❄︎ 𝟷𝟽 ❄︎
𝟷𝟽. 𝙳𝚎𝚣𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛
❄︎ 𐬺𐬿𐬺𐬿𐬺 ❄︎ 𐬺𐬿𐬺𐬿𐬺 ❄︎ 𐬺𐬿𐬺𐬿𐬺 ❄︎ 𐬺𐬿𐬺𐬿𐬺 ❄︎
Noëls wachsame braune Augen tasteten sich über die Tür mit der Nummer 17, obwohl in seinen Ohren noch das Wimmern aus Nummer 16 nachhallte.
Eine Besonderheit machte ihn sofort neugierig. Genau mittig unterhalb des Türspions war ein stattlicher Türklopfer aus Messing befestigt, der seinen Blick einfing. Der bullige Kopf eines Drachen, hinten breit und nach vorne zur Schnauze hin spitz zulaufend mit einem Ring im Maul. Neugierig kam Noël ein Stückchen näher an das ungewöhnliche Ding heran.
Auf einmal begannen die Augen des Drachen rot zu leuchten wie zwei entflammte Rubine. Erschrocken sprang Noël einen Schritt zurück. Zu seinem Entsetzen stellte er fest, dass unter der Tür nun auch noch nebliger Dunst hervorquoll. Vollkommen geruchlos und leise verteilte er sich wie ein Teppich auf der gesamten Etage und waberte um Noëls Füße herum. Bald war der Boden des Treppenhauses kaum mehr zu sehen.
Leise, wie aus weiter Ferne, konnte Noël das zarte Klimpern eines Windspiels vernehmen. Diese mysteriösen Klänge in Kombination mit dem unheimlichen Dunst jagte ihm eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Die Frage danach, ob er dieses unheimlichen Effekt verursacht hatte, schoss ihm unmittelbar durch den Kopf und seine Hände begannen leicht zu zittern.
Da war er wieder einmal zu voreilig gewesen. Wie war das nochmal mit den neugierigen Katzen...? Die Augen des Drachen hatten genau in dem Moment angefangen zu leuchten, als er sich diesem genähert hatte. Und sofort danach hatte sich der Nebel hier überall verteilt. Also, was war hier los? Hatte er die Augen mit der Kraft seiner Gedanken zum Leuchten gebracht? Das ging in den Büchern, die er gerne las, aber in Wirklichkeit?
Wenn Noël gewusst hätte, dass der Drache der eigens zu diesem Zweck verzauberte Bewegungsmelder von Ivo war, dann hätte er sich vorgesehen. Dann hätte er sicherlich nicht so leichtfertig seine Gedankenströme auf die metallene Figur konzentriert. Ivo stand auf der anderen Seite der Wohnungstür, wenige Zentimeter von Noël entfernt und schaute ihn aus seinen messerscharfen, kobaltblauen Augen genau an. Direkt durch die Tür. Als der junge Mann sich dem Drachenkopf auf eine Handbreit genähert hatte, hatte das Windspiel, das in der Wohnung direkt neben der Tür hing, angefangen zu klingeln. Wer brauchte schon eine irdische Türklingel, wenn man so etwas haben konnte?
Ivo hatte die Tür mit einem Zauber belegt, sodass sie wie ein Einwegglas funktionierte; er konnte durch sie hindurch ins Treppenhaus sehen, andersherum konnte jedoch niemand in die Wohnung hineinschauen. Das war sehr praktisch, insbesondere dann, wenn jemand davor stand, dem man nicht unbedingt die Tür öffnen wollte. Der Nachteil war, dass die Partikel der irdischen Materie sich dafür erst zersetzen mussten, was diesen verdammten Dunst verursachte. Es war inzwischen zwar besser geworden, aber ab und an sorgte es noch dafür, dass die Leute zu schnell Reißaus nahmen. Wie die Postbotin letzte Woche. Hinter Ivo erklang ein ohrenbetäubendes Geräusch wie ein unmenschlicher Schrei, das ihn jedes verdammte Mal zusammenfahren ließ, auch wenn er sich inzwischen daran gewöhnt haben sollte. Der junge Mann direkt vor seiner Tür schien nichts davon vernommen zu haben, denn er erschrak kein bisschen.
Nein, warum auch? Ivo hatte dafür gesorgt, dass nicht das leiseste Geräusch aus seinen vier Wänden nach draußen ins Treppenhaus dringen konnte. Dafür war die steinerne Mauer, die das Innere seiner Wohnung auskleidete, viel zu dicht. Es verlieh seiner Behausung das geheimnisvolle Flair einer Höhle. Als Nächstes würde er versuchen, die magische Schalldämmung auch für die einzelnen Zimmer hin zu bekommen. Dann musste er sich das Gekeife aus dem Nebenraum nicht den lieben langen Tag anhören.
Vor der Tür war der junge Kerl einen Schritt zurück getreten, sah aus als wolle er weitergehen, konnte aber seinen Blick einfach nicht von der Tür lösen. Einen kurzen Moment lang war Ivo besorgt, dass dieser Mann vielleicht doch durch die Tür sehen konnte, schlug sich die Befürchtung aber wieder aus dem Kopf. Es war wohl einfach nur der Drachenkopf, der seine braunen Augen fesselte. Dabei fiel Ivo ein, dass er etwas vergessen hatte. In der Weihnachtszeit hängte er seinem Türklopfer immer eine goldene Glocke um den Hals. Aus optischen Gründen. Das würde er nachholen, sobald sich der neugierige Besucher entfernt hatte. Doch vorher wollte Ivo selbst noch auf seine Kosten kommen.
Langsam streckte er die Hand aus und hielt sie genau auf Höhe von dem Kopf des unerwarteten Besuchers. Dessen Augen nahmen schlagartig einen benebelten Ausdruck an, als sei der junge Mann in Trance gefallen. Sie starrten ins Leere und in diesem Moment, als sich der Körper des Jungen gegen alle Sinneseindrücke von außen verschloss, drehte Ivo den Schlüssel zum Schloss in dessen Inneres um. Er schloss seine Augen und sah den Burschen nun in seiner Vorstellung vor sich. Er stieg in das Unterbewusstsein des jungen Mannes ein und alles breitete sich vor ihm aus wie ein Buch. Alles, was unter den kurzen schwarzen Haaren an Erinnerungen und Emotionen gespeichert war, wurde Ivo nun präsentiert.
Es war herrlich. Wie ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk. Durch die bunten Schleier der exorbitanten Menge an Erlebtem aus der Vergangenheit bahnte sich Ivo hindurch bis zum Anfang der Geschichte des Lebens der Person, die wenige Zentimeter durch eine Tür getrennt vor ihm stand. Der Junge hieß Noël Winter, war einundzwanzig Jahre alt und studierte Psychologie. Er erhoffte sich, in diesem Haus seine erste eigene Wohnung zu finden. Zu Weihnachten würde er höchstwahrscheinlich wieder zu seiner Mutter und seiner Schwester fahren, da er seine Familie nicht missen wollte. Zu seinem Vater bestand kein Kontakt mehr, schon seit längerem nicht. Ivo forstete sich weiter durch die Vergangenheit des jungen Mannes.
Als er genug gesehen hatte, ließ er die Hand sinken und konnte durch die Tür beobachten, wie Noël sich die Augen rieb und sich desorientiert im Treppenhaus umsah. Das war immer so, wenn Ivo in den Kopf von jemandem einstieg. Eine kurze Benommenheit war die Folge, aber nach wenigen Minuten würde er sich wieder gefasst haben. Ein kleines Grinsen huschte über Ivos Gesicht. Es machte jedes Mal auf Neue Spaß und er konnte und wollte es einfach nicht lassen. Ein erneuter Schrei verursachte, dass Ivo nun von dem jungen Burschen abließ. Mit eiligen Schritten lief er zu der eisenbeschlagenen Tür, hinter der die Geräuschquelle saß und öffnete sie. Mit beleidigtem Blick musterten ihn die gelben Augen, die wie zwei Citrine wild glitzerten. Ivo streckte seine Hand aus und der weiße, fedrige Kopf senkte sich, sodass Ivo ihn streicheln konnte. Während er das tat, scharrte Raiko mit einer riesigen Pranke auf dem Boden. Die langen Krallen rissen Kratzer in den ohnehin schon lädierten Parkettboden.
Raiko hasste es, alleine zu sein. Und noch mehr hasste er es zu frieren. Ivo warf unter den wachsamen Augen des Greifs ein paar Holzscheite in den Kamin, woraufhin dieser ein seltsames schnurrendes Geräusch vernehmen ließ. Wie gerne würde Ivo ihn in den großen Wohnraum lassen, damit sich Raiko direkt vor den Kamin legen könnte. Aber dann würde er in wenigen Sekunden den schönen Weihnachtsbaum geplättet haben, den Ivo aufgestellt hatte. Das war die vergangenen Jahre immer passiert, mal früher und mal später und dieses Jahr wollte Ivo das Risiko nicht mehr eingehen.
Der Baum war so hoch, dass er fast bis zur Decke reichte. Um ihn herum flogen in beständiger Ausdauer lauter kleine rote und goldene Lichter. Sie umhüllten den Baum wie eine Girlande aus lebendigem Lametta. An der Spitze leuchtete ein die Sinne übersteigendes grelles Licht, in das man besser nicht direkt hinein schaute. Der prachtvolle Baum brachte Ivo zum Lächeln. Er hatte auch schon Wurzeln im Wohnzimmer geschlagen. Das war praktisch, denn dann brauchte Ivo sich im nächsten Jahr keinen neuen zu besorgen. Vorausgesetzt, Raiko konnte sich zurück halten.
Ivo warf noch einen kurzen Blick zur Tür. Sollte der junge Mann machen, was er wollte. Selbst hatte Ivo noch genug zu tun. Er musste sich noch um die Schalldämmung von Raikos Zimmer kümmern. Mit einer Auf- und Abwärtsbewegung seines Zeigefingers ließ er die Wohnungstür wieder materialisieren. Der Dunst verzog sich augenblicklich.
Noël betrachtete die Tür vor sich.
Hatte er gerade im Stehen geschlafen? Was war passiert? Ihm schien es, als habe er die letzten paar Minuten einfach... verpasst. Ja, das war das richtige Wort dafür. Verpasst. Verschlafen. Verpennt. Als sei er für kurze Zeit weg gewesen.
Aber wie? Wo war er? Im Treppenhaus eines Mehrfamilienhauses. Und warum? Er wollte eine Wohnungsbesichtigung machen. Warum das? Was für eine Frage! Der Türklopfer aus Messing leuchtete im einfallenden Licht aus dem Nachbarhaus. Aber sonst war nichts ungewöhnlich.
Warum stand er nochmal hier? Die Augen des Drachen hatten doch rot geleuchtet. Hatten sie das wirklich? Ja... warum sonst hätte Noël stehen bleiben sollen? Doch allmählich glaubte er, einfach nur auf eine optische Täuschung hereingefallen zu sein. Es war nur das Licht, das in einem besonderen Winkel auf das Material aufgetroffen war und es so hat wirken lassen, als würden die Augen leuchten. Das Licht nebenan erlosch und der Drache hing weiter unbewegt an der Tür.
Noël wandte sich von der Tür ab, aber ein komisches Gefühl blieb. Als würde er beobachtet werden. Er beschloss, sich schnell von dieser Wohnung zu entfernen. Was auch immer das für ein seltsamer Zeitgenosse war, der hinter dieser Tür lebte, er musste nicht gerade jetzt mit ihm Bekanntschaft machen. Der junge Mann wandte sich der Treppe zu, um die Stufen ins nächste Stockwerk hinauf zu steigen. Was wohl noch alles geschehen würde?
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