Drysden [5]

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Am frühen Morgen des dritten Tages auf See war ich noch vor allen anderen an Deck. Das hatte einen ganz einfachen Grund: Ich war seekrank. So schrecklich hatte ich mich selten gefühlt, während ich über der Reling hing und meinen Mageninhalt ausleerte. Zum Glück beschränkte sich das größte Übel auf die Zeiten, wenn ich gerade erst aufgewacht war. Am Tag konnte ich es ganz gut ignorieren, doch morgens früh verlangte die See einen Tribut.

Bisher hatte noch niemand bemerkt, dass ich morgens früh nicht in meiner Koje lag, deshalb konnte mich auch niemand dabei beobachten. Erleichtert, als es endlich vorbei war, ließ ich mich gegen die Reling sinken und streckte die Beine aus. Dann atmete ich ein paar Mal tief durch, in der Hoffnung, dass der ekelhafte Geschmack von Erbrochenem von der salzig-frischen Seeluft ersetzt wurde.

Schließlich musste ich eine der Minztabletten, die ich aus Andrejs Vorrat gestohlen hatte, als er gerade nicht hingesehen hatte, nehmen. Nach ein paar weiteren Minuten, in denen ich in den grauen Morgenhimmel hinaufgestarrt hatte, holte ich mein Tagebuch hervor. Dann musste ich ein paar Sekunden lang herumtasten, bis ich die Feder und das kleine Tintenfass fand, die ich in einer Tasche meiner Hose verstaut hatte, denn das Schiff schien sich stärker als zuvor zu drehen.

Diensttag, 18 Tage nach der Sommerweihung

Ich kann der Seefahrt wenig abgewinnen. Mir ist übel, alles sieht gleich aus und ich habe direkt am ersten Morgen auf See meine Feder zerbrochen und musste zwei Tage lang Karten spielen, bis ich eine gewonnen habe. Deswegen konnte ich die letzten Tage auch leider nicht schreiben.
Bisher ist alles gut gegangen. Wir scheinen auf Kurs zu sein und die allgemeine Stimmung ist gut. Der Fürst redet noch immer nicht mit uns, aber immerhin scheint er nicht zu planen, uns zu verraten. Vielleicht liegt das auch daran, dass Andrej ständig bei ihm ist.
Cara und Isabel haben mittlerweile einen Ruf bei den Matrosen für ihre Fertigkeiten beim Kartenspiel, während ich für meine eher verspottet wurde. Tatsächlich fürchte ich, dass man mich hat gewinnen lassen, als es um die Feder ging.
Meiner Schulter geht es gut, trotz der Anstrengungen an Board. Die Salbe, die ich gefunden habe, wirkt wahre Wunder.
Der Captain meinte, wir werden in den nächsten Tagen schon ankommen, sollte es Yver wirklich geben, denn die Winde waren auf unserer Seite. Dafür bin ich dankbar, denn so langsam fühle ich mich eingeengt. Unter Deck ist die Decke so niedrig, dass ich mich wundere, warum Andrej sich nicht ständig den Kopf stößt und über Deck ist nur Wasser zu sehen. Bei allen Göttern, ich wünsche mir nichts mehr als festen Boden unter den Füßen.

Seufzend wartete ich darauf, dass die Tinte trocknete, dann rappelte ich mich auf und machte mich auf den Weg in den Schlafraum. Dort hatte ich genug Zeit, mein Buch und die Schreibutensilien in einer kleinen Metallbox einzuschließen, in der meine Mutter mir vor ein paar Jahren eine Sammlung eleganter Dolche geschenkt hatte, dann wachten auch schon die ersten Matrosen auf.

Andrej drehte sich aus seiner Koje heraus als ich mich erhob und gemeinsam traten wir wieder an Deck. Kurz hielt ich mich an der Außenwand der Kapitänskajüte fest, als mich wieder Schwindel ergriff, doch anscheinend war der Wellengang heute höher als sonst, denn auch Andrej schwankte für ein paar Sekunden. Mit gerunzelter Stirn sah er sich um, dann trat er weiter an Deck.

Prüfend warf ich einen Blick in den Himmel, nur um zu erkennen, dass nicht nur der Morgenhimmel grau war. Wolken verdeckten die Sonne, die die letzten Tage unbarmherzig auf uns niedergeschienen hatte, und der Wellengang war heftiger als zuvor.

Besorgt trat ich an Isabel und Cara heran, die an der Reling standen. Cara schenkte mir ein kleines Lächeln zur Begrüßung, doch Isabel schien mich kaum zu bemerken, während sie ihr Gesicht dem Wind entgegenstreckte. Das hatte sie schon die letzten Tage immer wieder gemacht, meistens mit diesem kleinen Lächeln auf den Lippen, das völlige Zufriedenheit ausdrückte.

„Habt ihr den Captain schon gesehen?", durchbrach ich schließlich die friedliche Stille, die die beiden trotz der Geschäftigkeit an Board umgab.

„Ja, aber nur kurz. Er meinte, dass wir vielleicht mit etwas Regen zu rechnen haben, aber nicht mehr. Es sollte uns auf jeden Fall nicht vom Kurs abbringen."

Erleichtert, nicht auch noch bei Gewitter auf einem Schiff zu sein, nickte ich. Gemeinsam starrten wir eine Weile hinaus auf die weite See. Ich musste zugeben, dass es trotz Schwindel und Übelkeit beruhigend sein konnte, auf einem Schiff zu sein. Beinah fühlte ich mich wie in einer kleinen Blase, weit weg von allem, was sonst meinen Alltag bestimmte.

Doch das Gefühl verschwand bald wieder, als eine besonders hohe Welle das Schiff traf und die Übelkeit wieder in mir aufstieg. Zum Glück bat mich kurz darauf einer der Matrosen um Hilfe, sodass ich eine Ablenkung hatte, statt nur dieses widerliche Gefühl zu spüren.

Den ganzen Tag über gab es etwas auf dem Schiff zu tun, sodass meine Muskeln am Abend brannten, als ich unter Deck in die kleine Küche schlenderte, um mir etwas von dem deftigen Eintopf zu holen. Müde ließ ich mich auf einen Platz zwischen Isabel und einem Matrosen, Karl, mit dem ich relativ viel arbeitete, fallen. Beide warfen mir mitleidige Blicke zu, was mir bestätigte, dass der wenige Schlaf der letzten Tage zu sehen sein musste. Bei den Göttern, ich musste wirklich hier runter.

Den ganzen Tag über schon hatte der Wellengang zugenommen und der Himmel war dunkler geworden, was man an den verkniffenen Gesichtern der Matrosen gut erkennen konnte. Niemand machte Witze oder holte ein Kartenspiel hervor, während gegessen wurde. Auch Isabel und Cara, die sonst immer der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit waren, saßen leise da und löffelten die Suppe.

Als schließlich der Captain in all seiner Größe eintrat, wurde es noch stiller, denn auch die letzten leisen Konversationen verklangen bei dem sorgenvollen Gesichtsausdruck. Schwer ließ er sich auf einen Stuhl am Kopfende des langen Tisches, an dem wir saßen, fallen, dann seufzte er, ein tiefer Laut, der beinah als Brummen durchging.

„Ich fürchte, wir haben uns etwas verschätzt. Der Regen könnte stärken werden als erwartet, deshalb tut es mir leid, aber wir werden wenig schlafen können. Es müssen immer noch ein paar Kisten vertäut, die Ruder überprüft und die Segel ausgebessert werden."

Man konnte geradezu hören, wie die letzte Hoffnung auf einen ruhigen Abend aus den Männern flossen. Mir ging es genauso, doch darunter mischte sich ein ungutes Gefühl, zusammen mit einer Erinnerung, die ich nicht abschütteln konnte.

Wir sind bereits seit drei Tagen auf dem Schiff unterwegs. Das hatte mein Vorfahre, mein Urgroßvater väterlicherseits, in seinem Tagebuch geschrieben. Doch jetzt müssen wir überprüfen, ob alles sicher vertäut ist, denn ein Sturm zieht auf.

War das ein Zufall oder steckte mehr dahinter? Immerhin war auch das hier unser dritter Tag. Aber sie hatten es unbeschadet hindurch geschafft, zumindest ließen die weiteren Einträge das vermuten. Also sollte ich mir, wenn es kein Zufall war, keine Sorgen machen. Dennoch ließ mich dieses Gefühl nicht los, besonders, als der Captain uns mit einem Nicken zu sich holte, während alle anderen an Deck strömten, um die letzten Vorbereitungen zu treffen.

„Wir haben ein Problem. Der Sextant spielt seit ein paar Stunden verrückt, deswegen wissen wir nicht, ob wir noch genau auf Kurs sind. Wir arbeiten daran, das Problem zu lösen, aber aufgrund der Wolken können wir uns auch nicht an der Sonne orientieren."

Das war nicht gut. Am Morgen war noch alles gut gelaufen, und jetzt? Wenn wir nicht mehr auf Kurs waren, dann konnte ich auch nicht mehr auf das Buch setzen.

„Wir sollten ein Problem nach dem anderen angehen. Zuerst der Sturm, dann die Navigation", ließ Cara da vernehmen.

Sie und Isabel nickten, dann scheuchten sie mich, Yan und Andrej auch schon an Deck. Meine Sorge behielt ich für mich, auch wenn das ungute Gefühl noch in mir stieg, als wir das Deck erreichten und beinah von einem Windstoß umgestoßen wurden. Nur mit Mühe gelang es mir, mich festzuhalten und nicht rückwärts die schmale Treppe wieder hinabzustürzen.

Glücklicherweise ließ der Wind soweit nach, dass ich an Deck konnte, ohne zu fallen. Während ich mich an die Arbeit machte, alles zu vertäuen, versuchte ich mir einzureden, dass mein ungutes Gefühl lediglich an einem Seesturm lag. Wer würde schon froh darüber sein?

Und doch, als der Wind wieder zunahm und die Befestigungen beschwerte, konnte ich die Sorgen nicht abschütteln. Es hatte begonnen zu regnen und ich war schon seit Minuten vollkommen durchnässt, und doch schien es hier draußen kein Ende zu nehmen. Wann immer etwas zur Genüge verstaut war, brach etwas anderes heraus und musste befestigt werden.

Der Himmel war dunkel, kaum Licht erreichte das Schiff, obwohl die Sonne sicherlich noch nicht untergegangen war. Die Wellen erreichten beinah die Reling und der Regen hatte bereits Pfützen auf dem Deck hinterlassen, die stetig stiegen. In genauso einer rutschte in diesem Moment ein Matrose aus, der sich panisch an einem Seil festhielt.

Zu seinem und meinem Entsetzen riss das Seil und die schwere Holzkiste rutschte aufgrund des Wellengangs über das Schiff direkt auf mich zu. Mit einem Sprung hechtete ich davon, nur um gegen Andrej zu stolpern. Der hielt uns zum Glück fest, dennoch musste er die Arbeit an einem Mast für ein paar Sekunden unterbrechen.

Erleichtert schloss ich die Augen, doch dann kippte die Welt plötzlich zur Seite. Erschrocken riss ich sie wieder auf, nur um sie direkt wieder zu schließen, um mich vor dem Meerwasser zu schützen. Wie ein nasser Sack schleuderte mich eine Welle über das Deck, bis ich mit einem dumpfen Stoß gegen die Reling stieß.

Für ein paar Sekunden war ich so geschockt, dass ich mich nicht regte. Erst eine zweite Welle, die auf mich zuzurasen schien, riss mich aus der Erstarrung. Mit rasendem Herzen griff ich um mich, doch da war nur Holz. Fluchend fuhr ich die glatte Oberflüche entlang, nach Halt suchend, als ich etwas zu packen bekam. Die Reling.

Mit aller Kraft hielt ich mich fest, als die Welle mich traf. Für ein paar Sekunden war Salz alles was ich schmeckte, das Rauschen in meinen Ohren das einzige Geräusch, während die Luft aus meinen Lungen gepresst wurde. So plötzlich, wie sie gekommen war, ging sie wieder und ich blieb nach Luft schnappend sitzend. Doch ich hatte kaum Zeit zur Erholung, als eine Hand nach meiner Schulter fasste. Ich sah auf, nur um in Andrejs besorgtes Gesicht zu blicken.

„Alles okay?"

Ich hörte die Worte kaum über das Tosen der Wellen und die Rufe der anderen Matrosen. Deshalb antwortete ich nur mit einem Nicken, zu erschöpft, um zu rufen. Dann sah ich mich um. Wo waren Isabel und Cara?

Es schien in den letzten Minuten noch dunkler geworden zu sein, denn neben Andrej konnte ich nur schemenhafte Gestalten auf dem Schiff sehen. Ich rappelte mich auf, nur um direkt wieder zu fallen, als eine Welle das Schiff traf. Fluchend biss ich die Zähen zusammen, als ich mit der Schulter gegen die Reling stieß und Schmerzen hindurch zuckten. Das hatte mir gerade noch gefehlt.

Wieder blieben mir nur wenige Sekunden, als etwas gegen mich stieß und wieder die Luft aus meinen Lungen trieb und meinen Kopf schmerzhaft mit der Reling kollidieren ließ. Doch dieses Mal war es keine Welle, sondern etwas anderes. Ich blinzelte, während kurzzeitig die Welt verschwamm, dann erkannte ich, dass es sich bei dem Etwas um eine Person handelte. Nicht nur irgendeine Person. Isabel.

Besorgt rappelte ich mich auf, bis ich kniete, eine Hand an der Reling, um nicht wieder umgestoßen zu werden. Dann warf ich einen Blick in ihr Gesicht und stellte erleichtert fest, dass sie zwar etwas benommen, dennoch aber bei Bewusstsein zu sein schien. Vorsichtig half ich ihr dabei, sich aufzusetzen, dann sah ich mich um, noch immer an der Reling klammernd wie ein Junge am Rockzipfel seiner Mutter.

Bei den Göttern, ich hasste Schiffe!

Neben mir und Andrej kniete Cara, die versuchte, etwas zu sagen. Doch über das Heulen des Sturms war nichts zu hören und ich schüttelte den Kopf, was sie mit einem frustrierten Gesichtsausdruck und einem vermutlich ebenso frustrierten Ausdruck erwiderte.

Und dann, plötzlich, kippte die Welt ein weiteres Mal. Erschrocken, als ich nur noch das bedrohliche Dunkelblau des Meeres sehen konnte, griff ich nach Isabel, eine Hand noch immer an der Reling. Ich bekam ihre Hand zu fassen, beunruhigend kalt, der Griff schwächer als mir lieb war. Jetzt konnte ich Cara hören, die laut schrie und Andrej, der einen Fluch ausstieß. Etwas oder jemand stieß gegen mich. Blonde Haare. Isabel? Nein, Yan.

Dann war die Reling plötzlich weg und ich schwerelos. Mit einer Hand umklammerte ich noch immer Isabel, während Himmel und See verschmolzen. Dann traf ich auf das Wasser und wieder fehlte mir die Luft zum Atmen, ich schmeckte Salz, doch es war stiller als je zuvor, während es dunkler wurde.

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Fast hätte ich vergessen, dass Kapitel hochzuladen. Upsi.

Over and Out,
DasLebenLesen

28/12/2020

PS: Irgendwie habe ich nach Weihnachten immer Schwierigkeiten mit dem Datum und dem Wochentag.

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