8 - "Hunger"

Fröstelnd liegt S in ihrem Bett, sie ist erst seit einigen Minuten wieder wach. Von unten ist nur das Geschrei ihrer Mutter zu hören. Sie kann nicht verstehen, was ihre Mutter sagt allerdings kann sie es sich nur allzu bildlich vorstellen. Genervt verdreht sie die Augen, als sie nach ihrem Handy greift, doch das Einzige was ihre Hände zu fassen bekommen ist die kalte Bettdecke.. Sie unterdrückt einen frustrierten Schrei, während sie sich zurücklehnt und ihre Augen schließt als die Erinnerung an den Vormittag zurückkehren. Stimmt, sie haben ihr ihr Handy weggenommen. Verzweifelt atmet sie tief durch, ehe sie ans Kopfende ihres Bettes rutscht und ihre Arme um ihre Beine schlingt. Den Kopf auf ihre Knie gelegt schaut sie aus dem Fenster. Mittlerweile friert es immer öfter, obwohl es doch erst... kurz muss S ein zucken unterdrücken als ihre Augen zu ihrem Kalender an der Wand huschen, ein Geschenk von ihrer besten Freundin, und sie erkennt, dass es schon November ist. November. Wo ist nur die Zeit geblieben? All die Monate ? Der Sommer? Der Herbst? Angestrengt schließt sie ihre Augen und versucht sich zu erinnern, doch alles scheint zu verschwimmen und irgendwann gibt sie auf. Okay, vielleicht bekommt sie eine frühe Form von Alzheimer? Spielt aber eigentlich auch keine Rolle. Viel wichtiger ist das sie trotz all der Zeit spürt wie ihre Fettröllchen gegen ihre Beine drücken. 

S lässt ihre Augen durch ihr Zimmer wandern und versucht die Erinnerungsfetzen an den vergangenen Vormittag zusammen zu bekommen. Doch gestaltet sich das als schwieriger, als geahnt. Nach kurzer Zeit gibt sie auf. Sie muss erst einmal etwas trinken. Wasser. Wasser wird ihre Hirnzellen beflügeln. Sie schlägt die Decke zurück und beinahe sofort ergreift ein unkontrolliertes Zittern von ihrem Körper Besitz, verdammt ist das kalt in ihrem Zimmer. Hastig greift sie nach ihrem Sweatshirt und streift es über ihren Kopf, wobei sie zufrieden feststellt, dass es um einiges weiter sitzt als zu Beginn des Jahres "Aber noch lange nicht weit genug! Du hast überhaupt keinen Grund zu lächeln!" Obwohl die Stimme von Ana und auch die von Mia, ihr mittlerweile vertraut sind muss sie sich trotzdem noch daran gewöhnen, dass sie nun scheinbar nicht mehr alleine in ihrem Kopf ist. S schüttelt sich kurz, gerade hat sie wirklich keine Zeit für Anas rumgezetere, sie weiß das Ana Recht hat aber sie muss sich gerade wirklich darauf konzentrieren herauszufinden, was genau heute morgen passiert ist. 

Nachdem sie im Bad war, das Wasser hat wirklich ein wenig geholfen, sitzt sie wieder auf ihrem Bett und könnte sich selbst gerade eine Ohrfeige geben. Wie konnte sie nur so einen Fehler machen? Dumm. Dumm. Dumm. Nicht nur das sie die erste Regel vorm Schulsport (#1 Zieh dich im Schulklo um, niemand muss sich deinen fetten Körper antun, gerade all deine schlanken, viel schöneren Mitschülerinnen nicht) sie war scheinbar völlig neben sich, denn sie hat beinahe jede Regel gebrochen (#4 Trinke genügend Wasser damit dein Kreislauf mitmacht und dir niemand Zucker oder gar Cola andrehen wird; #20 Sorge dafür das absolut niemand von Ana und Mia oder den anderen Mädchen erfährt, sie werden dich sowieso nicht verstehen und als verrückt abstempeln) Mit Tränen in den Augen krallt sie ihre Finger ins Laken. Scheiße. Wie konnte sie nur so einen großen Fehler machen? Nicht nur das sie beim Schulsport einen Kreislauf Kollaps hatte.. nein, sie hatte ihrer 'besten' Freundin auch mal den PIN für ihr Handy gegeben und als diese ihre Eltern anrufen wollte, wieso konnte sie nicht einfach ins Sekretariat gehen, hatte diese den Chat mit den anderen Mädchen gesehen... Natürlich konnte diese dumme Kuh nicht ihren Mund halten und hat alles brühwarm ihrer Lehrerin erzählt, aus Sorge wie sie versucht sich zu verteidigen, diese hat alles ihren Eltern erklärt. Gänsehaut und Schamgefühl erfüllen sie als sie sich daran erinnert, wie sie auf der Liege im Krankenzimmer lag und das Gespräch ihrer Eltern mit der Lehrerin belauscht hat. Die Tatsache das aus dem Mund ihrer Lehrerin Worte wie "Therapie" "Ernsthafte Probleme" "Abgrenzung" "Abgemagert" kamen, machte die Situation nicht besser. Mit jeder Sekunde wuchs in ihr die Wut auf Emily. Wieso konnte sie S nicht einfach in Ruhe lassen? 

Als ihre Eltern und S zu Hause ankamen, war die erste Amtshandlung ihrer Mutter ihr unter einer Tirade an Beschimpfungen das Handy abzunehmen und sie auf ihr Zimmer zu schicken, S erinnert sich nur schemenhaft daran. Sie war völlig fertig und hatte nur noch einen Gedanken: Schlaf. Bevor sie sich unter ihrer Decke zusammen rollte, hoffte sie noch das Ganze würde sich als böser Albtraum entpuppen, doch wie sie hier so auf ihrem Bett sitzt, ohne Handy und dem Gekeife ihrer Mutter lauscht weiß sie, das das alles leider kein Traum war. Wenigstens sind Ana und Mia gerade still, auch wenn sie sich mittlerweile beinahe alleine ohne die beiden gesichtslosen Stimmen in ihrem Kopf fühlt, ist sie immer wieder erleichtert, wenn sie merkt das sie manchmal ihr Hirn auch für sich hat. Das sie noch nicht ganz irre ist, denn auch wenn die anderen Mädchen auch von Ana und Mia berichten. Gibt es Momente in denen fühlt sie sich doch ein wenig bereit für die Therapie, wenn sie den beiden Stimmen in ihrem Kopf lauscht und dem einzigen Thema was es in solchen Momenten zu geben scheint. Essen. Auch wenn sie das vor Ana und Mia und niemals vor einem anderen Menschen zu geben würde, sie hat Hunger, so großen Hunger und gleichzeitig Angst. So sehr Angst davor zuzunehmen. Also isst sie nicht. Immerhin hat sie auch Essen verdient. Sie schafft es nicht einmal sich an die paar Regeln zu halten und setzt so mit alles aufs Spiel. 

Wahrscheinlich sitzt S erst seit einigen Minuten auf ihrem Bett, aber es kommt ihr vor, als würde sie einer Jahrhunderte andauernden Trance erwachen, als ihre Mutter und ihr Vater, immer noch sichtlich erregt von den Geschehnissen des heutiges Tages aber deutlich gefasster, zumindest ihr Vater, ihre Mutter sieht aus, als wüsste sie nicht ob sie heulen oder lachen sollte, in der Tür erscheinen und sie ansprechen. S schaut ihre Eltern zwar an doch sie will und kann ihnen kaum folgen, alles was sie hört ist scheint wie durch Wasser zu ihr durchzudringen. Aber sie nickt, denn jedes Mal wenn sie ihren Eltern zunickt lächelt ihr Vater, er lächelt sie an, als wäre sie wieder sein kleines Mädchen und ihre Mutter streicht ihr über den Scheitel, als wäre sie wieder fünf und alles wieder gut. Zwar versteht sie nicht ganz was ihre Eltern ihr sagen, doch damit kann sie sich doch auch später auseinander setzen, sie will nur noch das vorbei ist und weiter schlafen. Sie will nur noch schlafen. 

Irgendwann steht ihr Vater auf und küsst sie auf die Stirn, während ihre Mutter sie sanft ins Bett legt und zudeckt. Erleichtert darüber nicht mehr länger ihre Augen offen halten zu müssen und seltsam berührt von der Liebe ihrer Mutter, wahrscheinlich schrie sie sie das erste Mal seit Jahren länger als eine halbe Stunde nicht an, schließt sie die Augen und sinkt langsam in den Schlaf.    

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