6. Kapitel

𝙰𝚌𝚑𝚝𝚞𝚗𝚐! 𝙷𝚒𝚎𝚛 𝚔𝚘𝚖𝚖𝚎𝚗 '𝚗𝚎𝚐𝚊𝚝𝚒𝚟𝚎' 𝙶𝚎𝚍𝚊𝚗𝚔𝚎𝚗𝚐𝚊̈𝚗𝚐𝚎 𝚟𝚘𝚛.
POV: Emma
Mit Mühe schlug ich meine Augen auf. Ich fühlte mich kraftlos und verloren. Um mich herum war es stockfinster und still. So verdammt still. Ich fühlte in mir eine Leere, die ich nicht beschreiben konnte und meine Gedanken überforderten mich.
Das alles war mir zu viel.

Die Verzweiflung, die begonnen hatte in mir aufzukeimen verstärkte sich und die ersten Tränen rannten über mein Gesicht. Meiner Kehle entwischte ein Schluchzer und meine Hände krallten sich in der Matratze fest. Ich wünschte mir den Schmerz, welcher keine physische Ursache hatte, fort. Ich wünschte mich in die Vergangenheit, in die Zeit wo alles ok war. In die Zeit wo mein Leben Sinn hatte.
Denn das hatte es nicht mehr.
Niemanden würde es interessieren, würde ich nun diese Welt verlassen.
All jene, die es vielleicht betroffen hätte, waren bereits gegangen.
Gegangen, weil es für sie keinen Grund fürs Leben gab.
Einen Grund fürs Leben?
Gab es den überhaupt?
Man wurde geboren, alterte, starb und fiel schließlich in Vergessenheit.

Mit jedem weiteren Gedanken fühlte ich mich schlechter. Mein Kopf war in einen trostlosen Nebel eingehüllt, der mir jeglichen Verstand raubte. Egal an was ich dachte, ich fand nichts Positives am Leben. An meinem Leben.
Mit jeder Träne die mein Gesicht runterrannte, kam mir ein neuer Gedanke.
Ich hasste mich dafür. Ich hasste mich dafür, dass ich nur das Schlechte sah. Es gab so viele denen es gerade schlechter ging. Und doch, doch fiel mir einfach kein verdammter Grund ein, der fürs Leben sprach.

Die Erschöpfung breitete sich wie eine Welle in mir aus. Es war anstrengend Fragen zu haben, die niemand beantworten konnte. Es war anstrengend in allem das Schlechteste zu sehen. Doch ich konnte es nicht ändern. Die Erschöpfung verwandelte sich augenblicklich in Müdigkeit und ich fiel in einen unruhigen Schlaf. In einen Schlaf, der mindestens genauso viele Fragen aufwarf, wie ich sowieso schon hatte.

Meine Traumwelt hatte mich zurück in die Vergangenheit gezogen. In Mitten bittersüßer Erinnerungen:
Dunkelheit umgab mich. Ich hörte wie mein jüngeres Ich fragte: „Darf ich jetzt schauen?"
Dann merkte ich wie mir jemand eine Augenbinde von meinem Kopf zog. Ich musste einmal aufgrund der plötzlichen Helligkeit blinzeln und dann erblickte ich eine wunderschöne Wiese. Alle möglichen Blumen blühten auf ihr. Schmetterlinge flogen von Blüte zu Blüte und mitsamt einer bunten Vielfalt aus anderen Tieren machten sie diesen Ort einfach atemberaubend.
Ich sah in das strahlende Gesicht meiner Schwester und wie von unendlich weit weg hörte ich ihre Stimme: „Happy Birthday Emma"
In ihren Augen schimmernden Tränen, doch das waren ganz bestimmt Freudentränen. Ich ignorierte sie und fiel meiner großen Schwester in die Arme. „Danke",hörte ich mich sagen.

Dann wechselte die Szene:
Ich saß auf unserer Schaukel. Um mich herum waren Sträucher und Wiesen. Eigentlich war es ein schöner Ort, doch in diesem Moment bekam ich von dieser Schönheit nichts mit.
Tränen rannen meinem Gesicht herunter und die Sätze, die ich aus der tränenverschmierten Tinte entziffern konnte, echoten durch meinen Kopf.
„Du bist nicht schuld!", kam immer wieder durch meine Gedanken und nach und nach änderte es sich zu:
„Du bist schuld!"
Denn das war ich. Ich hatte all ihre Trauer, all ihren Schmerz und ihre Verzweiflung nicht mitbekommen. Jeden Tag stand sie mir mit einem Lächeln beiseite und nie habe ich gesehen wie es ihr echt ging.
Ich war schuld.
Was war nur mit ihr geschehen? Was hatte man ihr angetan? Wer hatte ihr das angetan? Hatte ihr überhaupt jemand was angetan?
Tausend Fragen schwirrten durch meinen Kopf und ich fiel.

Mit einem Schrei saß ich aufrecht im Bett. Wie sehr ich Träume hasste. Wie sehr ich Gedanken hasste. Wie sehr ich gerade alles hasste.
Denn nichts hatte Sinn.
Ich hatte weder Freunde noch Familie.
Ich hatte nichts mehr  im Leben.
Nichts, was es lebenswert machen würde.
Ich hatte alles verloren.

Ich versank immer mehr im Selbstmitleid. Und ich fiel wieder. Zwar war es gedanklich, doch manchmal war so etwas viel schlimmer, als das einfache Hinfallen.
Mein Gedankenkarussell  fuhr mittlerweile so schnell, dass ich nicht mehr mitkam.
Und immer wieder tauchte die Frage nach dem Lebenssinn auf.
Wieso fiel mir diese so schwer? Ich hatte bisher immer einen Grund gefunden...
Außerdem gab es doch so viele Menschen denen es schlechter ging. Menschen, die krank waren, Menschen im Krieg oder in ständiger Gefahr.
Und ich?
Ich war nichts davon. Ich war einfach nutzlos. Ein Mensch unter Milliarden. Einer, den niemand vermissen könnte. Einer der nichts ausrichten konnte.

Ein Windhauch lies mich frösteln. Ich blickte in den Raum und sah ein offenes Fenster. Mittlerweile war die Morgendämmerung eingebrochen und so konnte ich dies auch erkennen. Ich stand auf und lief zum Fenster. Die paar Schritte raubten mir die letzte Energie. Und kurz bevor ich da war, kam mir ein Geistesblitz. Sollte ich auch...?
Was sprach schon dagegen?
Ich würde alle wiedersehen, die ich vermisste.
Und selbst wenn nicht, was hätte ich zu verlieren?

Ich hatte mich entschieden. Ich lief die letzten paar Schritte und ich dachte mir nur noch: Unsere Familie war verflucht. Wir alle wollten mehr oder weniger den Tod. Und nun waren wir bald ausgestorben.
Der letzte Schritt...
Und ich klappte in mich zusammen.
Ich konnte nicht springen. Es würde nichts nützen. Wieso nur hatte ich so Pech?

•••

Ich saß in meinem Bett und überlegte. An die letzten Stunden konnte ich mich kaum noch erinnern. Das Einzige, was ich wusste war, dass mich jemand gefunden hatte und mir etwas zur Beruhigung gegeben hatte. Und tatsächlich: Es half.
All die depressiven Gedanken waren wie verschleiert und ich konnte einigermaßen sinnvolle Gedanken fassen:
Wenn ich schon die Chance hatte zu Leben, dann musste ich sie nutzen. Carla und Leon hätten das gewollt. Sie wiedersehen konnte ich immer noch.
Davor konnte ich noch Lieben und Leben wie alle anderen auch. Sie würden es mir nicht verübeln.

Nach und nach schwanken meine Gedanken auch wieder zu der jetzigen Situation. Jedoch ging ich diesmal anders dran und versuchte mich aufs Wesentliche zu konzentrieren:
Ich musste mich schnell entscheiden.
Sollte ich seinem Brief folge leisten oder ihn ignorieren?

Ich ließ mir die Frage eine Weile durch den Kopf gehen und dann entschloss ich mich dafür, Onkel Leons Aufforderung zu folgen. Er war einfach nicht der Typ, der Späße machte und wenn er so etwas schrieb, dann steckte etwas Wahres dahinter.
Nur wie sollte ich jemanden namens A. Winter finden?
Wir hatten drei Leute in der Klasse mit dem Anfangsbuchstaben A. Und zwar Antonia, Aron und Alicia. Aber ich konnte mich nicht erinnern, dass einer von ihnen „Winter" hieß.

Ich grübelte noch etwas und dann kam mir eine Idee:
Warum frage ich nicht einfach jemanden, ob jemand in meiner Klasse „Winter" hieß?
Dann hätte ich Gewissheit.

Kaum war der Gedanke gekommen, hatte ich mich entschieden: Ich würde Joanna fragen.
Und wenn sie keine Antwort hatte, dann würde ich das Rätsel alleine versuchen zu lösen.
Denn die Zeit war keines Falls auf meiner Seite. Da mein Onkel tot war, gab es niemanden mehr, der die Kosten hierfür bezahlte. Ich wusste zwar nicht wohin dann, aber hier würde ich nicht mehr lange bleiben. Für ein Kinderheim war ich zu alt, oder?

Egal!
Ich würde mich nun schnellst möglich auf die Suche nach dem Ort machen und dann, dann würde ich weitersehen.

Ich hoffte inständig, dass dieser Optimismus nicht verschwinden würde, wenn die Wirkung des Beruhigungsmittels nachließ. Und so begann ich das Rätsel, welches unten auf dem Abschiedsbrief stand, auseinander zu nehmen.

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