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𝟷𝟷. 𝙳𝚎𝚣𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛
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Noël hatte ganz in Gedanken bei dem glücklichen Wiedersehen nicht gemerkt, dass sich die Schnürsenkel seines linken Schuhs gelöst hatten und so trat er darauf und stolperte nach vorne. Unbeholfen versuchte er, sich am Geländer des Treppenhauses abzufangen, wobei er unsanft mit dem Knie dagegen stieg und ein lautes Geräusch wie einen hohlen Gong erzeugte. Eilig rappelte er sich wieder auf und blickte sich um. Anscheinend hatte es niemand gesehen. Hoffentlich. Noël band sich mit fahrigen Fingern den Schuh wieder zu und sah zur Tür mit der Nummer 11, vor der er gelandet war.

Ob gerade in diesem Moment jemand hinter dem Türspion stand, um zu schauen, was das laute Geräusch verursacht hatte? Noël rechnete damit, dass jeden Moment eine der Türen auf dieser Etage sich öffnete, weil jemand nachsehen wollte, was im Treppenhaus vor sich ging. Aber nichts dergleichen passierte. Alle Türen blieben zu.

Das wollte aber nicht heißen, dass niemand das Geräusch gehört hatte. Dong. Ein lautes, lang gezogenes Dong. Bei dem Geräusch von draußen hielt Agnes inne. Sie setzte sich ihre Schutzbrille ab und ging zur Tür. Ihre Hand hatte sie schon an der Türklinke, da wurde sie von hinten grob an der Schulter gepackt. "Stopp! Du vermasselst unser ganzes Projekt! Wenn du jetzt abbrichst, dann war alles für die Katz, alles umsonst! Also komm sofort zurück!"

Es war Daria mit ihrer autoritären Stimme, die perfekt zu dem harten Gesicht mit den kantigen Zügen passte. Die Stimme, die Agnes jedes Mal einen Schauer über den Rücken jagte, weil sie dabei immer das Gefühl hatte, den harschen Anweisungen direkt Folge leisten zu müssen. Dieses Mal war keine Ausnahme. Agnes seufzte und kehrte der Tür wieder den Rücken.Ganz legal war das, was sie und ihre... Kollegin hier taten, keineswegs.
Es würde Agnes auch nicht wundern, wenn jeden Moment ein Sondereinsatzkommando die Tür eintreten, die Wohnung stürmen und sie beide festnehmen würde. Denn schließlich führten sie ein Experiment durch, das so auf jeden Fall nicht erlaubt war, das seit einigen Jahren sogar per Gesetz untersagt war. Die Wände der Wohnung waren schallisoliert und auch die Fenster durch dicke Vorhänge gesichert, aber Fehler machte schließlich jeder und so war es wahrscheinlich nur eine Frage der Zeit, bis jemand dahinter kam, was hier vonstatten ging. Was hier für... Versuche durchgeführt wurden.

Im Schutze eines unscheinbaren Mehrfamilienhauses. Mit dem lodernden Blick eines wilden Stiers fixierte Daria die in gedecktem Rot leuchtende Röhre, die vertikal vom Boden des Zimmers bis zur Decke reichte. Sie hatte etwa den Durchmesser eines Weinfasses und enthielt normalerweise eine Konservierungsflüssigkeit. Aktuell war die Röhre leer, aber das würde sich gleich ändern. Agnes setzte wieder ihre Schutzbrille auf. Ihre Augen waren schon so müde und mit einem kurzen Blick zu Daria stellte sie fest, dass auch ihre rosinenfarbenen Augen schon vor Müdigkeit gerötet waren, als hätten sie zu lange auf die Röhre gestarrt und sich sich die rote Farbe zu eigen gemacht. Trotz der Schutzbrille.
Die beiden hielten sich seit zwei Tagen ununterbrochen mit extremen Mengen Energydrinks und Kaffee wach, aber irgendwann machte der Körper auch das nicht mehr mit. Es war im Grunde auch nur ein Aufschieben des unausweichlichen Schlafes, der bald kommen musste, der sie mit der Wucht eines Rammbocks umhauen und direkt ins Land der Träume katapultieren würde. Daria hatte vorhin schon der Sekundenschlaf erwischt. Ganz kurz war sie eingenickt, auch wenn sie es nicht zugeben wollte. Das war der erste Vorbote. Bald würde sie wahrscheinlich im Stehen einschlafen.

"Bist du soweit?", fragte Daria. Ihre Stimme klang deutlich lahmer als vorhin. Da hatte sie wahrscheinlich die letzten Kraftreserven zusammen genommen, um Agnes anzuschreien. Klar, dafür war immer Energie da.
"Bin soweit", sagte sie. Daria nickte. Sie holte ein kleines Gerät aus der Tasche ihres Laborkittels, das so aussah, wie eine ganz kleine Fernbedienung mit lauter unbeschrifteten Knöpfen und einem kleinen Display am oberen Rand.

Auch das war typisch für Daria. Sie hatte das Ding im Alleingang gebaut und hatte darauf verzichtet, die Knöpfe nach ihrer Funktion zu beschriften. Was die einzelnen Knöpfe also genau bewirkten, wusste nur sie. Eine Vorsichtsmaßnahme. Ja, sicher. Vorsicht. Dass Daria Agnes misstraute, hatte sich schon früh gemerkt. Spätestens als sie sie mit dem Metallscanner abgesucht hatte, war es Agnes klar gewesen, auf wen sie sich da eingelassen hatte. Es würde Agnes auch nicht wundern, wenn alle Knöpfe dasselbe taten und Daria nur der scheinbaren Komplexität halber mehrere von ihnen eingebaut hatte. Sie war keine sehr umgängliche Partnerin, das stand fest.

Dabei hatte die Annonce, die an der Pinnwand in der Uni gehangen hatte, so unscheinbar geklungen. »Suche Chemikerin für wissenschaftliche Fragen«. Tja, das hatte gepasst. Agnes war Chemikerin und ja, sie konnte wissenschaftliche Fragen beantworten. Wofür jemand wissenschaftliche Fragen beantwortet haben wollte und was genau überhaupt diese ominösen wissenschaftlichen Fragen sein sollten, das hatte Agnes nicht überlegt.

Und nun steckte sie tief in diesem ungeheuren Projekt. Es gab kein Vor und kein Zurück mehr und sie wollte den ganzen Mist wenigstens zu einem guten Ende bringen. Bald war Weihnachten und dann wollte sie mit ihrer Familie feiern und nicht etwa im Knast sitzen oder im unendlichen Raum-Zeit-Kontinuum oder was auch immer herumfliegen, in dem die Gesetze der Materie außer Kraft gesetzt waren. Ihren Eltern hatte sie gesagt, sie würde zusammen mit einer Kommilitonin lernen.

Ja, klar. Am Rande ihres Gesichtsfelds blinkte ein grüner, plastischer Konus phlegmatisch vor sich hin. Er war umgeben von runden silbernen und blauen Neonröhren, die abwechselnd mit pulsierendem Licht aufleuchteten. Darias Interpretation eines Weihnachtsbaums. Agnes' Alptraum.
Weder verströmte das Ding den charakteristischen würzigen Duft einer echten Tanne noch den Charme. Es war kalt und hart.

Agnes bereute es bitter, sich auf dieses Experiment eingelassen zu haben. Aber Daria hatte sie im Griff. Agnes wusste nicht wie und warum, aber diese Frau hatte sie in vollkommen in der Hand. Entschlossen drückte Daria auf einen Knopf und die rote Röhre fing an zu summen. Von unten her stieg eine blubbernde Flüssigkeit hoch und ein Strudel bildete sich. Es war wie ein kleiner, träger Tornado, der das zähe Liquid mit offenbar hoher Viskosität im Kreis herum wirbelte. Daria drückte auf einen anderen Knopf und die Farbe wich von dem ursprünglich kräftigen Karmesinrot hin zu einem braunen Sepiaton.

Trotz der betäubenden Müdigkeit sah Agnes ganz genau hin, denn das, was sie sah, konnte sie nicht glauben. In dem zähen Strudel bildeten sich Umrisse heraus, die immer schärfer wurden. Es war, als würde man aus einem Traum erwachen und nach und nach alles um sich herum immer schärfer wahrnehmen. Nur, dass es genau umgekehrt war. Dass das hier der Traum war.

In der Röhre befand sich nun die Abbildung eines Zimmers. Die gekalkten Wände waren uneben und rissig und der Boden mit zerrupftem Teppich ausgelegt. Ein Tisch, der aussah, als habe man ihn mit einem Beil bearbeitet, stand in der Mitte des Raumes. Am linken Rand war ein Kamin, in dem ein müdes Feuer flackerte. Daria drückte einen weiteren Knopf und nun hörte man Kinder lachen und wie von ganz weit weg eine Flöte spielen. Eines der Kinder lief kurz durch das Bild. Ein Junge in einer viel zu großen Latzhose. Er sah sich unschlüssig um und verließ das Bild dann wieder.

Von Agnes und Daria hatte er wohl keine Notiz genommen.Daria betrachtete das Schauspiel in der Röhre. Sie legte den Kopf schief und setzte ein verträumtes Lächeln auf, das auf ihrem Gesicht gespielt wirkte.
"Hach, das ist ja wie in der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens  ...", murmelte sie. Agnes kannte die Geschichte. Aber selbst bei dem Gedanken daran kam in ihr gerade beim besten Willen keine Weihnachtsstimmung auf.

Wenn man sich im Dezember mehr koffeinhaltige Getränke als Punsch reinzog, dann wurde bei ihr jeder Funken an Festtagsstimmung im Keim erstickt. Agnes' unsteter Blick fiel auf das Display des kleinen Geräts, das Daria in ihren groben Händen hielt. 1850 stand darauf. War das nur ein zufälliges Jahr oder hatte sie es bewusst gewählt? 
"So... und jetzt legst du deine Hand an die Röhre", sagte Daria wie selbstverständlich. Agnes zuckte zusammen.

Das war nicht abgemacht gewesen! Ihr wurde heiß und kalt. Sie ahnte - nein, sie wusste - was passieren würde, wenn sie das tat. Dann würde sie eingesogen werden. Rein ins Jahr 1850. In diesem Moment merkte Agnes, dass sie Daria ebenso wenig traute, wie es umgekehrt der Fall war.
"W... was? Ist das dein Ernst? Du hast gesagt, ich würde nicht...", stammelte Agnes entsetzt, doch Daria unterbrach sie mit einer schneidenden Handbewegung.
"Gar nichts habe ich gesagt. Es war von Anfang an klar, dass du mir bei diesem Projekt helfen würdest und zwar in allen Belangen!", erinnerte Daria sie und betonte die letzten drei Wörter besonders.

"Aber doch nicht als Versuchsobjekt!", rief Agnes verzweifelt. Sie wusste genau, was Daria vor hatte, aber sie hätte nie gedacht, dass sie selbst dafür herhalten müsste. Ja, Daria hatte ihr gesagt, was sie tun wollte. Sie wollte die Geschichte ändern. Einfach umschreiben. Dabei war das Zivilpersonen durch das Zeitreisegesetz § 10 Absatz I strengstens untersagt, weil dadurch die Ereignisse derart verändert werden konnten, dass man die Auswirkungen nicht abschätzen konnte. Und das wusste Daria auch, aber es schien sie nicht zu interessieren.

Nein, es wurde durchgezogen und am besten sollte Agnes ihren Kopf hinhalten. Daria schloss für einen Moment die Augen und atmete tief ein. Einen Augenblick lang hoffte Agnes, dass sie dem Sekundenschlaf zum Opfer gefallen war, aber dann machte sie wieder die vor Müdigkeit schreienden Augen auf und sagte: "Nein. Kein Versuchsobjekt. Tu es einfach und stelle keine weiteren Fragen."
"Nein", sagte Agnes schlicht.
"Wie nein? Was heißt hier nein?", polterte Daria.
"Das heißt, dass ich nicht dein Versuchskaninchen spielen werde. Und ich werde auch nicht dein Sündenbock sein. Ich steige aus. Mach, was du willst", sagte Agnes, knallte ihre Schutzbrille auf den Boden und lief mit großen Schritten zur Tür. Sowie sie diese aufriss, verklangen die Geräusche aus der Röhre und das Bild erlosch. Die Röhre leuchtete wieder in diesigem Rot vor sich hin.

Noël wollte sich gerade von der Wohnung mit der Nummer 11 entfernen, da wurde die Tür aufgerissen und eine kleine, schmale Frau mit dunkelbraunen Haaren, die zu einem Dutt gebunden waren, kam heraus gestürmt. Ohne ihn eines Blicks zu würdigen und ohne zu grüßen verließ sie eilig das Haus. Einen kurzen Blick konnte er in das Innere der Wohnung erhaschen, dann wurde sie mit Schwung zugeknallt. Hatte er da gerade richtig gesehen?
Da war eine große, rot leuchtende Röhre gewesen. Weihnachten stand ja an und vielleicht... war das ein Teil der Dekoration? Was sollte es denn darstellen? Einen Kamin auf gar keinen Fall, denn ein Kamin leuchtete nicht.

Noël starrte die geschlossene Tür an und mit jeder Sekunde, die verstrich, wurde er zusehends unsicherer, ob er gerade richtig gesehen hatte oder ob ihm nur seine Wahrnehmung einen Streich spielte.Er rieb sich die Augen und schaute nochmal zur Tür. Ganz normal lag sie da vor ihm, wie die anderen Türen auch. Ganz unscheinbar.
Am besten, er beließ es dabei. Er versuchte gar nicht erst, für das seltsame Verhalten der Frau eine Erklärung zu finden, sondern machte sich auf den Weg durchs Treppenhaus. Das hier war ja schon komisch, aber es lagen noch einige Wohnungen vor ihm. Was wohl noch alles geschehen würde?

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