Yan [8]
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Das Bild war überlebensgroß. Um es zu betrachten, musste ich ein paar Schritte zurücktreten und den Kopf in den Nacken legen. Dann konnte die Frau mit dem schief gelegten Kopf und dem zufriedenen Lächeln entspannt auf mich herabblicken. Sie saß auf einem Felsen, inmitten eines Flusses, beide Arme hinter sich abgestützt, die nackten Füße in das schäumende Wasser gestreckt. Die Sonne ließ ihre blonden Haare schimmern, während keine einzige Falte das schöne Gesicht zeichnete. Sie trug eine weite Hose, ein weites Hemd und eine Kette, die wirkte, als würde sie von Seite zu Seite schwingen.
Wären nicht die dunkelblauen Augen gewesen, die beinah unnatürlich in der blassen Erscheinung wirkten, hätte ich gesagt, dass Gemälde wäre eine Darstellung der Königin, so ähnlich sah die Frau ihr. Selbst die Art und Weise, wie sie eine der schmalen Augenbrauen hob, erinnerte mich an Idan'shin. Dennoch fand mein Blick immer wieder die dunklen Augen. Irgendetwas daran wirkte seltsam bekannt, als müsste ich nur etwas tiefer graben, um zu wissen, wer sie war. Was natürlich totaler Schwachsinn war, schließlich kannte ich die Frau nicht und es gab hunderte Menschen mit dieser Augenfarbe.
Schließlich warf ich einen Blick auf das kleine Schild unter dem elegant geschnitzten Rahmen. Den größten Teil der Worte konnte ich nicht lesen, doch ich war mir fast sicher, dass der Name der Frau Itham war. Auch der Name „Idan" kam darin vor. Vielleicht waren sie Schwestern? In all den Legenden hatte ich nie von ihr gehört. Aber das war auch nicht sonderlich verwunderlich, schließlich waren nur eine Handvoll Fae namentlich genannt worden.
„Sie sieht so sorglos aus, findest du nicht?"
Ich stieß ein zustimmendes Geräusch aus, den Blick noch immer auf das Gemälde gerichtet. Caras Kleidung raschelte leise neben mir, während sie ein Buch zurück in das Regal direkt neben dem Gemälde schob. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sie ebenfalls den Blick hob und das Gesicht der Frau studierte.
„Das Buch, das ich mir gerade angesehen habe, handelt von ihr, weißt du?"
Der schwere Tonfall ließ mich den Kopf drehen, bis ich Caras Gesicht sehen konnte. Mein Nacken dankte es mir, nicht hinauf sehen zu müssen. Ich studierte ihre Miene. Die Trauer, die ich dort sah, überraschte mich. Ich hatte nicht gedacht, dass eine Frau wie Cara so stark für das Schicksal einer anderen Person fühlen konnte. Doch gleichzeitig regte es meine Neugier ungemein an.
„Was stand darin?"
Mit einem Seufzen schloss sie die Augen, dann schüttelte sie den Kopf und blickte wieder hinauf. Dabei schienen ihre Schultern, die schon zuvor schwer gewirkt hatten, noch etwas weiter abzusacken.
„Sie war die Schwester der Königin, wenn ich es richtig verstanden habe. Das Buch war zwar in unserer Sprache verfasst, aber die Sätze waren doch recht unverständlich aufgebaut. Ich will damit sagen, ich weiß nicht, ob ich es richtig verstanden habe."
Sie ließ den Blick weiter über das Bild schweifen.
„Sie war jünger als Idan'shin. Ein ganzes Stück sogar. Die Eltern der beiden waren bereits alt, deshalb hat die Königin sie aufgezogen. Hat ihr alles beigebracht, was sie wusste, sie zu ihrer Thronfolgerin erklärt. Sie hat ihr alles gegeben, verstehst du?
Als der Krieg kam, wollte Itham – so hieß sie – ihrer Schwester beweisen, dass all das Vertrauen nicht umsonst war. Sie hat die Fae an der Seite ihrer Schwester in die Schlacht geführt, bis die Königin ihr schließlich einen besonderen Auftrag gegeben hat. Sie sollte den Kronprinzen eskortieren. Aber auf dem Weg wurden sie überfallen.
Der Prinz konnte fliehen, doch Itham war nicht mehr bei ihm, als er schließlich von einem Suchtrupp gefunden wurde. Das war kurz vor dem Kriegsende. Sobald der Krieg vorbei war, hat Idan'shin ganz Cidus nach ihrer Schwester absuchen lassen, doch niemand konnte sie aufspüren. Als die Fae schließlich Ensomniya verlassen haben, hat man Itham für Tod erklärt."
Cara schloss die Augen, dann schüttelte sie den Kopf.
„Vielleicht hattest du recht. Wir hätten diese Mission nie antreten sollen. Es war vermessen von uns, solche Opfer noch einmal zu fordern."
Vermutlich war das hier der Moment, in dem ich mir selbst auf die Schulter klopfen sollte. Cara hatte zugegeben, dass ich im Recht war. Das war ein Grund zu feiern. Doch irgendwie wollte die Freude nicht kommen. Stattdessen fühlte ich mich müde, ein wenig hoffnungslos und vor allem wie ein Idiot. Ein paar ungewohnte Empfindungen für mich.
Als ich nicht sofort antwortete, wandte Cara sich mir ebenfalls zu, eine Augenbraue in die Höhe gezogen, der Blick fassungslos.
„Kein „Das habe ich von Anfang an gesagt" oder „Hättet ihr mal auf mich gehört"?"
Ich verdrehte die Augen.
„Ich mag vielleicht gerne meine eigenen Erfolgte feiern, aber ich bin kein schlechter Gewinner. Besonders nicht, wenn es keinen Gewinner gibt."
So ganz schien die Gräfin mir nicht zu glauben, denn sie starrte mich für ein paar Sekunden an, bevor sie sich wieder dem Gemälde zuwandte und murmelte: „Wenn du meinst."
Mir war klar, dass sie mich damit nur anstacheln wollte. Und es funktionierte, denn der Wunsch, mich zu verteidigen, stieg in mir auf. Angespannt verschränkte ich die Arme vor der Brust, dann drehte ich ihr meinen ganzen Körper zu.
„Ich meine das ernst, Cara. Ich habe diese ganze Reise mitgemacht, wenn auch unfreiwillig, und mir gefällt es überhaupt nicht, dass anscheinend alles umsonst war. Wer weiß, wie die Situation zuhause aussieht, wenn wir zurückkehren. Vielleicht baut der König darauf, dass wir Hilfe finden, wo er Isabel schon nicht vor sich selbst beschützen konnte. Diese Mission ist eine klassische Niederlage und vertrau mir, wenn ich sage, dass ich es hasse, zu verlieren."
Die Gräfin hatte sich mir ebenfalls zugewandt, der Blick nachdenklich.
„Was hast du eigentlich gegen Isabel?"
Überrascht zog ich die Augenbrauen in die Höhe. Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit einer solchen Frage. Zugegeben, Cara war direkter als die meisten Menschen in meinem Umfeld, aber sicherlich nicht so direkt, um eine solche Frage zu stellen. Also tat ich das Einzige, was in einem solchen Moment wohl richtig war.
„Wie bitte?"
Sie warf einen kurzen Blick durch das Zimmer, dann fixierte sie mich wieder aus dunklen Augen.
„Nimm es mir nicht übel, aber du nutzt jede Chance, die du bekommen kannst, um gegen sie vorzugehen. Gerade eben schon wieder. Und als ihre beste Freundin wüsste ich gerne, was dein Problem ist."
Ich war selten sprachlos, aber in diesem Moment wusste ich wirklich nicht, was ich sagen sollte. Also blinzelte ich ein paar Mal. Doch auch das änderte nichts an dem erwartungsvollen Blick, den sie mir zuwarf. Oder ihrer geraden, herausfordernden Haltung.
„Ich schätze einmal, dass die Prinzessin und ich einfach keine kompatiblen Persönlichkeiten haben."
Selbst in meinen Ohren klangen die Worte vorsichtig. Der Gräfin, für eine Edeldame war sie wirklich aufmerksam, schien das nicht zu entgehen, denn sie warf mir einen überraschend harten Blick zu.
„Gerade von dir habe ich etwas mehr Ehrlichkeit erwartet. Dafür bist du schließlich bekannt, nicht wahr? Kannst kein Blatt vor den Mund nehmen, musst immer sagen, was du denkst. Aber anscheinend ist das wohl alles Schall und Rauch."
Ihre Stimme klang überraschend gemein, mit diesem boshaften Unterton, den ich sonst nur von Hofdamen kannte, die gerade abgewiesen worden waren. Natürlich nicht von mir. Edeldamen und ich kommunizierten nicht gerade regelmäßig. Vielleicht traf mich der Tonfall deshalb so sehr. Oder ich war einfach müde von dem ganzen auf und ab der letzten Tage. Was auch immer es war, Cara hatte effektiv einen Nerv getroffen.
„Du willst, dass ich ganz ehrlich bin? Die Prinzessin ist mir, und glaub mir, wenn ich das sage, egal. Mich interessiert nicht, was sie tut und macht, wen sie trifft und wen sie nicht trifft. Das Problem ist aber, dass das niemand zu akzeptieren scheint, besonders nicht deine Freundin. Deshalb konfrontieren mich die Leute mit ihr, bis ich genervt bin. Und wenn ich genervt bin, dann sage ich gemeine Sachen, in der Hoffnung, dass die Leute mich in Ruhe lassen.
Doch Prinzessin Isabel lässt mich nicht in Ruhe. Stattdessen nervt und nervt sie immer weiter. Es ist fast so, als würde sie darauf warten, dass ich etwas Gemeines sage. Wenn ich aber nichts sage, dann lässt sie mich auch nicht in Ruhe. Und ich hasse es, nicht in Ruhe gelassen zu werden."
Zu spät fiel mir auf, dass ich meine Stimme erhoben hatte, und ich bemühte mich, die Zähne zusammen zu beißen und mich wieder etwas zu entspannen. Caras selbstzufriedener Ausdruck entging mir dabei nicht, was irritierend war. Essenziell hatte ich ihre beste Freundin gerade nervig und uninteressant genannt, da sollte sie ja wohl etwas mehr Unzufriedenheit an den Tag legen.
„Was?", wollte ich schließlich wissen, meine Stimme eindeutig zu defensiv, als sie mich weiterhin musterte wie einen Hund, der ihr gerade das Stöckchen zurückgebracht hatte.
„Nichts", meinte sie mit einem kleinen Kopfschütteln und einem noch breiteren Lächeln.
Ich warf ihr einen ungläubigen Blick zu, doch Cara wandte sich nur einem weiteren Buch zu, durch das sie zu blättern begann. Ich stieß ein unzufriedenes Schnauben aus, dann zwang ich mich dazu, mich aus der Situation zurückzuziehen. Wenn ich blieb, dann würde ich etwas Falsches sagen. Ich war mir ziemlich sicher, dass das ihr Ziel war. Warum sie das wollte, das konnte ich beim besten Willen nicht sagen.
Ich wanderte die Regalreihen entlang, bis ich ein Fenster erreichte. Der Raum war nicht sonderlich groß, auch wenn er weitaus größer war als die Zimmer in meinem Baumhaus. Deshalb erlaubte er es auch nicht, genügend Abstand zwischen mich und die Gräfin zu bringen. Am Fenster musste ich mich immerhin nicht eingesperrt fühlen.
Mit einem kleinen Seufzen ließ ich meine Ellbogen auf den Fenstersims treffen, dann lehnte ich das Kinn auf die Hand und warf einen Blick in die Tiefen des Waldes. Prinzessin Isabel und Idan'shin sprachen schon eine ganze Weile lang miteinander, sodass das Blattwerk hell in den Strahlen der Mittagssonne erleuchtete.
Dennoch war es dicht genug, um die größte Hitze fernzuhalten. Stattdessen wehte eine leichte Brise, deren Ursprung mir nicht ganz natürlich vorkam, schließlich war das Blätterdach dicht und die Bäume standen dicht aneinander. Unter dem Fenster, durch Äste und mehr rote Blätter verdeckt, konnte ich das Rauschen des Flusses wahrnehmen, während die Luft sich feucht anfühlte.
Für ein paar Sekunden schloss ich die Augen und stellte mir vor, wie die salzige Brise des Meeres über mein Gesicht wehte und ich auf dem kalten Stein meines Zimmerfensters im Stadthaus meiner Eltern lehnte, nicht auf dem erwärmten Holz. Meine Schwestern liefen durch den Flur, im Garten hielt meine Mutter Hof, mein Vater war einmal mehr abwesend.
Mit einem ziemlich uneleganten Grunzen öffnete ich nach ein paar Atemzügen wieder die Augen. Enttäuscht, dass die Erinnerung mir kein bisschen Trost bringen konnte, starrte ich tiefer in den Wald hinein, als könnte dieser mir erklären, warum mein Zuhause sich nie wie ein Zuhause angefühlt hatte. Das Haus, von dem aus man bis an den Hafen blicken konnte, beherbergte wenige Erinnerungen, denn ich war mir immer mehr wie ein Gast vorgekommen.
Bevor ich mich dem Selbstmitleid weiter hingeben konnte, erklangen Schritte auf der Treppe, die von der Terrasse hinab in diese Version einer Bibliothek führte. Mit einem kleinen Knacken im Rücken richtete ich mich auf, dann, nach einem kurzen Blick über die Schulter, streckte ich mich.
Ich rückte gerade mein Oberteil zurecht, da erschienen schlanke Beine auf der Treppe. Sekunden später traten die Prinzessin und Idan'shin in den Raum. Mit großen Augen sah Isabel sich um, während die Königin in den Raum zu schweben schien. Als sie stehen blieb, ertappte ich mich dabei, wie ich einen Schritt vortrat, angezogen von ihr wie eine Motte von Licht.
Der Gedanke entrang mir eine Grimasse, die ich schnell verbarg, als der Blick der Königin sich auf mich richtete. Für ein paar Sekunden musterte sie mich mit diesem wissenden Blick, der an jedem anderen wohl überheblich gewirkt hätte, dann wandte sie sich zu Cara. Einige Momente verstrichen und niemand sprach.
„Gräfin de Cerca, Fürst van Statten, bitte fühlt euch eingeladen, in den nächsten Tagen an meinem Abendmahl teilzunehmen. Die Einladung gilt auch für eure weiteren Begleiter, solange Isabel und ich uns noch etwas zu sagen haben. Ich würde die Möglichkeit begrüßen, mit Personen, die nicht Baylor sind, zu sprechen. Selbst eine Königin kann nur so oft über die Wartungsarbeiten an ihrem Schloss sprechen."
Begeistert nickte Cara der Königin zu, die ihr ein kleines Nicken, wie eine Miniaturverbeugung, zuwarf und sich dann an mich wandte. Ich gab mir Mühe, etwas mehr stolz zu bewahren. Doch selbst ich konnte nicht sagen, dass der Gedanke an regelmäßige Abendessen mit der Königin der Fae mich nicht begeisterte.
„Es wäre mir eine Ehre", erklärte ich schließlich.
Wer hätte gedacht, dass ich einmal mit einer Kriegerkönigin, die die meisten Menschen für einen Mythos hielten, zu Abend essen würde?
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Here we go. Wer hätte gedacht, dass Yan sich selbst so gut zu kennen scheint?
Over and Out,
DasLebenLesen
30/08/2021
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