir bloß hin? Gibt es irgendetwas, dass die Tiere verängstigt? Wäre der Fluss eine Option? Ich wusste nicht, ob diese Viecher schwimmen konnten, ich hatte sie bisher noch nie wirklich gesehen. Aber ich vertraute Robby, dass er wusste, wohin es ging. Er sah hier sicher zehnmal besser als ich.
Wir jagten durch ein Gebüsch und plötzlich berührten Robbys Pfoten Stein. Der Mond beschein ein glitzerndes Schotterfeld, dass sich vor uns erhob. Wir müssen so lange durch den Wald gelaufen sein, dass wir ihn komplett durchquert haben! Deshalb weiß ich nicht, wo ich bin! Ich bin hier noch nie gewesen! Vor uns erhob sich ein großer Hügel, dessen Wände zerklüftet und Steil waren. Robby rannte weiter darauf zu, doch ich hatte den Verdacht, dass es dort oben keine Bäume mehr geben musste. Der Hang, der sich neben uns auftat, war komplett abgerutscht und verwüstet, die Bäume waren umgerissen und es gab keinerlei Deckung für mich und Robby. Verzweifelt sah ich mich um, doch ich wusste, dass man einen Bären schlecht hinter einem Stein verstecken konnte. Und auch die Elche der Clanmenschen wären uns hier wohl im Vorteil, denn sie waren schnell und hatten lange Beine.
Ich erblickte eine Steinformation, die aus weichem Sandstein bestand und viele Spalten und Höhlen haben musste. Eine andere Rettung gab es nicht.
Der Schotter rutschte unter seinen Pfoten weg, als er sich emporhievte, es spritzte Erde und Staub. Ich spürte, wie er rutschte und Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten, und sprang von seinem Rücken. Ich rollte mich auf dem Schotter ab, wobei ich mir die gesamte Schulter blutig schürfte. Ein Schmerz schoss durch meinen Knöchel, als ich umknickte und hart auf dem Boden aufschlug. Ich fluchte. Die wunde Haut an meiner Schulter brannte und in meinem Knöchel pochte ein tiefsitzender dumpfer Schmerz. Robby blieb stehen und half mir auf, indem er den Kopf unter meinen Körper schob. Ich hielt mich in Robbys Fell fest und begann, humpelnd zu laufen. Jetzt, da ich abgestiegen war, konnte Robby schneller rennen. Seine Pfoten traten sicher auf den Steinen auf, da er mein zusätzliches Gewicht losgeworden war. Allerdings zögerte er und bremste sein Tempo, als er merkte, dass ich mit meinem verletzten Fuß nicht nachkam. Nein, du darfst nicht stoppen! Ich sah verzweifelt nach hinten und erkannte entsetzt, dass die Menschen uns schon viel zu nah waren. Würde ich jetzt stürzen, dann würden mich die Hufe der Reittiere zerquetschen. Bitte lass uns vor ihnen bei den Höhlen sein, dachte ich so verzweifelt, dass mir ein Wimmern entfuhr.
Ich schlitterte humpelnd über das Schotterfeld. Der Steinstaub, den Robby aufwirbelte, brannte in meinen Augen. Meine Kehle fühlte sich heiß und trocken an und die kalte Nachtluft trieb mir Tränen in die Augen, die mir die Sicht vernebelten. Die Schreie hinter mir waren so nah, dass ich glaubte, dass jeden Moment eine Hand meinen Arm packen und mich grob zurückreißen würde – direkt unter die Hufe der Tiere, die mich tottrampeln würden. Und dann sah ich einen Spalt. In der Steinwand, die sich vor uns erhob, klaffte ein dunkler Riss. Ich erkannte, dass er sich verzweigte, und konnte nur hoffen, dass es gleich ein ganzes Tunnelsystem war. Der Riss war schmal und holprig, gerade breit genug für Robby. Rein da, signalisierte ich hektisch, taumelte zu Robby und zupfte an seinem Pelz. Er wechselte sofort die Richtung und rannte auf den Spalt zu. Ich humpelte hinter im her. Als ich sah, wie er seinen dunklen Pelz in die Fuge quetschte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Du bist gerettet. Wo dieser kleine Tunnel auch hingeht, sie werden dich nicht einholen. Ihre Rentiere sind zu langsam. Hinter mir trommelten die Hufe der Elche ein schnelles Stakkato auf den Steinboden und Felsensplitter klirrten, als die Menschen absprangen. Aber ich werde weg sein. Meine Finger fuhren über den glatten Fels und ich klammerte mich daran fest, als würde ich über einem unendlich tiefen Abgrund hängen. Ich sah Robbys dunkle Knopfaugen. Ich komme schon. Ich setzte einen Fuß in den Riss, sah die dunkle Sicherheit vor mir, zwängte meinen Körper in die Spalte – und wurde jäh zurück gerissen.



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