✭ Schneeengel ✭
Weißes Glück liegt auf den Wiesen und lässt die Welt um sich verstummen.
Wo gerade noch die Kinder liefen, die Leute sich nun dick vermummen.
Das Herbstlaub ist verschwunden, mit ihm die bunte Farbenpracht.
Der Winter ist hereingebrochen; langsam, heimlich und ganz sacht.
Ich sehe der alten Frau entgegen, die verloren dort steht im Schnee.
Sie reibt sich verwirrt die Augen, während ich langsam zu ihr hinübergeh'.
Sie schaut erschrocken auf, ihr Blick ist ganz wach und ganz klar.
Ich glaube, sie weiß, wo sie ist - sie nickt und begrüßt mich sogar:
„Sodenn ist er nun also da... das war mein letzter Tag auf Erden...
Herrje, so früh und doch so spät... musste es denn Weihnachten werden?"
Ich lächle mild ob der Beschwerde und halte mich ans Manuskript:
„Willkommen im Nebel, wo es von nun an alles und nichts für dich gibt."
Sie blickt über die Schulter, in das Meer von Nebel und Weiß.
Es sieht aus, als würde sie frösteln; als forme sich aus ihrem Atem Eis.
Doch das ist vorbei, denn sie atmet gar nicht mehr.
Sie dreht sich zu mir, seufzt tief und sagt dann schwer:
„Lass mich noch einmal zurückblicken auf das was war,
lass mich den weihnachtlichen Zauber fühlen, ganz ohne Todesgefahr,
lass mein Herz leicht sein, nicht so krank und kaputt,
ich bitte dich, Schneeengel, lass mich noch einmal zurück."
Ich nicke stumm, fasse sie an der Hand und wir schreiten los,
sie bestimmt das Tempo, ich begleite sie bloß.
Wir wandern zurück, einhundert Jahre bestimmt,
wir stoppen bei der kindlichen Stimme, die von Weihnachten singt.
Sie lächelt glückselig, sieht mich erwartungsvoll an,
dann löst sie sich aus meinem Griff und schreitet voran.
Die Familiengeschichte zieht wie ein Film an uns vorbei,
sie beginnt zu erzählen, ein winterliches Schauspiel entsteht dabei:
„Zunächst wurde es nur kälter und ein wenig dunkler in den Abendstunden,
die Kerzen gingen früher an, die Sonnenblumen waren bald verschwunden.
Abends saßen wir nun am Kamin statt hinter'm Haus im Garten
und tranken warmen Wein, schlürften Kartoffelsuppe und spielten Karten.
Der Duft erfüllte Haus und Hof, zog durch die Straße bis ans Feld.
Verlockend, würzig, heimisch warm - einmalig auf der ganzen Welt.
Bald darauf gesellte sich hinzu: der Duft nach frischem Gebäck,
nach Keksen, Kerzen, Zimt, Vanille und frischem Tannengesteck.
Weihnachten, der Advent - das war mir die liebste Zeit im Jahr.
Nüsse, Mandarinen, Lebkuchen... hach, es war so wunderbar.
Sobald es schneite, war die Welt immer so friedlich und so sanft.
Alle Sorgen waren vergessen, hinfort war jegliche Angst."
Sie lächelte still, ihr Blick ruhte auf der Szenerie vor uns beiden.
Dass ihr Tränen in die Augen traten konnte sie nicht vermeiden.
Ein kleines Mädchen, die Locken goldgelb im Glanz des Lichts,
spielte vor uns mit einem Nussknacker und bemerkte nichts.
Ihre Mutter erschien, hob sie auf den Arm und verließ den Raum,
wir folgten ihnen und gelangten zum hübsch geschmückten Tannenbaum.
Echte Kerzen brannten an den Zweigen, geschmückt mit Kugeln und Zier.
„Schneeengel,", sprach sie leise. „Bitte lass mich einfach hier."
„Ich will hier nicht weg.", sprach sie weiter und machte eine ausladende Geste.
„Ich liebe Weihachten, es ist das wohligste und kuschligste aller Feste!
Ich will nicht in den Nebel, ich will bleiben und mich umgeben mit Geschichten
von Weihnachten, von Liebe, von Elfen, von Wichteln und Gedichten!
Ich will die Erinnerungen, ganz egal ob meine oder fremde.
Ich will Weihnachten jeden Tag in jeder Form - ohne Ende.
Lass mich bleiben bei Frieden, Glück und Geborgenheit,
lass mich hier, in dieser besinnlichen und gütlichen Zeit.
Ich will den tanzenden Schnee in den Fluss sinken sehen,
will dabei glücklich an der Promenade am Ufer stehen,
will denken an den Kuss meiner liebsten in einer weißen Dezembernacht,
will noch einmal stehen unter der Weide in glitzernder Pracht."
Die alte Frau stand da und hatte begonnen zu weinen.
Ich konnte ihr das alles nicht geben, ich musste verneinen.
„Schneeengel bitte, lass mich hier, geh einfach zur nächsten Seele,
während ich mich ob des Vermissens hier wohl ewig weiterquäle."
Ich verstand ihren Schmerz, ihre Sehnsucht und ihr Verlangen,
war ich selbst doch schon ewig im Nebel gefangen.
Doch ihren Wunsch zu gewähren, wäre nicht rechtens...
und würde nicht gehen, das wusste ich bestens.
Ich überlegte stumm, sah auf die alte Frau vor mir nur.
Dann fasste ich einen Entschluss und brach meinen Schwur:
„Du darfst nicht bleiben, Liebes. Doch du sollst Weihnachten genießen.
Aber nicht allein - du darfst es dem Rest der Welt nicht verschließen."
Und so beschloss ich, euch hier von ihr zu berichten.
Und ich versprach ihr mehr als nur ein paar Geschichten.
Ich versprach ihr Reisen in Neue Welten und Universen,
kreiert von wundervollen Schreibern in Zeilen und Versen.
Ich kramte in Taschen, nicht echten - den imaginären
Fand, was ich suchte und wollte es kaum entbehren.
Doch die alte Frau braucht euch nun dringender als ich,
verzehrt sich sonst, verliert sich sicherlich.
Behutsam nahm ich Gefundenes und reichte ihr das Papier hinüber.
Sie sah hinab und reichte mir ihre Hand dann wieder.
Mit einem Blick auf das orangene Leuchten an ihrer Brust
lächelte ich sie an und machte ihr bewusst:
„Du wirst Weihnachten haben, an jedem Tag, den du willst.
Und wenn du damit deine Sehnsucht und dein Leiden stillst;
wenn du beginnst zu träumen ob des geschriebenen Wort,
wenn es dich mitnimmt zu einem träumerischen Ort,
dann vergiss nicht, einen Stern dazulassen -
für all diejenigen, die so fleißig verfassen,
die schreiben, kreieren, erschaffen und schöpfen,
die Weihnachten tragen in Herzen und Köpfen."
Sie nickte dankbar, hielt es fest in der Hand.
Wir reisten zurück und bevor ich verschwand
rief sie noch: „Wie nenne ich es? Dieses Schriftstück im Dezember??"
„Das, meine Liebe, ist der Wattpad Adventskalender."
© NaimaNellit
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