-~4~- Und Sie wussten das?

Sherlocks Handy klingelte plötzlich, worauf Richard leicht zusammenzuckte.
John sah auf das Display des Handys, das sein Freund nun in der Hand hielt. Die Nummer war unterdrückt und John beschlich ein merkwürdiges Gefühl.
Unbeirrt drückte Sherlock auf 'annehmen' und stellte sein Handy auf laut, sodass alle mithören konnten.

Doch nur Stille war zu vernehmen. Eine bedrückende, langanhaltende Stille.

,,Hallo?", fragte der Consulting Detective.

Ein zitterndes Ein- und wieder Ausatmen durchbrach das Schweigen auf der anderen Seite der Leitung. Es war nur ein leiser Lufthauch, doch flutete den Raum, als wäre es ein vernichtender Orkan.
,,Schon mehr als ein Tag um und immer noch keine Hinweise. Ich bin enttäuscht, Sherlock", sagte dann eine angstverzerrte, verweinte Stimme.
,,Rose?", fragte Sherlock und hielt Richard dabei davon ab, etwas zu sagen, indem er seinen Zeigefinger anhob.
,,Sie sind doch nur gewöhnlich. Gewöhnlich, gewöhnlich. Dann muss ich Ihnen eben einen Hinweis geben", sprach Rose weiter. ,,Suchen Sie doch mal in alten Lagerhäusern oder Fabriken, wie im Film." Roses Stimme wurde bei den letzten Teil des Satzes eine Oktave höher. ,,Mir ist laaaaaangweilig." Dann legte sie auf.

Sherlock schossen in diesem Moment tausende Fragen durch den Kopf. Er hörte gar nicht die besorgten Bemerkungen seiner Mitmenschen.
Wie weit konnte Moriarty vorausplanen? Sein Netzwerk war offenkundig noch aktiv, aber saß die Spinne auch noch in dessen Zentrum? Hatte das Spiel wieder begonnen?

,,Wir sollten tun, was er gesagt hat", beschloss er dann.
,,Er?", fragte Richard verwirrt.
,,Ihr Entführer hat sie gezwungen, das zu sagen", erklärte Sherlock kurz angebunden. ,,Wie er damals", murmelte er leise, sodass er es wahrscheinlich nur gehört hatte.

______

,,Ich weiß, dass Sie denken, dass er es war", sagte John, als sie wenig später in einem Taxi saßen und zum Stadtrand fuhren.
Sherlock hatte kurzerhand alle leerstehenden Fabrikräume in der Umgebung gegoogelt und systematisch ausgeschlossen. Es war das einzige verlassene Gebäude in der Nähe, in dem in den letzten Tagen die Heizung lief, was er über den Gasanbieter der Stadt erfahren hatte.
,,Aber Moriarty hat sich nie wiederholt, das wäre untypisch für ihn. Wahrscheinlicher ist, dass es ein Trittbrettfahrer ist", fuhr John fort. Sherlock dachte über Johns Einwurf nach.
,,Oder er will, dass wir das glauben", bemerkte er dann.
John rollte mit den Augen. ,,Sherlock, ich weiß, dass Sie es gerne so genial haben würden, aber Moriarty ist tot." Sherlock nickte langsam. Doch John bekam das Gefühl nicht los, dass er ihm damit nicht zustimmen, sondern eher seine eigene These bestätigen wollte.

Das Taxi hielt und die beiden stiegen aus. Die Autotüren fielen leise und fast zeitgleich zu. Es war mittlerweile dunkel geworden und der Wind zog kühl durch die Straßen. Nur der Mond und das fahle Licht einiger Straßenlaternen leuchtete ihnen. Vor ihnen erhob sich ein altes Fabrikgebäude mit eingeworfenden Fenstern und einem eingefallen Dach. Pflanzen wucherten an einigen Stellen aus den Lücken zwischen den Backsteinen und ein rostiger Zaun umgab das Grundstück.

Neben den beiden Freunden hielt ein Polizeiwagen und D.I. Miller und ein weiterer Streifenpolizist kamen aus dem Auto gestürzt.
,,Beeilung! Sie ist da drin!", rief der D.I. Sherlock und John zu, die überrascht waren, dass er bereits Bescheid wusste.

Zu viert beeilten sie sich zu dem Gebäude zu kommen.
Zusammen stemmten sie die alte Eisentür auf und betraten das verfallene Gebäude. Es stank fürchterlich nach Tierexkrementen und verwesendem Fleisch. Spinnenweben behingen sämtliche übriggebliebene Möbel und eine dicke Staubschicht bedeckte alles. Die einzigen staubfreien Stellen waren dort, wo Fußspuren zu sehen waren. Sie waren wild durcheinander, hatten aber alle die gleiche Größe, als wäre jemand nervös im Raum auf und ab gegangen.
Die vier durchsuchten die wenigen großzügigen Räume und fanden Rose relativ schnell, dank der Spuren.

Sie saß angelehnt an einer der dreckigen Wände, ihre Augen waren glanzlos und weit aufgerissen. Ihre Haare waren zerzaust und an ihrem Hals waren dunkle Male.
John eilte sofort zu ihr und hockte sich hin. Die anderen folgten ihm ebenfalls schnellen Schrittes.

,,Sie ist tot, scheinbar wurde sie erwürgt", stellte der Arzt niedergeschlagen fest.
,,Aber sie ist noch warm. Der Mörder ist noch in der Nähe", flüsterte Sherlock, der Roses Handgelenk berührte.
,,Soll ich einen Krankenwagen rufen?", fragte der Polizist besorgt.
,,Machen Sie das, auch wenn ich befürchte, dass er nicht mehr viel ausrichten kann", erwiderte der D.I.

Da knallte es im Nebenraum. Die vier Männer sprangen ruckartig auf. ,,Sie bleiben hier", wies der D.I. den Polizisten an.
,,Sie auch", sagte Sherlock zu Miller. John sah ihn verwirrt an.
,,Kommt nicht in Frage!", erwiderte der D.I.

Die drei rannten los, ins Nebenzimmer, durch das offene Fenster, raus auf die riesige Wiese, die sich hinter dem Haus erstreckte. Kurz hielten sie inne. Eine schwarze Gestalt eilte einige Meter vor ihnen durch das hüfthohe, von Dunkelheit durchflutete Gras.
Der D.I. zog seine Waffe und rannte wieder los. ,,Stehen bleiben! Polizei!", rief er der Person lautstark zu.

Die drei machten einen schnellen Sprint hinter ihr her, bis in den Wald, der hinter der Wiese begann. Das Gras hinterließ dabei viele kleine Schnitte in ihrer Haut.
Sherlock und John überholten Miller im Wald, sie hatten bereits ihre Taschenlampen angemacht und konnten sehen, wo sie hinliefen. Die Bäume waren riesig und es gab nur wenig Unterholz, sodass die Männer freie Bahn hatten. Sie konnten einen Mann erkennen, der von ihnen wegrannte. Er trug eine dunkelgraue Jacke, war breit gebaut und hatte sich die Kapuze übergezogen.

Der D.I. fiel immer weiter zurück, bis Sherlock und John ihn nicht mehr sehen konnten.
Doch erst als sie einen dumpfes Echo eines Schlages weit hinter sich hörten, blieben sie stehen.
,,Miller?", rief John in die Nacht hinein, doch es kam keine Antwort. ,,Miller?", wiederholte er sich und sprintete dann hinter Sherlock zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Sie fanden den Braunhaarigen auf dem Boden liegend.

,,Laufen Sie weiter", murmelte er leise. Er lag auf dem Laubboden. ,,Fangen Sie ihn."
,,Und lassen Sie hier liegen?", fragte John skeptisch. Die beiden sahen auf ihn hinab.
,,John, suchen Sie in seiner Jackentasche nach Herztabletten. Er braucht sie jetzt", meinte Sherlock.
Der Arzt tat, wie ihm geheißen und gab Sherlock das kleine orange Röhrchen.
,,Er hat ein schwaches Herz?", fragte er jedoch erstaunt und schaute den am Boden liegenden an. ,,Dann sind Sie gesundheitlich nicht geeignet für Ihren Job."
Der D.I. winkte schwach ab und schluckte die Tabletten, die der Detektiv ihm gegeben hatte.
,,Diesmal hatten Sie Glück. Was wäre, wenn wir nicht so schnell wiedergekommen wären?" Er half Miller beim Aufstehen und dieser putzte sich den Dreck von seinem Anzug, während er den beiden einen wütenden Blick zuwarf.
,,Ein Danke hätte ausgereicht. Sind Sie deswegen versetzt worden?", fragte John weiter.
,,Können Sie auch mal die Klappe halten?", zischte Miller gereizt.
Jetzt wandte sich John an Sherlock: ,,Und Sie wussten das?"
,,Es war offenkundig."
,,Und haben nichts gesagt?" John schüttelte den Kopf.
,,Hören Sie, Sie sind Arzt. Sie unterliegen der Schweigepflicht", sagte Miller mit zusammengebissenen Zähnen.
,,Sie sind nicht mein Patient", erwiderte John.
,,Wenn Sie etwas sagen, wird mir der Fall entzogen", erwiderte Miller und in seinen Augen flackerte fast soetwas wie Verzweiflung auf. ,,Und nicht nur der Fall, ich kann den ganzen Job an den Nagel hängen."
,,Also gut", gab sich John geschlagen.

______

Auf dem Rückweg zum Fundort der Leiche, wieder quer über die Wiese, fiel John dann doch noch etwas ein: ,,Sie wissen aber, dass Sie sich operieren lassen könnten."
Der D.I. nickte. ,,Vielleicht mache ich das, wenn der Fall gelöst ist. Das Risiko ist einfach zu groß, dass ich nicht wieder aufwache. Dann will ich es geschafft haben." John nickte nachdenklich. Es hatte inzwischen angefangen leicht zu regnen und die Nässe zog sich an der Kleidung der drei Männer hinauf.

Sherlock war die ganze Zeit schweigend neben den beiden hergelaufen, doch jetzt ergriff er das Wort: ,,Woher wussten Sie eigentlich, dass Rose in dem Fabrikgebäude ist?"
,,Ich habe einen Anruf einer Anwohnerin bekommen, dass Personen in dem Haus wären", antwortete Miller.
,,Nichts ungewöhnliches", warf John nun auch skeptisch ein. ,,Wie konnten Sie sich so sicher sein?"
Der D.I. hob eine Augenbraue. ,,Nun, Schreie sind schon ziemlich eindeutig." Er machte eine kurze Pause. ,,Ich bin Ihnen nicht verpflichtet alle Einzelheiten über die Ermittlung zu unterbreiten."
,,Es wäre aber vorteilhaft, für Sie und alle Beteiligten", erwiderte Sherlock skeptisch.

Das Klingeln eines Telefons unterbrach die Diskussion. Es war das Telefon von Miller. Sherlock erhaschte einen Blick auf das hell leuchtende Display. 'Lousian' stand darauf.
,,Meine Herren, ich habe wohl einen Termin vergessen. Ich glaube, dass Sie allein den Weg zum Tatort zurückfinden. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir morgen etwas über Ihre Ergebnisse berichten könnten." Damit schlug er einen anderen Weg ein und verschwand nach einigen Metern hinter dem nächsten Gebäude.

John seufzte. ,,Wow. Aber wir müssen ihm alles berichten", sagte er, als der D.I. außer Hörweite war.
,,Dazu sind wir auch verpflichtet, John", erwiderte Sherlock, worauf John nur verständnislos mit dem Kopf schüttelte. Er konnte nicht verstehen, warum sein Freund diesen mies gelaunten, unfreundlichen Griesgram so tolerierte. Wer weiß, was das Leben ihm getan hatte.
Aber eigentlich war ihm das in diesem Moment egal, denn er wollte einfach nur seine Klamotten wechseln und so der unangenehmen Nässe entkommen.
Trotzdem gingen die beiden weiter zurück zum Fabrikgebäude, um sich den Tatort genauer anzuschauen, denn Sherlock schien dieses unbehagliche Gefühl über seine Euphorie zu vergessen.

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