-~6~- Jim, kommst du bitte?
Die beiden Freunde kamen am Nachbarshaus an. Es war dunkelrot gestrichen und über der braunen Tür befand sich ein ebenfalls dunkelbraunes Vordach. Der Vorgarten wirkte ungepflegt, aber überall sprießten bunte Wildblumen, die versuchten, den Anblick zu retten.
Sherlock sah sich die Post an, die aus dem kaputten Briefkasten förmlich herausquoll. Es waren einige Rechnungen dabei, etwas Werbung und ein schmales Paket. Der Detektiv tastete es ab. In ihm musste wohl eine Armbanduhr sein - und eine teure noch dazu, so wie sich das Armband anfühlte. Dazu waren weder Absender, noch Empfänger daraufgeschrieben.
John klingelte und es wurde sofort geöffnet, als hätte sie nur darauf gewartet, dass einer der Männer auf die silberne Schaltfläche drückte.
,,Mrs. Lengston, würden Sie uns ein paar Fragen beantworten?", stürzte Sherlock sofort mit der Tür ins Haus und drückte ihr den Stapel Post in die Hand. Sie sah ihn erstaunt an.
,,Sind Sie Sherlock Holmes?"
,,Mein Gott, gibt es irgendjemanden in dieser verdammten Stadt, der Sie nicht kennt?", fragte John genervt und verdrehte die Augen.
,,Entschuldigung, wer sind Sie?", fragte Mrs. Lengston, was Johns Stimmung nur noch verstärkte. Auf Sherlocks Lippen dagegen zeichnete sich ein schmales Lächeln ab.
,,John Watson ist mein Name."
Mrs. Lengston zuckte mitleidig mit den Schultern. ,,Was möchten Sie denn wissen?", fragte sie dann, anstatt sich weiter mit dem Blonden zu beschäftigen.
,,Wo waren Sie gestern zwischen elf und zwölf?", fragte Sherlock.
,,Nachts? Ja da... Da war ich bei... Bei Lenny Tadfield", fiel ihr wieder ein. ,,Wir haben gemeinsam gegessen."
,,So spät?", fragte John skeptisch, worauf sie mit einem zustimmenden ,,Mmh" antwortete.
,,Was gab es?", fragte Sherlock.
,,Was meinen Sie?"
,,Zu Essen. Was gab es zu Essen?"
,,Penne Cabonara", erwiderte sie mit einem unsicheren Gesichtsausdruck.
,,Sicher?", fragte John skeptisch und Mrs. Lengston nickte.
In diesem Moment kam Miller zu den dreien. ,,Jetzt erlaube ich mir mal, diese Befragung zu beenden. Gute Nacht, Mrs..." Er sah auf das Klingelschild. ,,...Lengston."
Er zog die Haustür zu und verschloss sie somit direkt vor der irritierten Hausbesitzerin. ,,Lenny war es nicht", sagte er dann.
,,Haben Sie Brook erreicht?", fragte Sherlock.
,,Nein, aber mir ist etwas eingefallen. Er hat mir mal erzählt, dass er eine Phobie vor alten Lagerhäusern hat, und eine starke Allergie gegen Kakteen, aber das trägt jetzt nichts zur Sache bei. Er konnte gar nicht zum Tatort gelangen!"
,,Und das glauben Sie ihm?", fragte Sherlock skeptisch.
,,Lenny mag merkwürdig sein, aber er ist ein guter Kerl", erwiderte Miller.
,,Was hat die Befragung mit ihr ergeben?" Er deutete auf die Haustür.
,,Sie war aufgeregt, aber ich denke wirklich, dass sie gestern in seinem Haus war."
,,Lassen Sie uns zurück zu Ihrem Hotel laufen. Es ist nicht weit und mein Haus liegt auf dem Weg", schlug Miller vor und lief vor. Die beiden anderen folgten ihm, wenn auch leicht irritiert.
______
Wenig später kamen sie an Millers Haus an. Es hatte zwei Etagen und wirkte, im Gegensatz zu den anderen Häusern im Umfeld, eher modern. Es hatte großzügige Fenster und alles wirkte gepflegt.
,,Meine Frau meinte, dass ich Sie zum Essen einladen sollte. So unter Kollegen", erklärte der D.I. unsicher. Unbehaglich trat er von einem Bein auf das andere und schaute die beiden Freunde abwartend an. Er räusperte sich. ,,Äh- Haben Sie jetzt noch etwas vor? Wissen Sie schon, wo Sie etwas essen?"
John sah Sherlock kurz an. ,,Nein, gerne, wir nehmen die Einladung gerne an." Die besondere Betonung des Satzes spiegelte zum Einen die eigenartige Situation wider und wies zum Anderen Sherlock zurecht, der von dem Vorschlag weniger überzeugt zu sein schien.
,,Okay, dann... Kommen Sie doch einfach mit rein." Er deutete auf seine Haustür hinter sich.
Als die drei eintraten, hängte der D.I. seinen Mantel an die Garderobe, die direkt links neben der Tür war. Sherlock und John taten es ihm gleich. ,,Schatz, ich bin zu Hause und habe den Besuch mitgebracht", rief Miller und sogleich kam aus dem Nebenraum auf der rechten Seite eine kleine braunhaarige Frau mit einem ordentlichen Zopf und einem freundlichen Lächeln.
,,Hallo." Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und gab ihrem Mann einen liebevollen Kuss. Dann wandte sie sich an die beiden Besucher. ,,Sie sind also Sherlock und John, schön Sie kennenzulernen. Ich bin Lousian." Sie gab den beiden höflich die Hand und deutete ihnen mit ihr mitzukommen.
Im Wohnzimmer nahmen die drei Männer an einem großen Tisch Platz, Sherlock und John auf der einen Seite, Miller gegenüber. ,,Das Essen ist gleich fertig. Bloß nicht über die Arbeit reden", lächelte Lousian und verschwand wieder im Nebenzimmer, vermutlich der Küche.
Es herrschte eine merkwürdige Stille im Raum, was Sherlock aber nicht aufzufallen schien, da er damit beschäftigt war, sich den Raum genauer anzusehen. Er sah sich von seinem Platz aus einige glückliche Familienfotos an, einige Auszeichnungen, die an der hellgelben Wand hingen, und das Spielzeug, das in einer Ecke des Raumes lag. Er blieb an einem alten Schrank hängen, dessen dunkles Holz kunstvoll geschnitzt war. Darin stand eine gläserne Uhr mit goldenen Zeigern, die mit ihrem Ticken dem Raum einen Takt verlieh, den der Detektiv gerne annahm, um sich weiter umzusehen.
,,Lassen Sie das", sagte der D.I. nach einer Weile, sichtlich angespannt, worauf Sherlocks nachdenklicher Blick nun zu ihm herüber striff.
Er wollte gerade etwas erwidern, da kam Lousian wieder und stellte einen dampfenden Topf auf den bereits gedeckten Tisch. ,,Jim, kommst du bitte?", rief sie dann und setzte sich zu den Männern an die Stirnseite des Tisches.
Sherlock und John hielten die Luft an. Jim? Wer würde jetzt den Raum betreten? Ihre Blicke waren starr auf die Tür gerichtet.
Ein kleiner Junge tauchte nur Sekunden später im Türrahmen auf, ging auf den Tisch zu und setzte sich gegenüber von Sherlock, neben seinem Vater auf den Stuhl. Seine hellen Locken wippten bei jeder Bewegung und seine blauen Augen strahlten eine unglaubliche Fröhlichkeit aus.
Die beiden Freunde beruhigen sich wieder, auch wenn sie es nicht unterlassen konnten, sich gegenseitig kurze Blicke zuzuwerfen, die vor allem von John unsicher wirkten.
______
,,Ich hoffe Ihnen schmeckt das Essen", sagte Lousian irgendwann, um die Stille zu brechen.
,,Oh es ist sehr gut", erwiderte John aufrichtig.
,,Ich habe Ihren Blog gelesen. Er scheint ganz besondere Fähigkeiten zu haben", sagte sie und deutete dabei auf Sherlock, der gerade mit Jim herumalberte.
John überraschte sein Verhalten und als er kurz zu dem D.I. herüberschaute, schien auch diesem ein kleines Lächeln über die Lippen zu wandern. Was für ein ungewöhnliches Bild.
,,Ja, er ist außergewöhnlich", antwortete er auf Lousians Aussage.
,,Was bringt Sie hierher nach Northampton? Es ist ziemlich weit entfernt von London und ich bin mir sicher, dass sie dort genug Arbeit haben", bemerkte sie.
,,Sherlock sucht sich immer die intere- also die kuriose-... Die schwierigsten Fälle heraus", erwiderte John und räusperte sich unsicher. ,,Außerdem scheint es eine Verbindung zu einem Fall in London zu geben", fuhr er fort.
,,John, wir sollten nicht zu viel verraten", mischte sich nun Sherlock ein, woraufhin Lousian verständnisvoll nickte.
,,Ich verstehe. Wir sollten sowieso nicht so viel über die Arbeit reden, schließlich sind Sie unsere Gäste."
,,Mr. Holmes!", rief Jim nun, sodass alle Aufmerksamkeit auf ihm lag. ,,Erzählen Sie mir noch eine Ihrer coolen Geschichten?"
John sah seinen Freund wütend an. ,,Sherlock, was haben Sie ihm erzählt?", fragte er dann, jedoch im Flüsterton.
,,Vielleicht das nächste Mal", antwortete Sherlock erst Jim, bevor er seine Stimme wieder senkte und sich John zuwandte: ,,Nichts all zu schlimmes. Nur von dem Fall mit dem Elefanten im Raum."
,,Aber Sie haben doch hoffentlich die Sache mit dem zertrümmert Schädel weggelassen?!", fragte John erschrocken, wobei er ein klein wenig lauter wurde.
Da unterbrach Lousian plötzlich das Gespräch der beiden: ,,Wer möchte Nachtisch? Ich habe Crème Brûlée gemacht."
Jim war der erste, der antwortete: ,,Ich!"
,,Dann musst du aber auch mit tragen helfen", erwiderte seine Mutter und nahm ihn an die Hand, bevor er von seinem Stuhl herunterrutsche und ihr in die Küche folgte.
,,Sie haben Ihren Sohn Jim genannt?", fragte John nun an Miller gerichtet.
,,Eigentlich heißt er Jamie, aber wir rufen ihn Jim", erklärte dieser.
,,Könnten wir vielleicht diesen Abend bei 'Jamie' bleiben?", fragte John, fasste sich in den Nacken und sah Sherlock an. ,,Das würde unsererseits einiges vereinfachen."
,,Okay, in Ordnung..." Miller sah die beiden fragend an.
______
Der Abend verlief noch sehr angenehm, die Stimmung lockerte sich mit der Zeit auf und es wurde auch ein wenig gelacht.
Erstaunlicher Weise war es weit nach Mitternacht, als sich Sherlock und John verabschiedeten und letzterer hatte das Gefühl, dass nicht nur ihm das Essen gefallen hatte. Sherlock wirkte ungewöhnlich beschwingt und wollte gar nicht nach Hause.
,,Was ist denn zur Zeit mit Ihnen los? Sie sind so ausgelassen", stellte John auf dem Rückweg zum Hotel schmunzelnd fest.
,,Es ist dieser Fall, John. Dieser Fall", antwortete Sherlock und wirbelte über den Weg, sodass sich sein geliebter schwarzer Mantel auffächerte. ,,Er fordert mich endlich wieder heraus. Er hat diese Stadt extra ausgesucht, in der so viel zusammenpasst, aber gleichzeitig nichts."
,,Er?", fragte John irritiert und die Erkenntnis, die nur wenige Sekunden später folgte, ließ seinen Gesichtsausdruck erkalten. ,,Sherlock Holmes, Moriarty ist tot."
,,Woher nehmen Sie die Sicherheit?", fragte Sherlock provozierend. ,,Waren Sie dabei? Auf dem Hausdach meine ich, als er sich die Pistole in den Mund hielt und..." Er machte einen Satz auf John zu. ,,...abdrückte!"
John zuckte zusammen. ,,Nein." Er schüttelte den Kopf.
,,Nein. Aber Sie waren dabei, als ich anschließend vom Dach sprang. Mehrere Stockwerke in die Tiefe. Und dann war ich tot. Und sehen Sie, hier stehe ich." Sherlock drehte sich um die eigene Achse.
,,Wie viel Scotch hat Lousian Ihnen eingefüllt?", fragte John, doch man konnte einen beleidigten Unterton heraushören, den er immer hatte, wenn er daran dachte, dass Sherlock ihn zwei Jahre lang weiß gemacht hatte, dass er tot wäre.
,,Mmh... Fünf? Sechs? Mir geht es gut." Sherlock lief in die Mitte der kleinen, so gut wie gar nicht befahrenen Straße, die sich neben ihnen befand.
,,Was haben wir? Zwei Leichen, keine Gemeinsamkeiten. Was sagt uns das über den Mörder aus?"
John wollte gerade antworten, da unterbrach ihn Sherlock: ,,Ihm ist es egal, wen er tötet. Vielleicht ein Auftragskiller?" Er machte eine kurze Pause. ,,Eine unfähige Polizei und ein Ermittlungsleiter mit Geheimnissen. Eine Affäre des ersten Opfers, von der offenbar niemand wusste, ein wütender Freund... Und Richard Brook? Was für ein Zufall soll das bitte sein?"
,,Was ist mit Jim? Also... Jamie?", warf John ein, doch Sherlock sprach einfach weiter: ,,Eine Zeugin, die aus mysteriösen Gründen im Koma liegt und dann dieses Lied... Stayin' Alive. Moriarty mochte es. Ach und... Ich habe recherchiert, John. Goldburgh hat keine Verwandten. Gar keine. Nicht mal Freunde! Er war das Experiment, verstehen Sie? Ein Test!"
,,Da kommt ein Auto, Sherlock", wies John ihn auf einen langsamen silbernen Wagen hin. Angesprochener kehrte zurück auf den Gehweg. Die beiden liefen weiter.
,,Tadfield, die Nachbarin... Wer, denken Sie, war es?"
,,Ich finde, der D.I. benimmt sich sehr merkwürdig", erwiderte John unsicher.
,,Sind Sie sicher? Oder will er einfach nur sicher gehen, dass die Idioten von der Spurensicherung nicht noch mehr Hinweise zerstören? Und der Name seines Sohnes? Wussten Sie, dass James auf dem zwölften Platz der beliebtesten Vornamen in England ist? Jim kommt da einher. Dieser Fall John, er ist das, auf das ich seit zwei Jahren gewartet habe. Ich habe endlich die Möglichkeit zu beweisen, dass Moriarty überlebt hat."
,,Er lebt nicht mehr!", erwiderte John.
,,Wissen Sie es, oder wollen Sie es nur?", fragte Sherlock.
,,Wollen Sie es?", entgegnete John. ,,Warum wollte Miller, dass wir in die zweite Etage des Gebäudes gehen? Wusste er, dass da oben etwas ist? Wollte er, dass wir sein Werk sehen?", fuhr er dann skeptisch fort.
,,Ich sehe, Sie schießen sich auf einen Verdächtigen ein. Der Mörder musste das Haus gekannt haben, sonst wäre er, wie Miller, in die morsche Stufe eingebrochen. Die ganze Stadt kommt als Tatverdächtige in Frage."
,,Und ich sehe, dass sie einen Verdächtigen zu sehr bewundern, um ihn als solchen zu erkennen. Vielleicht ist er ja mit Absicht eingebrochen? Schließlich hat er uns auch von der Befragung mit Mrs. Lengston abgehalten."
Sherlock schüttelte den Kopf. ,,So wie wir es vorher bei ihm getan haben?"
,,Wie Sie es getan haben", antwortete John.
,,Es war nur etwas Rache", erklärte Sherlock.
,,Polizeibeamte sollten sich nicht rächen. Und seinen Sohn 'Jim' zu rufen?" Jetzt war John es, der seinen Kopf schüttelte. ,,Das ist kein Zufall."
,,Ich denke, es ist besser, wenn wir schlafen gehen", erwiderte Sherlock.
Inzwischen standen sie schon vor ihrer Zimmertür im Hotel. John hatte in ihrem Gespräch gar nicht mitbekommen, dass sie schon da waren.
,,Gut, diesmal schlafen Sie auf dem Sofa", beschloss John und Sherlock war nicht danach weiter zu diskutieren, zum Wunder des Kleineren.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top