Ⅷ : CHRONO CHI - Die fünfte Tür
Die Tür des Wissens stand noch immer diesen engen Spalt weit offen. Der verregnete Luftzug, der dadurch zwischen die Sessel der Vorhalle drang, wehte ein paar vergilbte Buchseiten über den grauen Holzboden; nahm eine Handvoll schwarzer Dra'ák-Asche von den verkohlten, kalten Überresten des Exsecutors und wirbelte sie empor; vermischte sie mit dem herben Schimmelsporenduft der verfallenen Archive.
Das nachtfarbene Maikätzchen, das sich eben noch mit hochgestrecktem Hinterbein der genüsslichen Fellpflege hingab, sprang jetzt fauchend von seinem Dudenstapel-Thron. Der Wandteppich hinter ihr hatte damit begonnen, sich still vibrierend vom Staub der Jahrzehnte zu befreien. Kurz darauf verschmolzen seine Webmuster zu einem fluiden, wabernden Dunkelgrün. Das Fellknäuel machte aus missmutiger Vorahnung einen großen Satz zur Seite. Sofort darauf kamen auch schon drei Gestalten aus der Wand gefallen. Azur, Neko und Amor landeten wilddurcheinandergewürfelt auf dem Boden und begruben den schönen Bücheransitz untersich.
»Geh von meinen Beinen runter, Amor!«, beschwerte sich Azur, der sich mit der einzig freien Hand den Kopf rieb. – Ein fies fauchender Krallenhieb in sein Gesicht begrüßte ihn aus der Schummrigkeit des Raums.
»Du Idiot! Ich kann nichts sehen, solange deine Madame auf meinem Gesicht sitzt.« – Auch er wurde von der Entthronten mit einem gemeingefährlichen Zischen bedacht.
»Das is nich mein Hintern, sondern mein Bauch. Und nimm deine Hände von meinen Dingern!« Neko war die erste, die sich an die Dunkelheit gewöhnte und sich krabbelnd aus der Landezone zog.
Auge in Auge mit dem kratzbürstigen Empfangskomitee verstummte sie abrupt. Zwei, das schwache Mondlicht reflektierende, Katzenaugen pirschten sich geduckt näher.
»Nicht bewegen. Ich mach es weg«, flüsterte Amor und legte klickend den Revolver an.
Sofort stürzte sich das Flammenkind über das kleine Leuchtaugentier und verbarg es unter sich. »Nein, du Blödmann!« Sie trat wild nach hinten aus und erwischte Amors Waffenhand, die dummerweise beim Zurückschnellen den Dritten im Bunde traf.
»Könnt ihr nicht ein Mal miteinander auskommen, ohne zu streiten?«, knurrte Azur, dem sichtlich eine dritte Hand fehlte, um sich hämmernden Kopfschmerz, blutige Krallenspuren und jetzt geprelltes Jochbein zu halten. »Amor? – Knarre weg! Und Neko? – Was hast du da?«
Amor entspannte den Hahn und holsterte widerborstig den Revolver. »Ich hasse diese Viecher ...«
Neko rollte sich über den Ellenbogen auf die Seite und setzte sich auf. Die Arme vor der Brust gekreuzt, hielt sie die kleine Katze an sich gedrückt. Mit dem offenstehenden Gesichtsausdruck eines Dreikäsehochs am Weihnachtsabend sah sie zu ihrem Schützling hinunter.
»Geh nicht so dicht ran, sonst zerfetzt dir die Kratzbürste gleich auch noch dein ...«
Doch das Kätzchen begann, Azur Lügen strafend, damit, Nekos Nase abzulecken und entführte seine Beschützerin damit sofort auf Wolke Sieben.
»Neko, dafür haben wir jetzt keine Zeit! Lass sie runter und dann komm mit!«
»Ja, genau. Die hat bestimmt Flöhe – oder Schlimmeres. Widerlich!«, fügte Amor hinzu, stellte sich neben Azur und klopfte sich den Staub von der Hose.
»Hör nich auf die Zwei. Der eine hat seine Mieze heute schon gehabt, der andere wohl schon zu lange nich mehr ...« Mit tödlichem Blick an die jeweilige Adresse stand sie aber auf und ließ ihren
Kurzzeit-Schmusekumpel vorsichtig auf seine vier Pfötchen plumpsen. »Lauf weg, Fellnase. Husch-husch! Bevor der olle Kerl da dich doch noch erwischt.«
Alle Drei bewegten sich jetzt durch das Halbdunkel Richtung der Türen.
Azur hatte sein Ziel bereits stur ins Auge gefasst.
Neko machte mit Gänsehaut einen weiten Bogen um die Reste des Brandopfers, durch das Amor mit Verachtung geradewegs hindurchtrampelte. »Der andere gehört mir! Verstanden?«
Zielstrebig steuerte Azur die eine noch ungeöffnete Tür hinter dem Empfangstresen an. Der schmutzige kleine Namensaufsteller, mit – Miss ...liope – darauf, zauberte ihm nur ein innerliches Lächeln. Zu sehr war er auf seine Gedanken fixiert.
Er legte die Finger auf die Klinke der mittleren Tür. Die, zwischen der linken Tür der Entscheidung –»für die wir uns beide entschieden hatten« –, die zur oberen Tür der Begegnungen – »die wir dort beide hatten« – führte, und der Fahrstuhl-Tür des Abschieds. – »Nur Nekos beinahen Abschieds?« –
Er öffnete die vergessene Tür.
Eine Kellertür.
Ein dunkler Treppenabgang.
Und der Geruch von ranzig faulem Blut schlug ihm entgegen.
– Die fünfte, die rechte, Tür der Entscheidung –
* * *
Am Ende der morschen Holztreppe angekommen, fanden sie sich nicht etwa in einem einfachen Keller wieder, in dem man vielleicht ein paar Farbdosen, alte Fahrräder oder Kartons voller ungeliebter alter Dinge vermutet hätte, nein, der Begriff: Katakomben traf es schon eher.
Der schimmlige Geruch wurde hier unten noch viel stärker. Mischte sich mit der stickigen, feuchtkalten Luft und legte sich beim Atmen als muffiges Leichentuch auf die Zunge.
Das rotbraune Ziegelgewölbe bestand aus weit verzweigten, schier endlosen Bogengängen, die nur alle dreizehn Schritte, wie Azur seit einer ganzen Weile mitzählte, von ziemlich altersschwachen Glühbirnen in ein diffuses, dunkelgelbes Licht getaucht wurden. Die Fadenschleier von Legionen an achtbeinigen Bewohnern bildeten schon bald eine Art klebriges Haarnetz um die fast gleichfarbigen Dreadlocks des Vorausgehenden. Azur bekam den Rest davon immer wieder in den Mund. Ganz zum Vorteil der hinterhertrottenden Neko. Da sie die kleinste der drei Höhlenforscher war, bekam sie davon nicht viel ab. Leider auch so gut wie nichts von dem spärlichen Licht, das die beiden langen Mäntel vor ihr breit abschirmten.
Amor folgte seiner Intuition. Sein Herz allein leitete ihn zu seiner lang vermissten Liebe. Immer schneller wurde sein sehnsüchtiger Schritt.
Azur hingegen hatte längst zwei andere Umstände bemerkt, die ihn in der Richtigkeit ihres Weges durch dieses düstere Labyrinth bestätigten: der immer stärker werdende Gestank des Blutes, aber auch die verrosteten Eisenketten, die, in den Staub getreten, auf dem Boden verliefen. »Die wohl schwerwiegendste Version eines Ariadne-Fadens.«
Nekos innerer Kompass waren die Stimmen, die wieder von innen an ihre Schädeldecke kratzten, seit sie hier unten war:
»Lauf, kleines Fünkchen, lauf! Bevor du doch noch verglimmst, ehe du dein Ziel erreichst. Die Beiden vor dir stehen dir doch nur im Weg!
Mach sie kalt und feg über sie hinweg! Ganz wie ein Flächenbrand, der du sonst nie wieder sein wirst. Lauf, kleiner schwacher Lebensfunke!«
Doch erst einmal wurde sie recht unsanft gestoppt, als sie im Laufschritt, den die Gruppendynamik mittlerweile angenommen hatte, gegen den Rücken ihres Vordermanns prallte. »Au! Verdammt! Warum bleibt ihr stehen?«
»Was soll dieser Scheiß denn?«, war von ganz vorn zu vernehmen,
»Was ist?«, von Azur.
»Schau doch selbst!«
Azur quetschte sich am nassen Gemäuer an Amor vorbei und sah den Grund des Zweifels. »Ist das ... der zweite ...?«
»Scheiße, ja! Kein Wunder, warum das hier unten so bestialisch stinkt.«
»Was is denn da? Ich kann hier hinten nix sehen!« Ihre ungeduldig zappelnde Frage wurde jedoch von den beiden angewidert schauenden Herren einfach ausgeblendet.
An der Ziegelwand vor ihnen, die den Tunnel in einen linken und rechten Gang teilte, hing der faulige Kadaver des zweiten Exsecutors.
Eine grünschwarze Suppe tropfte zäh in den Dreck unter ihm.
»Wer hat ihn da angenagelt? – Und dann noch so komisch? – Sieht aus, als würde er auf etwas zeigen. – Nach rechts?«
»Ach! Herr von und zu Blitzmerker. Und du folgst jetzt so einem makabren Wegweiser einfach? Wer immer ihn gekillt hat, könnte noch mit uns hier unten sein! So wie der Stinker da noch fröhlich vor sich hin blutet, ist das noch nicht lange her. Schon mal daran gedacht, dass es auch eine Falle sein könnte?«
Azur trat angewidert, aber neugierig, mit dem Ärmel seines Pullovers vor dem Mund, näher an den toten Körper heran.
»Was ist das hier? Hast du sowas schon mal gesehen?« Er streckte seinen Zeigefinger auf der Suche nach eigener Erkenntnis bereits nach einem der seltsamen Objekte aus, mit denen das Opfer an die Mauer gespießt worden zu sein schien.
Amor schlug ihm die Hand davon weg. »Nicht anfassen!« Gleichzeitig reckte er den Hals, selbst neugierig, nach vorn und taxierte eines der Objekte mit immer wieder nach links und rechts wanderndem Kopf.
Dann hielt er sich dabei erst das eine, dann das andere Auge zu.
»Ist ja der Hammer! Sowas hab ich ewig nicht mehr gesehen.«
Azur ahmte die seltsame Analysemethode bereits nach und erkannte es auch. Die Bolzen oder Pfeile mit denen das Ding erlegt worden war, verschwanden und tauchten wieder auf – je nach Blickwinkel. Zwischendurch waberten sie in einem durchsichtigen grau. Nur eine schwammige Kontur verschmolz bei jeder Bewegung optisch mit dem Hintergrund. Als bestünden sie aus Hitzeflimmern. Wie eine Fata Morgana; eine Luftspiegelung. Aber sie hielten ganz real den schweren Körper an der Wand. »Sind sie wirklich da?«, wollte er wissen.
»Ja ... und nein, mein ahnungsloser Freund. Es sind Schattenlanzen oder auch Zwielichtlanzen. Sie existieren. Und das sogar in allen Dimensionen gleichzeitig. Sie zu beherrschen, ist kaum möglich. Zumindest würde ich von dem Versuch abraten. Soweit ich weiß, muss man dafür selbst ins Zwielicht treten. Mal davon abgesehen, dass dieses Wissen niemand mehr beherrscht, kommen diejenigen, die es versuchen, selten bis nie wieder zurück.
Verbotenes Wissen. Und kreuzgefährlich. Überzeug dich ruhig selbst.
Ich denke, du kannst sie bedenkenlos anfassen. Nur zu!«
Er tat es. Und sofort verschwand die Kontur des berührten Bolzens. Dann die von dem daneben. Und auch die in dem wegweisend ausgestreckten Arm. Als unumstößlichster Beweis verschwanden auch deren physische Eigenschaften und der tote Körper stürzte in seine eigene Blutlache. Mit einem Geräusch, als ... ja, als würde eine soeben noch an eine Wand gespießte schwarzschuppige Alien-Leiche auf den staubigen Boden eines Kellergewölbes in dickflüssiges Blut und unsichtbare Pfeile fallen eben. Einen einfachen Vergleich hätte selbst der begnadetste Schriftsteller dafür nicht erfinden können.
An der Stelle, die bisher von dem toten Arm verdeckt wurde, prangten nun zwei, in rotem Blut geschriebene, Worte an der Wand:
„spuria haeretica"
»Die falsche Ketzerin«, übersetzte Amor in lauten Gedanken.
»Sind nicht alle Ketzer, vom Begriff her, ›falsch‹?«
»Du bist ein Klugscheißer, Azur! Es bedeutet nicht: Die Ketzerin, die falsch ist, sondern: die eine, definitiv Falsche! ... Ketzerin!«
Während die beiden noch ratlos dastanden, meldete sich die Stimme aus dem Hintergrund, die sich derweil unbemerkt auf kurzen Erkundungsgang in die anderen Tunnel gemacht hatte, wieder zu Wort. »Ähäm! Jungs? – Euer zusammengefallener Kamerad da ... hat der seinen Kopf noch?«
»Ja. Was soll die bescheuerte Fr... iss meine Hose!« Amor sah einem weiteren Dra'ák-Lakaien mit weit geöffnetem Reißzahn-Maul in die nicht vorhandenen Augen. Auch Azur rutschte kurz das Herz in die Stiefel, bevor sie erleichtert feststellten, dass Neko es war, die ihnen den abgetrennten Schädel aus der Dunkelheit entgegenhielt.
»Dahinten liegen noch ein paar! Jungs, ich schätze, wir haben eine Art Problem.«
»Keins, was ich nicht lösen könnte.« Noch immer etwas entgeistert umklammerte Amor dabei seine Umhängetasche. »Aber wir sollten jetzt schleunigst weiter. Ich denke, wir sind schon fast da.«
»Kiro, warte auf uns!«, hallte Nekos Stimme, gefolgt von einem zischelnden Echo, Azur hinterher, der bereits in den Tunnel eilte, den ihnen die Leiche gewiesen hatte.
* * *
Das hohe Rundbogen-Gewölbe, in das, neben dem vom Schlichter gewählten Gang, ringsherum noch zwölf weitere mündeten, war nur durch Fackeln beleuchtet, deren lodernder Schein die Schattenfugen des umgebenden Mauerwerks wie vom Wahnsinn besessen tanzen ließ.
Die schweren Eisenketten, die sich aus jedem der Zugänge schlängelten, verliefen durch zahllose metallene Objekte und Apparaturen. Instrumentarien, wie sie wohl nur die spätmittelalterliche Inquisition hätte hervorbringen können. Durch längst rostzerfressene Führungsringe erhoben sie sich vom steinernen Boden hinauf in einen gewaltigen Kronleuchter in der Mitte des stickwarmen Folterkabinetts.
Von dort lasteten sie schwerfällig auf den eisernen Thron herab, auf dem sie mit einem kaum zu identifizierenden Körper verschmolzen. Inmitten des braunen Kettengewirrs verdeckten lange graue Haarsträhnen das Gesicht der dort lehnenden Gestalt.
Die Drei tauchten aus dem Höhlendunkel in den Höllenschein.
Wie von weiteren unsichtbaren Zwielicht-Pfeilen an den Fußboden gebannt, verharrten sie sofort nebeneinander. Der Anblick, der sich ihnen bot, hätte selbst Stephen King das abgebrühte Blut in den Adern gerinnen lassen.
Den ersten Schock überwunden, näherten sie sich bedächtig langsam dem bestialischen Stillleben des Zentrums.
Allen stach sofort die Totenstille in die Köpfe.
Dann der regungslose Körper, der nicht nur von Eisen bedeckt oder gefesselt worden war, sondern regelrecht von den Ketten durchzogen wurde. Der knochige Leib war in Teilen bereits mit den Fesseln verwachsen. Getrocknetes Blut versiegelte die zerfetzten Ränder zwischen verdorrtem Fleisch und oxidiertem Metall.
Durch jede deutlich unter der fahlen Haut zu erkennende Rippe war ein eiserner Ring getrieben; jede Gliedmaße von schweren Widerhaken durchbohrt und mit Gewalt fixiert worden.
Bis auf eine: den fehlenden rechten Unterarm.
Als Neko dies erkannte, stolperte sie ohne Rücksicht auf die am Boden verstreut liegenden Sägen, Messer und Zangen darauf zu. Eines der Gerätschaften brachte sie vor Schmerz schreiend zu Fall. Doch waren es nicht die aufgeschürften Knie, die ihren Tränenregen auslösten, sondern die bösen Stimmen, die ihr die Gewissheit entgegenbrüllten, dass sie vielleicht nur zwei Tage zu spät kam. Denn da war sie ihr doch schon einmal so nah, nur hatte sie ihre grausame Neugier abgelenkt.
Schreiend kroch sie die letzten Meter auf den Stuhl zu; umklammerte mit den zitternden Fingern die kalte Hand, die dort von der Armlehne hing, bevor sie diese entkräftet wieder losließ.
Der Gesang ihrer wütenden Traurigkeit wurde zweistimmig.
Amor, der ihr dicht gefolgt war, sackte vor der anderen Armlehne auf die Knie zusammen. So einen harten Kerl, und obendrein noch Liebesboten, mit gesenktem Kopf zu Füßen seiner großen Liebe aus voller Lunge weinen zu sehen, zu hören und zu fühlen, brach auch Neko ein bisher unzerstörtes Siegel von ihrem bitteren Herzen.
Das war wohl das Ende. – Das Ende ihrer letzten Hoffnung.
Doch die Stimme des Schlichters war klar und trocken.
Zwar hörbar besorgt, aber auch so unverständlich Mitleidlos.
»Ähm... Leute?«
– Wie konnte er es wagen? –
» Neko? ... Amor?«
– Er wurde weiterhin überhört. –
»Kommt gaaanz vorsichtig mal ein winziges Stückchen zurück ... Bitte! ... Und das am besten sofort!«
In einiger Entfernung stehen geblieben, hatte er kühl den Überblick behalten. Die eine der herabhängenden Ketten – die sich da eben doch bewegt hatte – ließ ihn seinen Blick vom Kronleuchter zu deren Ende hinabklettern. Kettenglied für Kettenglied. Bis in den strähnigen Vorhang aus altgrauem Haar.
Zwei glühende Smaragde, die in der Verborgenheit des Dunkels dahinter zu totem Leben erwachten, starrten ihn an. Wie lauernde Raubtiere aus ihren Höhlen heraus nahmen sie dann ihre vor ihnen kauernden, achtlosen Opfer ins Visier.
(T -52h:25m:00s)
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