☽|Kapitel 11
Ich ziehe mir ein lockeres Kleid über meinen Bikini und stecke eine Sonnenbrille auf meinen Kopf, als ein lautes Hupen ertönt.
Schnell schnappe ich mir meine Strandtasche und gehe raus. In unserer Auffahrt steht ein Auto. Es ist nicht das blaue Auto von Valerio, und erst recht nicht Valentinas weißer Mini Cooper. Meine beste Freundin steigt mit einem riesigem Sonnenhut auf dem Kopf aus und kommt auf mich zu. „Es tut mir leid. Valerio hat gesehen, dass ich die Sonnencreme aus dem Badezimmer genommen habe. Plötzlich stand er so vor mir und hat mich gezwungen ihn mitzunehmen! Ich konnte es nicht verhindern", sagt sie und zeigt hinter sich. Valerio lugt aus dem Schiebedach hervor. Triumphierend hält er die Hände hoch.
Ein schiefer Fischerhut sitzt auf seinem Kopf. Er trägt ein buntes Blümchenhemd, welches aufgeknöpft ist und ein freie Sicht auf seinen entblößten Oberkörper gewährt.
„Und was macht er hier?", frage ich sie leise und deute auf Enrico hinter dem Steuer.
„Ich hab keine Ahnung", gibt sie genau so leise zurück, „Wahrscheinlich hat Valerio es ihm gesagt." Ich stehe weiter in unserem Vorgarten rum und beobachte Enrico, der stur auf das Lenkrad guckt. Ich weiß gar nicht, wie ich mich jetzt verhalten soll. Vermutlich ist es das beste, wenn ich ihn für heute ignoriere. Etwas anderes wird er bestimmst auch nicht machen.
„Steig ein, Sonnenschein!", ruft Valerio, winkt und setzt sich zurück auf den Beifahrersitz. Ich nehme auf dem Rücksitz Platz und werde direkt von dem mir bekannten Duft eingehüllt. Valerio dreht die Musik lauter und erfüllt das ganze Autoinnere mit seinen ausgelassenen Tanzmoves. Valentina zückt ihr Handy und filmt mit schallendem Lachen die Vorführung. Enrico ist der Einzige, der nur grimmig vor sich hin vegetiert und sich ausschließlich aufs Fahren konzentriert.
Wir steigen einige Minuten später am Strand aus dem Auto und werden von der Hitze erdrückt. Enrico schlägt geräuschvoll die Tür zu, schiebt sich eine Sonnenbrille auf die Nase und holt mit zusammengezogenen Augenbrauen Taschen aus dem Kofferraum. Ich kann ein Seufzen nicht unterdrücken. „Warst du schon mal hier?", fragt Valerio mich, als ich mich neugierig umschaue, und holt zwei Sonnenschirme aus dem Auto. Eine lange Straße führt an den ganzen Geschäften und Autos zu einem Abhang. „Nein, noch nie." Wir mussten nur 20 Minuten mit dem Auto fahren, und ich fühle mich schon, als hätte ich die Bundesstaatsgrenze überschritten, weil mir alles hier so neu vorkommt.
Valentina zieht mich euphorisch den sandigen Weg mit den Palmen entlang, ehe wir die Treppe an der Klippe runtergehen. Das Geräusch der Wellen, die mit voller Wucht gegen Felsen peitschen, klingt in meinen Ohren.
Aus der Ferne hört man leise Musik. Zac kommt auf uns zu gesprintet. „Schön, dass ihr hier seid", flötet er und streicht sich Sandkörner aus dem Gesicht. Valentina kann ihre Augen nicht bei sich lassen und nimmt seinen Oberkörper unter die Lupe. Ich ramme ihr meinen Ellbogen in die Seite, woraufhin sie aufkeucht, und grinse Zac an, der nichts mitbekommen hat. Ein Poltern ertönt hinter uns. „Mein Bruder wollte unbedingt mitkommen", sagt sie entschuldigend.
„Schon gut. Kommt!" Wir folgen ihm und werden von Valerio mit seinem Sonnenschirm überholt. Ich drehe unbemerkt meinen Kopf. Enrico läuft mit viel Abstand hinter uns und hält den zweiten Schirm. Durch die getönte Sonnenbrille kann ich nicht sehen, wohin er guckt.
„Wie wär's mit einer Runde Volleyball?", fragt Zac, als wir unsere Handtücher ausgebreitet haben. Gedankenverloren nickt Valentina und folgt ihm zu einem Volleyballnetz.
„Hey", ertönt es neben mir. Kurz habe ich gehofft, dass es Enrico ist, doch verwerfe den Gedanken schnell wieder. Ich drehe mich um und begegne dunklen Augen. So schnell wie möglich ordne ich seinem Gesicht einen Namen zu. „Chase, richtig? Du warst doch letzten Samstag auch auf dem Geburtstag! Ich... war auf deinen Schultern." Er nickt schmunzelnd, als ich meinen Blick beschämt abwende. Ich habe nicht damit gerechnet, ihn jemals wiederzusehen. Aber er scheint ganz nett zu sein – denke ich.
„Genau der bin ich. Was machst du hier?" Ich zeige nur auf meine beste Freundin, die mit Zac davon läuft. Er lacht kopfschüttelnd, bevor er sich räuspert.
„Die anderen kommen gleich noch nach. Lass uns spielen", sagt er und zuckt mit den Augenbrauen. Ich atme hörbar aus und folge ihm zum sandigen Sportplatz, welcher in der prallen Sonne steht.
„Aaliyah, komm verdammt noch mal aus dem Schatten raus!", ruft Valentina zum x-ten Mal und rauft sich die Haare. „Es ist viel zu heiß, um jetzt Volleyball zu spielen!" „Ich glaube, sie ist ein Vampir", äußert sich Valerio und stellt sich neben mich. Seine Wangen sind tiefrot, als er die Nase kräuselt und mich verschwörerisch anblickt.
„Ich bin kein Vampir, Valerio." Kopfschüttelnd zeigt er auf mich und sagt: „Das ist genau das, was ein Vampir sagen würde!" Ich trete lachend aus dem Schatten hervor in den brennenden Sand und spüre jetzt schon, wie sich Schweiß auf meiner Haut bildet.
Eigentlich mag ich kein Volleyball. Als ich es einmal versuchte habe, habe ich mir beinahe meine Handgelenke und Finger gebrochen, und meine Unterarme waren ganz rot. Egal, welche Technik ich benutzt habe, es tat einfach nur weh. Aber das ist schon länger her, mittlerweile müsste ich mich etwas besser anstellen. Nachdem Valentina mich mit dem Basketballspielen vertraut gemacht hat, habe ich es auch sehr gemocht. Dann wird es hier wohl nicht anders sein. Manchmal muss man eben ins kalte Wasser springen, um Glück zu finden, und sein Leben zu bereichern.
Nach einem kurzem Spiel, bei dem ich zum Glück nicht sonderlich viel Ballkontakt hatte, lege ich mich auf ein Handtuch in den hellen Sand. Ein Schirm liegt unaufgeschlagen neben unseren Handtüchern. Der Strand ist unbeschreiblich schön. Ich hatte gedacht, alles Schöne ist tausende Kilometer von mir entfernt. Allem Anschein nach ist Glück und himmlisches doch nicht so fern – es ist beinahe direkt vor meiner Haustür.
„Wie findest du es hier?", höre ich eine sanfte Stimme fragen. Ohne die Augen zu öffnen weiß ich, dass es Valentina ist. „Entspannend", lautet meine schlichte Antwort. Kurz lausche ich den brechenden Wellen und atme die frische Meeresbriese ein, ehe ich die Augen öffne und mich umschaue. Lächelnd betrachtet Vale ihren Bruder, der sich ein paar Meter entfernt seinen kleinen Platz einrichtet. Er steckt einen Sonnenschirm in den Boden und setzt sich auf eine Decke, bevor er Sonnencreme aus seiner Tasche kramt und den Hut auf seinem Kopf zurechtrückt.
„Wie ist es eigentlich, einen Zwilling zu haben?" An so etwas habe ich wirklich noch nie gedacht, und möchte von ihr hören, wie es ist. Ich kann es mir gar nicht vorstellen. Ich habe zwar Geschwister, doch denke ich, dass ein Zwilling noch etwas anders ist. Valentina pustet ihre Wangen auf, bevor sie seufzend die Luft rauslässt. „Man ist nie alleine", antwortet sie und hebt unwohl die Schultern.
Ich weiß, dass sie noch nicht mit dem Reden fertig ist.
„Ich liebe meinen Bruder von ganzem Herzen, natürlich. Er ist wie mein Spiegelbild – oft etwas beängstigend. Aber manchmal frage ich mich, wie es wäre, wenn ich ihn nicht hätte. Wenn ich ein Einzelkind wär. Es gibt beinahe keine Sekunde, die ich nur für mich habe – ein Fluch und Segen gleichzeitig. Egal wohin ich gehe, er ist auch dort. Es gibt nichts, was ich wirklich nur mein nennen kann, er hat immer dasselbe wie ich. Sei es irgendein Auto, ein bestimmtes Buch oder anderes Materielles. Wir teilen uns alles und... passen auf den anderen auf." Vorsichtig zucken ihre Mundwinkel. So habe ich das nie betrachtet. Es ist bestimmt auf Dauer anstrengend, die männliche Version von einem selbst pausenlos um sich rum zu haben.
„Dafür, dass ihr euch häufig auf die Nerven geht, steht ihr euch trotzdem ziemlich nah."
Valentina lächelt und entgegnet: „Ich könnte niemals ohne ihn leben. Auch wenn wir oft Abstand brauchen und nicht lange im gleichen Raum sein können, gibt es vielleicht nur drei Tage in den letzten siebzehn Jahren, die wir wirklich getrennt verbracht haben." Sie schaut in die Ferne und scheint in Gedanken zu schwelgen.
Einige Minuten später gabelt Zac sie auf und zieht sie ins Wasser. Ich entscheide mich dazu, noch weiter im Sand zu liegen und die spätsommerliche Wärme im Gesicht zu spüren. Ich öffne kurz die Augen und zucke zusammen. „Du hast mich zu Tode erschreckt", murmle ich und lege meine Hand auf mein Herz. Monoton mustert Enrico mich und steht regungslos vor mir.
„Ist was?" Er hält die Sonnenbrille in seiner Hand etwas fester.
Dann nicht.
Ich knie mich hin und schaue auf den Schirm neben mir. Alleine bekomme ich das niemals hin. Ich zögere einen Moment, und schaue dann zu ihm hoch. „Kannst du mir vielleicht kurz helfen?", frage ich, deute auf den Sonnenschirm und halte eine Hand, vor der Sonne schützend, über meine Augen. Er sagt nichts und geht einfach. Wow. Sehr hilfsbereit ist er.
Mit verschränkten Armen lege ich mich zurück auf mein Handtuch, versuche die stechende Hitze der Sonne zu genießen.
„Ich glaube, du hast die Voraussetzungen von einem Strandtag nicht ganz verstanden." Die Sicht hinter meinen geschlossenen Augenlidern verdunkelt sich. „Ist sich sonnen und entspannen verboten?", frage ich und öffne ein Auge. Chase nickt grinsend. „Wenn du mit uns hier bist - definitiv, ja." Als ich nichts darauf antworte und mich kein Stück rühre, fährt er unbeirrt fort und setzt sich neben mich in den Sand. Ich schließe wieder meine Augen und atme die salzig frische Meeresbriese ein. „Wie kannst du dich sonnen, wenn du immer noch angezogen bist? Es ist doch viel zu heiß, und das Wasser ist erfrischend." Ich spitze meine Lippen, doch sage nichts. Der Strand ist für meinen Geschmack noch viel zu überfüllt, und es fühlt sich an, als würden die Blicke hinter den ganzen getönten Scheiben mir gelten. Mich dann auszuziehen scheint mir ungünstig. Außerdem habe ich immer noch diese kleine Speckrolle an meinem Bauch, die mein brüchiges Selbstbewusstsein angreift.
„Aaliyah", zieht er meinen Namen mit tiefer Stimme lang. Ich seufze.
„Noch zwei Minuten", murmle ich. Ruckartig werde ich hochgezogen und über eine Schulter geschmissen. „Zwei Minuten sind viel zu lang." Mit jedem Schritt baumeln meine Arme hin und her. Krampfhaft versuche ich mich an ihm festzukrallen, um mein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Das Rauschen des Wassers wird immer lauter in meinen Ohren. „Wag es ja nicht, mich ins eiskalte Wasser zu werfen!" Sein ganzer Oberkörper vibriert unter mir. Er läuft immer weiter ins Meer, ehe ihm das kühle Nass bis zum Bauchnabel geht. Langsam rutsche ich von seiner Schulter und schlinge meine Arme um seinen Hals. Als mein Zeh das Wasser berührt, kreische ich auf und drücke mich an ihn.
„Ich hab noch mein Kleid an!", werfe ich ihn an den Kopf, doch er läuft nur mit mir an ihm hängend weiter. Ich fühle mich wie ein lästiger Blutegel, als er mich von ihm entfernt und ins Wasser schmeißt. Auf einen Schlag verstummen die Geräusche in meinen Ohren. Die vor Freude schreienden Kinder, das Plätschern und Rauschen, die Möwen, die Musik. Um mich herum herrscht Stille. Nichts als Stille. Ich öffne die Augen. Helle Sonnenstrahlen scheinen durch die Wasseroberfläche. Schwerelos treibe ich – ohne Boden unter den Füßen, ohne Decke über dem Kopf, und ohne Halt.
Ich tauche wieder hoch und mache mich dran, das Wasser aus meinen Ohren und meiner Nase zu schütteln, derweil ich Chase böse anblicke. „Das bekommst du zurück." Angestrengt versuche ich nicht zu ertrinken und strample mit den Füßen. „Das möchte ich sehen", antwortet er und verschränkt die Arme. Ohne sich strecken zu müssen schafft er es, hier zu stehen. Ein Nachteil davon, klein zu sein.
Etwas langes schlingt sich langsam um meinen Fuß. Instinktiv greife ich nach Chase.
„Da ist irgendetwas an meinem Fuß", flüstere ich und bleibe stocksteif stehen, wenn das im Wasser überhaupt möglich ist. „Aaliyah, warum flüsterst du? Es kann dich nicht hören."
„Es?! Wenn es ein Tier ist, werde ich ohnmächtig. Mach es weg!"
Er schüttelt grinsend den Kopf, zieht mich an sich und streckt sich zu meinem Fuß. „Warte! Was ist, wenn es giftig ist?" Das kratzige Gefühl verstärkt sich immer mehr. Chase schnalzt unüberzeugt mit der Zunge und taucht seine Hand unter.
Eine dunkle Alge steckt zwischen seinen Fingern, als er sie wieder hebt. Das unangenehme Gefühl ist verschwunden. Chase betrachtet das Grünzeug in seiner Hand. „Eine Pflanze – wie gefährlich. Sie sieht schon so bedrohlich aus, ich glaube sie wollte dich fressen." Er sagt die Worte so erstaunlich trocken, dass ich es ihm direkt als Wahrheit abkaufen könnte, ehe sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitet.
„Ich wollte nur testen, ob du mich retten würdest!", entgegne ich und entferne mich von ihm. „Natürlich." Chase folgt mir wieder Richtung Land.
Aus dem Meer ziehe ich mein nasses Kleid über den Kopf und wringe es aus. Ein Schwall Wasser strömt in den Sand vor mir. Ich versuche irgendwie meinen Körper zu verdecken und richte meine Bikiniträger.
„Hat es sich gelohnt mich ins Wasser zu tragen und zu riskieren, dass ich ertrinke oder von einer Alge angegriffen werden?", frage ich Chase und muss mir ein Lachen verkneifen. „Definitiv. Wenn du möchtest kann ich es wieder machen." Um seine Worte zu unterstreichen greift er nach meinen Beinen, doch ich weiche gekonnt aus. Es ist überraschend, dass ich mich in seiner Nähe bereits so wohl fühle. Eigentlich kenne ich ihn gar nicht. Bei Valerio hat es Wochen, vielleicht Monate gedauert, bis ich in seiner Gegenwart so gelöst und offen war, und mich durch seinen Humor kurz verlieren konnte.
„Möchtest du vielleicht mit zur Strandbar?" Ich schaue mich suchend nach den anderen um. Von Valentina und Zac keine Spur. Valerio sitzt mit irgendeinem Jungen, den ich nicht kenne, im Sand und unterhält sich. „Eigentlich...", fange ich an, doch halte inne. Ein paar Handtücher weiter steht Enrico zwischen einer Gruppe Mädchen. Er schiebt gerade die Sonnenbrille auf die Haare und zwinkert einer zu, ehe er seinen Kopf zu mir dreht. Scheußliches Gegacker dringt zu mir durch. Eine Sekunde zu lang verharrt sein Blick auf mir, bevor die getönten Scheiben den Kontakt durchbrechen.
Ein mulmiges Gefühl macht sich in mir breit. „Weißt du was? Warum nicht! Solange es dort Eis gibt, bin ich dabei." Chase entblößt eine weiße Zahnreihe und deutet mit dem Kopf in eine Richtung.
„Lass mich nur kurz mein Geld holen", sage ich und drehe mich um, doch werde rasch am Arm herumgewirbelt. „Wenn du bei mir bist, brauchst du kein Geld." Ich weiß nicht recht, wie ich seine Worte deuten soll und lasse mich einfach von ihm mitreißen.
Mit einem Schokoeis sitze ich auf einem Hocker und konzentriere mich auf den Wind, der meine Haut streift und sich den Weg durch meine Haare bahnt. Die Bar ist ziemlich leer dafür dass der Strand so überfüllt ist. Das gesamte Konstrukt besteht aus Bambusmöbeln, bunten Lichtern und einem Palmendach. Nicht zu vergessen der Boden aus goldenem Sand, in dem sich etliche Fußabdrücke abzeichnen. „Aaliyah, hörst du mir überhaupt zu?" Erschrocken drehe ich mich zu Chase. Er redet beinahe die ganze Zeit ohne Punkt und Komma. Es beängstigt mich, dass er so viel über mich weiß und während unserem Gespräch erwähnt, wenn ich doch nur seinen Namen kenne und mittlerweile weiß, dass er auch auf meine Schule geht. Komisch, dass ich ihn noch nie bemerkt habe. „Tut mir leid, ich war gerade in Gedanken. Was hast du gesagt?" Er senkt schmunzelnd den Blick auf sein grünes Eis. Ich möchte gar nicht erst wissen, was das für eine Sorte ist.
„Schon gut. Bist du immer noch nachtragend, weil ich dich nicht bezahlen lassen habe?", fragt er und stupst mich von der Seite an. „Ich hatte es schon fast wieder vergessen", gebe ich zurück und gucke ihn an. Erst jetzt fällt mir der dunkle Adler auf seiner Haut oberhalb seiner Shorts richtig auf. „Was bedeutet er?", frage ich unvermittelt und lege die Spitze meines Zeigefingers auf die großen prachtvollen Flügel. Durch meine plötzliche Berührung zuckt er zusammen. „E-Entschuldige", stammle ich leise und ziehe mich zurück.
„Der Adler steht für Macht und Freiheit." „Und dieses hier?", frage ich und deute auf das in seinem Nacken. Noch ein Vogel? „Ein Phönix – für einen Neuanfang", antwortet er und hält ein Grinsen zurück. „Du denkst, ich habe einen Vogel-Fetisch, nicht wahr?" „Ein bisschen."
Er lacht kurz auf, bevor der Ausdruck in Chase' Gesicht sich schlagartig verändert. Ein ungutes Gefühl macht sich in mir breit. „Warum hast du sie dir stechen lassen?", hinterfrage ich vorsichtig. Er wirkt wie jemand, der sich um alles Gedanken macht; so weit kann ich ihn bereits einschätzen. Bei ihm kann man sagen, dass sich ein riesen Haufen Wissen und Geschichte hinter Schönheit befindet.
Stumm hält er mir seinen Unterarm hin, den eine lange, schon verblasste Narbe ziert. Er hat doch nicht etwa...
„Oh", hauche ich und muss mich zusammenreißen, ihn nicht in eine Umarmung zu ziehen. Ich möchte ihn umarmen.
Scheint, als hätte uns das Schicksal irgendwie zusammengeführt.
„Es ist für mich schon weit in der Vergangenheit. Ich hatte die Chance neu anzufangen und habe sie ergriffen. Und jetzt sitze ich hier. Bei Sonnenuntergang am Strand – mit dir." Ich weiß überhaupt nicht, was ich darauf antworten soll und entscheide mich dazu zu schweigen.
Wie immer. Nervös zupfe ich an meinen Trägern herum.
Die untergehende Sonne spiegelt sich funkelnd auf dem Wasser wider. Ein paar letzte Möwen schwirren am rosa gefärbten Himmel.
„Ich glaube, es ist Zeit zu den anderen zu gehen", sagt Chase und blickt gedankenverloren in die Ferne. Ich nicke und starre ihn von der Seite an. Er wendet seinen Kopf zu mir und wartet einige Sekunden, ehe er anfängt zu reden. „Es war schön mal allein mir dir zu reden." Ich ziehe die Augenbrauen zusammen und höre jetzt schon die Stimme von Valerio in meinem Kopf, welche sich vergnügt über die Falten auf meiner Stirn lustig macht.
„Wie meinst du 'allein'?" Tonlos lacht Chase auf. „Sonst ist immer irgendjemand bei dir, man trifft dich selten alleine. Oder Enrico folgt dir auf Schritt und Tritt und blickt nur grimmig drein, damit sich gar keiner dazu entscheidet, auch nur in deine Richtung zu schauen." Mein Kopf braucht einen Moment, um seine Wort zu verarbeiten. Enrico tut was?
„Wie bitte?", frage ich ungläubig und hoffe, dass ich mir das gerade nur eingebildet habe.
Als Chase die Schultern zuckt, lache ich wie auch er vorher tonlos auf. „Na ja, wenigstens hatte ich heute die Chance dazu. Auch wenn es immer noch so wirkt, als wollte er mich jeden Moment anspringen, aber damit kann ich leben."
Kurze Zeit später befinden wir uns wieder am Volleyballnetz – alle wollten noch eine weitere Runde spielen. Alle außer ich, doch natürlich werde ich dazu gebracht, mindestens noch eine Runde mitzuspielen. Solange ich wie gerade wenig Ballkontakt habe, ist alles in Ordnung.
Ich bin in einem Team mit Valentina, Zac und drei Unbekannten. Der weiße Ball fliegt geschmeidig übers Netz, und bis jetzt sind meine Finger noch heile. Bei der ersten Runde ist ihnen glücklicherweise nichts passiert. Meine Augen verfolgen den Volleyball fokussiert, damit er mich nicht unvorbereitet trifft.
Er fliegt von oben auf mich zu.
Ich strecke die Arme in die Höhe und treffe ihn mit meinen Fingerkuppen. Weil ich die Geschwindigkeit und Härte des Balles unterschätzt habe, biegen sich meine Finger - und danach meine gesamte Hand - in Sekundenschnelle nach hinten. Schmerz durchzuckt mich, zwingt mich in die Knie. Ich sinke in den Sand und halte einen Schmerzensschrei zurück. Verdammt! Ich quetsche meine zitternden und pochenden Hände zwischen meine Oberschenkel. Tränen schießen mir in die Augen.
Eine Hand auf meiner Schulter lässt mich aufblicken. Jemand kniet sich neben mich. „Zeig mal deine Finger." Ich halte ihm meine schmerzenden Hände hin und unterdrücke es, jetzt zu weinen. Ich presse die Lippen aufeinander und ziehe die Augenbrauen zusammen. Zaghaft tastet Chase meine Finger ab und biegt sie vorsichtig. Ich ziehe sie zurück. „Tut es sehr weh?", fragt er und sieht mir in die Augen. Langsam nicke ich. „Deine Fingerbänder sind vermutlich überdehnt."
„Nichts gebrochen?" Es tut so weh! Er schüttelt bei meiner schrillen Stimmlage schief grinsend den Kopf. „Und was mache ich jetzt?" Bei meiner Empfindlichkeit wird meine Hand gleich bestimmt anschwellen und blau anlaufen.
Er spitzt leicht die Lippen und schaut sich um. „Ich hol' Eis!", ruft Valentina, ehe ich einen rennenden Zwerg mit schwirrenden Haaren sehe. „Kühlen und nicht weiter belasten", antwortet Chase. Ich nicke und seufze. Ich hasse Volleyball!
Der dämmernde Himmel bricht über uns ein, als wir mit einigen Leuten die ich nicht kenne in einem großem Kreis um ein Lagerfeuer sitzen. Die Flammen halten die Dunkelheit zurück und tanzen flackernd in Schatten auf dem Sand hin und her. Valerio sitzt neben mir etwas außerhalb des Kreises und buddelt schon zum x-ten Mal meine Füße ein, nur um sie auszugraben und alles zu wiederholen. Ein Zeichen dafür, dass er sich langweilt.
Valentina sitzt etwas weiter rechts und lehnt sich an Zac, der kleine Muster auf ihre gebräunte Haut malt.
„Valerio, kann ich dich was fragen?" Er blickt auf und streicht sich die sandigen Hände wie ein kleiner Junge an der Shorts ab. „Natürlich", sagt er und kommt mir näher. Ich lege das mittlerweile aufgetaute Kühlakku auf meine andere Hand. „Magst du Julia? Ihr kommt mir schon ziemlich vertraut vor", frage ich und stecke meine Haare zurück, um meinen Händen eine Beschäftigung zu geben und alles so beiläufig wie möglich aussehen zu lassen. „Ja, sie ist sehr... nett. Ich verstehe nicht, warum einige sie nicht mögen." Ohne Grund schleicht sich ein schiefes Lächeln auf sein Gesicht. „Woran denkst du, Valerio?" „Immer wenn sie lacht-", fängt er mit Elan an zu erzählen und drückt seine Wangen zusammen, doch räuspert sich angestrengt und unterbricht seinen Satz, als hätte er erst jetzt gemerkt, was er sagen wollte.
„Sie ist nett zu mir, warum sollte ich sie nicht mögen?" „Ich frag nur." Stark muss ich mir ein Grinsen verkneifen.
„Wurdest du auch hierhin eingeladen oder hast du Valentina so lange genervt, bis sie dich mitgenommen hat?", hake ich nach, um kurz das Thema zu wechseln. „Eher zweites, doch nur, weil ich das Gefühl hatte, dass heute etwas passiert, was ich geradebiegen muss. Entweder muss ich noch ein ernstes Wort mit Zac reden, wenn er wieder seine Zunge in Vales Hals steckt, oder Enrico davon abhalten die ganze Stimmung mit nur einer Bemerkung zu kippen." Ich erwidere sein Lächeln und beobachte die tanzenden Flammen des Lagerfeuers. Jetzt wo er ihn erwähnt, fällt mir auf, dass er bis jetzt nicht sonderlich auffällig war.
„Hast du...?", fange ich an, doch weiß nicht, wie ich die Frage möglichst neutral stellen kann, ohne dass er irgendwie Verdacht schöpft. „Habe ich?"
„Jemanden...?" Valerio schnalzt mit der Zunge. „Aaliyah, du musst mich schon in ganzen Sätzen fragen, damit mein Erbsenhirn mitkommt."
„Hast du jemanden im Auge? Also im Moment. Jetzt gerade", frage ich schnell, stolpere über einige Worte und presse die Lippen aufeinander. Ich kann sowas echt nicht vernünftig machen. Das war das erste und letzte Mal, jemanden sowas zu fragen.
Valerio schaut mich wie ein verschrecktes Reh an. Seine Blick wandert überall hin, nur nicht zu mir. „Valerio?" Er kneift die Augen zusammen und murmelt: „Aus mir bekommst du nichts. Hat Valentina wieder irgendetwas erzählt? Nein, ich habe mich nicht verändert, sie spinnt nur." Okay. So einfach wird es doch nicht etwas aus ihm herauszuquetschen. Ich werde es vielleicht versuchen, wenn er kooperativer ist.
In der Runde sehe ich die Gesichter weniger, die auch auf dem Geburtstag der Zwillinge waren. Gerade erzählt Chase eine Geschichte, bei der alle gespannt zuhören. „...Also hab ich sie einfach losgelassen und bin weg gegangen", erzählt er zu Ende und alle lachen. Ich habe nur mit einem halben Ohr zugehört, weswegen ich eine der Einzigen bin, die nicht mit einstimmt.
„So wie Sam", durchbricht Enrico das Gelächter der anderen und schaut auf. Alle verstummen und warten auf irgendwelche Reaktionen. „Enrico!", ruft Valentina und atmet panisch. Chase' Lippen sind zu einer dünnen Linie aufeinander gepresst. „Ich weiß, dass-" „Du weißt gar nichts!", unterbricht Enrico ihn scharf und zieht die Augenbrauen zusammen. Das Licht des Lagerfeuers flackert im Sekundentakt in seinem Gesicht. Es scheint, als würden die Flammen seine unbändige Wut widerspiegeln, die sich langsam nach außen trägt.
Chase steht wie gelähmt auf, und ich hatte kurzzeitig Angst, dass er sich auf Enrico stürzen würde. Doch zu meiner Überraschung läuft er aus dem Menschenkreis raus in die Dunkelheit und wird von ihr verschlungen.
Enricos emotionsloser und leicht säuerlicher Blick liegt auf mir, als ich Chase folge. Ich stampfe durch den Sand. Ich kann nicht fassen, dass Enrico das gesagt hat! Zwar weiß ich nicht, wer diese Sam ist, geschweige denn, was vorgefallen ist. Aber den Reaktionen zufolge etwas Schlimmes.
„Chase?", flüstere ich in die Finsternis hinein. „Hier." Ich folge seiner Stimme, laufe hinter den kleinen Hügel und sehe ihn dort – zusammengesackt. Als er mich wahrnimmt steht er auf und fährt sich mit der Hand durchs Gesicht. „Ist alles in Ordnung?"
Er antwortet nicht. Schlägt nur die Hände über den Kopf zusammen und flucht vor sich hin. Unbeholfen stehe ich daneben. Soll ich ihn darauf ansprechen? Ihn beruhigen? „Wer ist Sam?" Chase blickt mich einige Sekunden verwundert an, ehe er sich abwendet. „Nur jemand aus der Vergangenheit, Aaliyah. Mach dir keine Gedanken darum. Die Zukunft ist viel wichtiger." Er atmet immer noch ungleichmäßig und schwer. Ich lege ihm meine Hand auf den Oberarm und sage so sanft wie möglich: „Du musst ruhiger atmen."
Chase dreht sich zu mir und schaut mir tief in die Augen.
Er sieht aus, als könnte er eine Umarmung gebrauchen.
Seine rauen Finger heben mein Kinn und streichen meine Wange. Er wird doch nicht...?
Als er den Kopf zu mir senkt, schrecke ich zurück. Perplex blinzelt er. „Oh, tut mir leid. Ich wusste nicht..." Entschuldigend lächle ich ihn an.
„Kommst du mit zurück?", lenke ich von der unangenehmen Situation ab. Chase nickt stockend und folgt mir durch den Sand zurück zum Lagerfeuer. Er hatte ernsthaft vor, mich zu küssen. Ich kenne ihn eigentlich gar nicht, und doch hat er es versucht.
Ich setze mich an meinen alten Platz und wimmle Valentina ab, die mich fragt, ob es mir gut geht. Schmerzhaft schlägt mein Herz gegen meinen Brustkorb.
Ich will nicht mehr hier sein.
„Können wir gehen?", frage ich Valerio so leise wie möglich, damit keiner die unterschwellige Verzweiflung raus hört. Er sucht mein Gesicht mit den Augen ab, ehe er sich erhebt und den anderen Leuten mit einer riesigen Show verkündet, dass wir uns zurückziehen. Er schafft auch aus jeder Situation eine Darbietung zu zaubern, damit alle ein wenig lockerer sind.
Valentina löst sich schweren Herzens von Zac und sammelt unsere Sachen auf. „Wir gehen, Enrico. Steh auf", fordert Valerio barsch und mit scharfer Stimme. So habe ich ihn noch nie erlebt. Er ist sonst immer so fröhlich und nett, vor allem zu Enrico.
Ohne sich zu sträuben geht er der Aufforderung nach. Zu meinem Pech steht Chase auch auf und kommt auf mich zu.
„Gehst du wegen mir?" Er versucht zu lächeln, um die Frage neutral klingen zu lassen, doch sein zuckende Kiefer zeigt was ganz anderes. Ich öffne den Mund um etwas zu sagen. „Also... Ich-"
„Was hast du gemacht? Hast du sie angefasst, Arschloch?!", brüllt Enrico und drückt ihn von mir weg. Etliche Augenpaare verfolgen das Geschehen. „Was ist heute nur mit dir los, verdammt! Ich sagte, wir gehen", zischt Valerio und zieht ihn am Arm zurück. Er drückt Chase kurz brüderlich am Arm und flüstert ihm was ins Ohr, bevor er Enrico den Strand entlang zieht. Ich folge stumm Valentina.
Im Auto angekommen herrscht eine angespannte Stimmung. Nicht mal die Musik aus dem Radio ist so laut, um sie zu überspielen. Zu meiner Verwunderung hält der Wagen zuerst am Haus der Zwillinge. „Ich lasse Liyah nicht mit dir alleine", sagt Valentina mit verschränkten Armen. Enrico richtet seine dunklen, finsteren Augen durch den Rückspiegel auf sie – Vale hält dem Blick stand. „Geh." Seine Stimme ist ruhig, unterschwellig voller Wut.
Ich möchte nicht mit ihm alleine auf engsten Raum sein. „Nein, ich gehe nicht." Enrico fährt sich gestresst übers Gesicht und schließt die Augen. „Ich habe gesagt,-" „Na gut!", herrscht sie mit hochrotem Kopf, den sie schüttelt.
Kurz dreht sie sich zu mir. „Schreib mir, wenn irgendetwas ist", flüstert mir Valentina zu, ehe sie aussteigt. Ich setze mich auf den Beifahrersitz und falte meine Hände in meinem Schoß. Die Angst und das Gefühl hier gerade neben ihm zu sitzen – ohne Ausweg – nimmt mich vollkommen ein.
Erleichterung macht sich jedoch in mir breit, als wir in meine Straße einbiegen und kein Wort gesprochen haben. Er parkt das Auto und ich weiß nicht recht, ob ich noch was sagen sollte. Gestern hat er mich gebeten, es nicht zu tun. Gerade, als ich meine Hand zum Griff strecke, atmet er auf.
„Tust du mir einen Gefallen?"
Seine tiefe Stimme hallt in meinem Kopf wider.
„Welchen Gefallen?" Enrico ballt seine Hände kurz zu Fäusten.
„Halt' dich fern von ihm." Was? Ich soll mich von ihm fern halten? „Von wem?" Er schnalzt genervt die Zunge und zieht die Augenbrauen zusammen. Seine Hände umgreifen fest das Lenkrad. „Chase natürlich!"
Kein Grund mich nun so anzuherrschen. Ich weiß echt nicht, wieso er immer direkt laut werden muss.
„Wieso sollte ich mich von Chase fernhalten?" Ich nehme meine Hand vom Türgriff und lege sie auf mein Bein. Meine Knöchel pochen unentwegt, schmerzen jedoch nicht mehr sonderlich stark.
„Er ist nicht gut für dich", antwortet er trocken und meidet meinen Blick.
„Ich glaube nicht, dass du entscheiden kannst, wer gut für mich ist und wer nicht. Soll ich mich vielleicht auch noch von Zac fernhalten?" „Er ist auch kein Engel." Ich lache tonlos auf: „Das kann doch nicht dein Ernst sein. Und du bist der beste Umgang?" „Hab ich nicht gesagt", entgegnet er um einen ruhigen Ton bemüht. „Aber du stellst es so dar."
„Tu's doch einfach!" Ich schaue aus dem Fenster und verschränke die Arme. Er kann mich mal.
Ich entscheide selbst, was ich mache und was nicht. Da wird seine unbegründete Bitte mich nicht dran hindern.
„Du hast ihn geküsst, oder?", fragt Enrico und wechselt so das Thema. Dabei hört sich seine Frage nicht wie eine an. Er geht davon aus, dass er recht hat. „Wer ist Sam?" Seine Augen verdunkeln sich schlagartig. Ich blicke in dunkle Leere.
„Weich meiner Frage nicht einfach mit einer Frage aus", tadelt er und schüttelt entnervt den Kopf. Ich bin wieder dabei auszusteigen, doch er kommt mir zurvor und verriegelt die Türen. „Das ist nicht dein verdammter Ernst."
Enrico streicht sich abwesend übers Kinn und sagt: „Ich erzähle dir wer Sam war, wenn du meine Fragen beantwortest." Wer sie war? Ich lehne mich seufzend zurück. „Dann los. Ich warte."
Er atmet einmal tief durch und schaut mir in die Augen. Ich habe keinen Schimmer, was mich jetzt erwartet.
„Das ist alles noch gar nicht so lange her, mehrere Monate oder ein Jahr vielleicht. Ein paar Jungs, Chase eingeschlossen, haben immer Wetten abgeschlossen, sobald sie ein neues Opfer fanden, das sie verarschen konnten. Irgendwann kam Sam, eigentlich Samantha, ins Spiel. Jeder wollte sie haben, wegen ihrem Körper versteht sich. Chase hat sie wochenlang belogen, sie gefi- 'Tschulding, entjungfert und Beweise rumgezeigt – ein Lacken und Video und sowas." Ich ziehe scharf die Luft ein. Ich kann gar nicht glauben, was er gerade sagt.
Sein Redefluss ist noch nicht beendet.
„Sie hat sich in ihn verliebt und als alles raus kam war sie am Boden zerstört. Er hat sie immer wieder abgewiesen und irgendwann hat sie versucht sich das Leben zu nehmen, nachdem sie von Zuhause rausgeschmissen wurde, weil die ganze Stadt es mitbekommen hat", erzählt er weiter und macht eine kurze Pause, damit ich die vielen Worte verarbeiten kann. Wie habe ich das alles nicht mitbekommen? Die Stadt ist nicht sonderlich groß. Sobald etwas passiert, weiß normalerweise jeder sofort davon.
Ich hoffe, dass er fertig ist, doch es scheint nicht so – noch lange nicht.
„Seitdem liegt sie im Koma. Keiner weiß wann, geschweige denn ob sie wieder aufwacht, und das nur wegen diesem Wichser!"
Wegen seiner plötzlich lauten Stimme zucke ich zusammen. „Beruhig dich", sage ich vorsichtig, doch ich bewirke damit das genaue Gegenteil. Das Autoinnere scheint mir immer enger, viel nimmt seine breite Statur ein, die mich in diesem Moment etwas mehr einschüchtert als sonst.
Eine tiefe Furche befindet sich auf seiner Stirn, seine Augen zeigen, wie wütend er gerade ist. Sein Kiefer zuckt, seine Finger umgreifen das Lenkrad, doch sein Mund schweigt und ist der Ruhepunkt in dem tobendem Durcheinander.
„Was ist dann passiert?", hake ich nach und berühre mit meinen starren Fingerspitzen seinen Oberarm. Er keucht und zuckt zurück, dabei bringt er etwas Abstand zwischen uns. Bedrückt rücke ich wieder auf meinen Sitz.
„Chase war komplett fertig danach, hat sich abgemagert, tagelang nicht geschlafen und die ganze Schuld auf sich geschoben. Weil er mit der ganzen Sache nicht klar kam, hat er sich volllaufen lassen und sich den Arm aufgeschnitten. In letzter Sekunde wurde er gefunden und wiederbelebt. Seitdem ist er so ein spiritueller Schaman und sieht seine Rückkehr als zweite Chance alles besser zu machen. Deswegen auch diese Vogeltattoos."
Ich wünschte, ich hätte es von Chase selbst erfahren. Mit aller Kraft halte ich die Tränen zurück. Enricos vulgäre und direkte Ausdrucksweise lässt mich während der ganzen Erzählung sprachlos. Wie kann er dabei nur so ohne Emotionen sein und reden, als wär es das Normalste der Welt?
„Das ist ja furchtbar", hauche ich und schniefe. „Ja, er ist halt ein Arschloch." Seine Worte machen mich rasend. „Das meine ich nicht. Was fällt dir eigentlich ein, ihn vor allen daran zu erinnern?! Das ist das Allerletzte! Natürlich entschuldigt das nicht Chase' Taten, aber er schämt sich bestimmt dafür, versucht sich zu bessern und hat lange gebraucht, das Ganze zu verkraften. Und dann kommst du um die Ecke und reißt alte Wunden auf. Das ist nicht in Ordnung – verdammt, das ist alles andere als in Ordnung!"
Er schnaubt. „Willst du mir vielleicht noch weiter vorwerfen, was für ein schlechter Mensch ich bin, oder kann ich auch mal was sagen?!" Ungläubig schaut Enrico mich an, schnallt sich ab und dreht sich mit dem ganzem Körper zu mir.
„Was hast du dir dabei gedacht?", frage ich ruhiger und beiße mir auf die Zähne. „Er nervt mich einfach. Konnte es mir nicht verkneifen." Ich fahre mir mit der Hand übers Gesicht. Mit ihm zu diskutieren ist echt anstrengender als jedes körperliche Training. „Aber-" „Ich war sauer auf ihn, er war in deiner Nähe", platzt es aus ihm heraus. „Was? Warum?"
Er hebt die Schultern. „Das hat mich rasend gemacht und ich musste Sam erwähnen, damit dieser siegessichere Ausdruck aus seinem Gesicht verschwindet, wenn ich es schon nicht aus seinem Gesicht prügeln kann."
„Moment mal. Du warst derjenige, der mich seit gestern ignoriert. Warum interessiert es dich dann noch, was ich mache?" Ich verstehe seine Argumente nicht. Wieso ist er sauer auf Chase? Dafür gibt es doch gar keinen Grund.
„Weil du mit uns da warst, und nicht mit ihm. Ihr hattet Spaß", sagt er, als wär es die selbstverständlichste Antwort, die es auf mein Gesagtes gibt.
„Darf ich nicht glücklich sein?" Es war heute eigentlich ganz in Ordnung mit Chase. Na ja, bis er versucht hat, mich zu küssen.
Ein düsterer Ausdruck huscht über seine Gesichtszüge. „Nicht wegen ihm. Ich sag's dir gerne noch einmal: Er. Ist. Ein. Arsch. Ich hab keine Lust darauf, dich Sams Nachfolgerin nennen zu können. Wärst du nicht den ganzen Tag in einem Bikini mit ihm unterwegs, hätte ich ihn bestimmt nicht von seinem Ich-bin-der-Geilste-Trip holen müssen."
Ich brauche einen Moment, um unser Gespräch voll und ganz aufzunehmen. Versucht er gerade wirklich mir alles in die Schuhe zu schieben? Die Luft im Auto wird immer dünner und ich habe Mühe, anständig atmen zu können.
Ich richte meine noch etwas angeschwollenen Finger auf ihn. „Versuchst du gerade wirklich mir die Schuld dafür zu geben, dass du dich nicht im Griff hast und Anspielungen an eine tragische Zeit machen musstest? Daran bist du schuld, Enrico, nur du. Keiner hat dich gezwungen irgendetwas zu sagen, oder überhaupt mitzukommen!" Er schlägt meine Hand aus seinem Blickfeld. Ich schnappe nach Luft.
„Meine Hand!", rufe ich mit aufkommenden Tränen. Direkt verkrampft sie sich, ehe der Schmerz wieder auftritt. Das Pochen wird stärker. Ich zwicke in meine Haut, um den Schmerz irgendwie auszugleichen. Unruhig wippe ich auf dem Beifahrersitz rum. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass meine Hand geprellt ist. Sie tut so weh! Und er hat sie auch noch weggeschlagen. Weiß er gar nicht, wie viel Kraft er hat?
„Wieso?", frage ich und muss mir Tränen wegblinzeln, die durch den plötzlichen Schmerz aufgetreten sind. Wieso hat er das gemacht? Enricos Kiefer zuckt kurz. Einen Wimpernschlag lang lässt er Emotionen über sein Gesicht huschen; Verwirrung und Reue.
Es ist nicht von langer Dauer.
„Ich wusste nicht..." Er führt den Satz nicht fort.
„Natürlich nicht! Wie wär's, wenn du mal wenigstens versuchen würdest, deine Mitmenschen nicht zu verletzten, oder anfängst, mehr auf andere zu achten?"
„Wer war das?", fragt er monoton und nimmt meine kleine Hand in seine. Ich will sie zurückziehen, doch die Angst, dass er dann mein pochendes Handgelenk greift, bewahrt mich davor. Mit einer mir unbekannten Sanftheit – wenn man das überhaupt so nennen kann – streicht er über meine Haut, die durch die Verletzung glühend warm ist. Seine kalten Fingerspitzen hinterlassen eine Spur von eiserner Taubheit.
„Ich selbst."
Wütend guckt er mich an.
„Beim Volleyball", füge ich schnell hinzu. Kaum merklich nickt er und entfernt seine Finger von meiner Hand, die ich wieder zu mir ziehe. Langsam lässt der Schmerz wieder nach.
Wo waren wir gerade noch mal stehen geblieben? Chase.
„Entschuldige dich bei ihm." Ich sehe ihn nicht an, höre nur wie er schnaubt. „Hab ich dich nach deinem Rat gefragt?", keift er scharf und sieht mich aus zugekniffenen Augen an, in denen man erkennt, dass er außer sich ist vor Wut. So habe ich ihn noch nie erlebt.
Er ist nicht so wie sonst. Etwas ist anders.
„Lass mich raus." Ich rutsche mit dem Rücken näher an die Tür. „Aaliyah, du hast noch nicht meine Frage-" „Nein, verdammt! Ich hab ihn nicht... geküsst oder sonst was. Zufrieden?", herrsche ich ihn an. Kurz guckt er perplex, ehe das Geräusch ertönt, welches signalisiert, dass das Auto entriegelt ist.
„Narzisstisches Arschloch", murmle ich und greife nach meiner Tasche im Fußraum.
„Komm runter, Prinzesschen."
„Prinzesschen? Wenn ich wirklich ein Prinzesschen wär, würde ich mich nicht mit Leuten wie dir abgeben!"
Trocken lacht Enrico auf.
„Leute wie ich würden dich direkt achtlos in die Tonne werfen, wenn sie bekommen haben was sie wollen", schnaubt er und schaut an mir runter. Dieses Schwein! „Cállate!" Er soll einfach nur noch den Mund halten!
Ich reiße die Tür auf und stampfe mit meiner Tasche am Arm zum Haus. Endlich bin ich aus diesem kleinem Gefängnis.
Durch meine zitternden Hände fällt mein Schlüssel mindestens zwei Mal klirrend zu Boden. Ich trete durch die Haustür, schließe sie mit einem Knallen und lehne mich dagegen. Mein Atem geht so, als hätte ich gerade einen Marathon hinter mir.
Direkt krame ich mein Handy aus dem vorderen Fach meiner Tasche und rufe Valentina an. Nach nur zwei Pieptönen geht sie ran.
„Was hat er gemacht?", fragt sie geradeheraus.
Ich seufze und fange an zu erzählen. Rede über Chase, die Dinge, die Enrico mir an den Kopf geworfen hat und ich ihm.
Rede über die Art an ihm, die ich bis jetzt noch nie gesehen habe. Er war oft wütend, sehr oft, aber noch nie so.
Es fühlt sich an, als hätte ich heute die dunkle, kalte und verborgene Seite des schönen hellen Mondes gesehen – die, die man normalerweise nie sieht. Sie ist viel tiefgründiger und grausamer, als ich mir jemals hätte ausmalen können. Und doch bin ich froh, beide Seiten, wenn auch lückenhaft, erlebt zu haben. Es reicht für ein kleines, grobes Vorurteil.
Denn trotzdem ist der vielseitige Mond gepaart mit den funkelnden Sternen das Schönste, was ich je gesehen habe.
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Ein kleines Kapitel an meinem Geburtstag🤍 Ich hoffe es gefällt euch.
Lasst gerne ein Vote oder Kommentar da^^
-🤍M
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