[ 0.6 ] YOUR EYES LOOK LIKE COMING HOME ── nomin
nomin
5.01.2022 - 21.03.2022
6.080 words
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took me a while, this one <.<
leave some stars and comments please!!
and always be happy, people <3
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Lee Jeno hat genug.
Das ist jetzt das dritte Mal diese Woche, dass er einen Dreh unterbrechen muss, weil sein neuer Nachbar einfach nicht versteht, wofür es in einem Haus, in dem viele Menschen leben, so etwas Lärmschutzregeln gibt. Dabei ist es ja nicht so, dass Jeno mitten am Tag dreht, sondern meistens wagt er es erst, Kamera und Mikrofon aufzubauen, wenn Mitternacht längst vorbei und die Gefahr einer Unterbrechung nur noch sehr gering ist.
Anscheinend weiß sein Nachbar das aber. Warum sonst sollte er ausgerechnet nachts dauernd so laut sein? Und warum stört es niemanden? Der Neue unterhält sich immer lautstark am Telefon mit jemandem, oder er hat Besuch. Oder er packt (immer noch, obwohl er schon fast einen Monat hier wohnt) Sachen aus, poltert gegen die Wände und gibt bis zum Morgen keine Ruhe. Manchmal ist es so schlimm, dass Jeno kaum ein Augen zu bekommt. Tagsüber herrscht dagegen Schweigen, aber meistens ist Jeno dann beschäftigt, nicht im Haus, oder andere Nachbarn sind zu laut (und tagsüber kann er sich ja wohl schlecht darüber beschweren).
Jetzt reicht es einfach. Jeno konnte seit zwei Wochen nichts mehr hochladen, weil im Hintergrund immer Geräusche zu hören sind. Deswegen hat er beschlossen, es seinem Nachbarn endlich ins Gesicht zu sagen. Er hasst Menschen, aber noch mehr hasst er es, unproduktiv zu sein und seinen Followern keinen Content liefern zu können. Vielleicht weiß der Neue einfach noch nicht, dass er etwas leiser sein sollte. Vielleicht waren die Wände dort, wo er vorher gewohnt hat, dicker.
An diesem Abend kommt es Jeno besonders schlimm vor. Sein Nachbar hat mindestens zwei Gäste und einer davon kreischt andauernd extrem unangenehm herum. Wahrscheinlich spielen sie Videospiele. Hoffentlich spielen sie Videospiele.
Jeno stoppt seine Aufnahme, während in ihm heiße Wut brodelt. Er ist so sauer. Es ist ja nicht nur die Tatsache, dass sein Nachbar so laut ist, sondern auch die, dass Jeno trotzdem immer Geld für jegliche Sachen, die er in seinen Videos benutzt, bezahlen muss, und es dann letztendlich doch nichts bringt, weil jede Sekunde Videomaterial in den Papierkorb wandert und er noch einen Nervenzusammenbruch bekommt.
Man hört die Stimmen bis auf den Flur.
Immer noch stocksauer klopft Jeno an, baut in seinem Kopf Sätze zusammen, die er seinem neuen Nachbarn gleich an den Kopf werfen wird, wenn der die Tür öffnet; wie unverschämt das ist, wie laut er dauernd ist und wie wenig er auf die Hausregeln gibt und– oh.
„Ja bitte?" Der pfirsichfarbene Haarschopf taucht zuerst im Türrahmen auf, dann dieses umwerfende Lächeln und die schönsten Augen, in die Jeno je geschaut hat. Er wusste nicht, dass ein einziger Blick so viel in ihm auslösen kann.
Bis gerade eben war er sauer, wirklich stinksauer, aber als er seinen Nachbarn erblickt, geraten all die Worte, die er sich so sorgsam zurechtgelegt hat, völlig durcheinander. Übrig bleibt nur ein klägliches leises „Ähh, hi". Muss der Typ so schön sein? Oh bitte, warum?
Der Andere öffnet die Tür ein Stück weiter und mustert ihn neugierig. Sein schönes, breites Lächeln, das seine Augen zum Leuchten bringt, scheint auf seinem Gesicht wie festgewachsen zu sein. „Sind Sie der Pizzabote?", fragt er.
„Ähm, nein?", macht Jeno und wippt verlegen auf den Fußballen auf und ab. „Ich ... wohne nebenan und es ist ein bisschen ... laut." Okay, eigentlich ist es nicht nur ein bisschen laut, sondern extrem laut. Und Jeno ist auch kein verdammter Pizzabote! Aber natürlich hat er nicht den Mut, das einem so schönen Menschen an den Kopf zu werfen, wie er es eigentlich tun sollte.
„Oh", sagt sein Nachbar und schenkt ihm noch ein Lächeln, mustert Jeno von oben bis unten. Jeno hat wirklich noch nie jemanden so breit lächeln sehen. Zumindest nicht in der Art und Weise, bei der man merkt, dass sein Gegenüber es vollkommen ernst meint und das nicht nur eine aufgesetzte Maske ist. „Tut mir leid, ich habe Besuch." Er zuckt mit den Schultern. „Ich bin übrigens Jaemin. Na Jaemin. Tut mir nochmal leid, dass ich noch nicht drüben war und mich vorgestellt habe, aber ich verpasse oft Chancen, weil ich ziemlich nachtaktiv bin und normale Leute tagsüber leben." Er grinst. Anscheinend findet er das nicht ansatzweise schlimm.
„Lee Jeno", sagt Jeno. „Naja ... es würde mir nichts ausmachen, und es tut mir leid, dass ich deswegen was sagen muss, aber ich würde gern ein Video drehen und da wäre es cool, wenn ihr ... wenigstens ein bisschen leiser sein könntet, damit ich nicht alles durch die Wand höre. Mein Mikro ist empfindlich." Okay, das war viel zu nett. Selbst Taeyong, die Nettigkeit in Person, würde ihm dafür eine Kopfnuss verpassen, aber Jeno ist trotzdem stolz darauf, dass er (fast) in ganzen Sätzen gesprochen hat, obwohl seine Ohren brennen wie Feuer.
„Du drehst Videos?", fragt Jaemin mit ehrlichem Interesse in der Stimme. Er schaut Jeno aus großen, neugierigen Augen an. Sie stehen immer noch halb auf dem Flur, im Hintergrund das Geschrei von Jaemins Freunden, und irgendwie ist es absolut nicht der richtige Zeitpunkt für ein solches Gespräch, vor allem nicht, wenn Jaemin sich immer weiter in Jenos Richtung beugt und ihn so ansieht mit seinen Sternenaugen, die komische Sachen mit Jeno machen.
„Ja, ASMR-Videos, deswegen sollte es leise sein, damit es keine Hintergrundgeräusche gibt. Und deswegen drehe ich meistens auch nachts, damit mich niemand dabei stört." Jeno hofft, dass Jaemin die Andeutung versteht und einfach sagt, dass das klar geht und sie ein bisschen leiser sein werden. Aber stattdessen geht er schon wieder nicht darauf ein.
„ASM-was?", sagt er und sieht Jeno verwirrt an. Noch im selben Augenblick hellt sich sein Gesicht jedoch auf, und Jeno hätte über seine sich ständig verändernde Mimik gelacht, wäre die Situation nicht so irre surreal. „Ohh, das sind die Dinger, die Renjun sich immer reinzieht– RENJUN-AH! DER TYP KENNT ASMR!", brüllt er über die Schulter in die Wohnung (die wohlbemerkt nicht so groß ist, dass er so schreien müsste). Jeno sieht ihn völlig entgeistert an. Weiß Jaemin wirklich nicht, dass man unter der Woche spätestens nach Mitternacht wenigstens etwas leiser sein sollte? Zu allem Übel tauchen im nächsten Moment gleich zwei Köpfe hinter Jaemin in dem winzigen Eingangsbereich auf, der Jeno dauernd tierisch auf die Nerven geht, vor allem wenn er vom Einkaufen wiederkommt und keinen Platz für irgendwas hat. Einer der beiden, der Kleinere, zieht geräuschvoll die Luft ein, als er Jeno sieht. Dann knufft er Jaemin in die Seite.
„Jaem, das ist Lee Jeno!", sagt er aufgeregt.
„Ich weiß", sagt Jaemin mit seinem strahlenden Lächeln. „Er hat sich mir gerade erst vorgestellt."
„Nein, Nana", sagt er, dieses Mal nachdrücklicher. „Das ist Lee Jeno."
„... Oh", macht Jaemin da. Er kneift die Augen zusammen und mustert Jeno noch einmal von oben bis unten, während die Situation für den immer unangenehmer wird.
„Ahh, Renjun, das ist Jeno!", quiekt der Dritte los und Jeno weiß sofort, dass er es war, der dauernd rumgeschrien hat. Dieses nervige Gequieke würde er überall wiedererkennen.
„Hi." Jeno lächelt verlegen in die Runde.
„Ich kenne deine Videos!", platzt der Kleine. „Weißt du eigentlich, dass du mein Leben gerettet hast? Ohne dich wäre ich durch reihenweise Prüfungen gefallen, ganz sicher! Oder ich hätte ein Burnout! Oder wäre schon längst tot. Oh mein Gott, Jaem, der Lee Jeno ist dein Nachbar und du sagst mir nichts davon!?" Er packt Jaemins Arm und schüttelt ihn. „Ich dachte schon es wäre was passiert oder so, weil schon so lange nichts mehr kam. Deine zwei Videos die Woche waren immer das, worauf ich am meisten gewartet habe."
„Nicht mich?", fragt der Dritte verletzt, aber der Kleine funkelt ihn nur über Jaemins Schulter hinweg an.
„Naja", sagt Jeno und lächelt verlegen. Er kann kaum verhindern, dass ihm die Hitze in die Wangen kriecht; er bekommt nicht oft Lob, weil er selten Fans trifft und wahrscheinlich noch weniger nach draußen geht. Dementsprechend schlecht kann er damit auch umgehen. Nämlich gar nicht. „Ich hab seit ein paar Wochen etwas Probleme mit dem Hintergrundlärm, vor allem nachts." Und da fällt ihm auch wieder ein, dass Chenle ihm mal gesagt hat, er sollte sich lieber ein Studio mieten, das schalldicht ist und wo er keine Probleme bekommt. Aber das wären auch wieder nur zusätzliche Kosten, die er sich nicht leisten kann.
Der Kleine – Renjun – scheint Jeno am kompetentesten von den Dreien. Jedenfalls springt er als Erster auf seine Andeutungen an, schenkt ihm einen entschuldigenden Blick und dreht sich dann augenverdrehend zu Jaemin um, der noch immer mit diesem irren Grinsen da steht und gar nichts kapiert. Oder sich einfach dumm stellt. „Nana", sagt er (und Jeno schmilzt nur minimal bei dem Spitznamen), „du bist zu laut. Willst du nochmal rausgeschmissen werden?" Also war Jaemins Krach doch schon einmal ein Thema. „Normale Menschen schlafen nachts", fährt Renjun fort. „Du solltest echt mal an dir arbeiten."
„Ich kann nichts dafür, dass ich als Vampir geboren wurde." Jaemin verschränkt die Arme vor der Brust und schiebt die Unterlippe nach vorn. Oh Gott, wovon wird Jeno hier gerade Zeuge? Er wollte doch nur, dass sie leiser sind.
„Entschuldige dich." Renjun stemmt die Hände in die Seiten. Jeno findet, dass er wie ein wütender Gartenzwerg aussieht, und dem Dritten im Bunde scheint es kaum anders zu gehen, denn er versteckt die Herzchenaugen und sein kleines Lächeln nicht schnell genug hinter seinen Händen.
Jaemin verdreht die Augen. Er sieht Jeno nicht an, als er leise „Sorry" murmelt.
„Ich rede mit ihm", sagt Renjun. „Tut mir leid."
„Schon– Schon okay, das ist ja eigentlich nicht deine Angelegenheit." Jeno schenkt ihm ein Lächeln und zuckt mit den Schultern. Manchmal wünscht er sich wirklich er wäre nicht so schüchtern und komisch, wenn es darum geht, mit anderen Menschen zu reden und nicht mit einer Kamera.
„Doch, weil ich deine Videos schauen will und mein bester Freund dran Schuld ist, dass es nicht geht." Der Kleinere lächelt und als keiner etwas darauf sagt, rammt er Jaemin seinen Ellbogen zwischen die Rippen.
„Yah!" Jaemin reibt sich die schmerzende Stelle, doch schließlich hebt er den Kopf und sieht Jeno wieder an, lächelt. „Sorry", sagt er, aber ehrlich gesagt klingt es nicht so, als würde er es wirklich so meinen. „Ich versuche ab jetzt leiser zu sein."
„Cool", sagt Jeno und hofft, dass sein Lächeln nicht so breit ist, dass es ihn verrät. „Tut mir leid, dass ich euch gestört habe."
„Kein Problem!", meldet sich der Dritte, von dem Jeno immer noch nicht weiß, wie er heiß, zu Wort.
„Tut mir leid, dass wir so laut sind", sagt Renjun, obwohl es eigentlich weniger sein Problem als Jaemins ist. Er zögert und beißt sich auf die Unterlippe. Als Jeno sich schon umdrehen will, sagt er: „Bekomme ich ein Autogramm von dir?"
Jeno sich irritiert wieder um. Ein Autogramm? Er hat noch nie Autogramme geübt, weil er noch nie welche hat geben müssen. „Ähm, ja sicher", bringt er hervor. Renjun strahlt ihn an, dann verschwindet er nach drinnen und kommt mit einem abgegriffenen Notizbuch und einem Kugelschreiber wieder. Beides hält er Jeno unter die Nase. Jeno unterschreibt plump auf der letzten Seite und fügt einen Stern neben seinem Namen hinzu (obwohl er selbst nicht ganz genau weiß warum es ausgerechnet ein Stern sein muss). Als er Renjun seine Sachen zurück gibt, trifft sein Blick auf Jaemins. Etwas in ihm rückt mit einem finalen Klicken an seinen richtigen Platz, und Jeno muss den Blick abwenden.
Der Moment ist vorbei, als Renjun sich bei ihm bedankt und verspricht, dass Jaemin leiser sein wird, obwohl der Andere daneben steht und ganz und gar nicht danach aussieht, als würde er sich daran halten. Trotzdem bedankt Jeno sich ebenfalls, deutet eine Verbeugung an und wünscht ihnen noch einen schönen Abend. Kaum ist die Tür ins Schloss gefallen, lässt er die Luft aus den Lungen entweichen. Er hat gar nicht bemerkt, wie er den Atem angehalten hat.
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Jaemin wird nicht leiser, aber das war sowieso schon klar. Und Jeno hat auch irgendwie nicht die Kraft dafür, ihm noch einmal gegenüber zu treten und ihm zu sagen, dass er zu laut ist. Stattdessen muss er dauernd an ihn und sein pfirsichfarbenes Haar und seine schönen Augen und sein blödes Lächeln denken, das Jeno bis in seine Träume verfolgt.
Es vergeht noch eine Woche, in der er nichts drehen kann, nicht einmal abschnittsweise. Sobald die Kamera steht und das Mikrofon läuft, passiert wieder etwas, das ihm einen Strich durch die Rechnung macht. Mittlerweile hat er es über sich gebracht, sich bei seinen Followern zu entschuldigen, aber weil er weiß, dass dieser Renjun einer von denen ist, die seinen Tweet und die Ankündigung auf YouTube sicher lesen, fällt es ihm doppelt schwer.
Er weiß nicht, ob Jaemin schließlich selbst dahinter kommt, oder ob Renjun ihm noch einmal Feuer unterm Hintern gemacht hat, aber eines (späten) Abends steht er ganz plötzlich vor Jenos Tür. Jeno ist zuerst verwirrt als es klopft, er war seit Stunden damit beschäftigt, sich durch ein Sachbuch zu arbeiten, aus dem er noch immer einige Dinge zusammenfassen muss, und hat deswegen total die Zeit aus den Augen verloren. Als er auf sein Handy schaut, ist es schon nach Mitternacht. Zuerst denkt er deswegen, er hätte sich geirrt, aber dann klopft es noch einmal und er geht zur Tür.
Überraschend ist der Anblick des pfirsichfarbenen Haarschopfes in der Außenkamera dann aber doch nicht, denn tatsächlich ist es nebenan ungewohnt ruhig. Als Jeno die Tür öffnet kommt er nicht dazu, auch nur ein Wort zu sagen, denn Jaemin schiebt eine Packung Schokoriegel in sein Blickfeld und fängt an zu reden wie ein Wasserfall. „Okay, nur dass das klar ist: Renjun hat mich dazu gezwungen, ich würde das sonst nicht machen, weil ich das kitschig finde, aber es tut mir leid, dass ich immer so laut bin und es nicht auf die Reihe bekomme, die Hausregeln zu respektieren oder meinen Scheiß zu regeln, damit andere Leute normal ihr Leben leben können, schlafen und morgens aufstehen und zur Arbeit, bloß muss ich immer irgendwie im Mittelpunkt stehen und außerdem–"
„Warte mal", sagt Jeno und schüttelt den Kopf. Er nimmt Jaemin die Schokoladenpackung aus der Hand und sieht endlich sein Gesicht. Der Andere ist ein bisschen rot und außer Atem von seinem Redeschwall, aber seine Augen funkeln immer noch genauso sehr wie beim letzten Mal.
„Aber ... im Skript stand noch mehr", sagt er. Und Jeno muss lachen, weil Jaemin plötzlich so hilflos aussieht, wie er selbst sich in den meisten Momenten seines kläglichen Lebens fühlt, wenn er vor einem anderen Menschen steht. Jetzt sieht er auch, dass der Andere sein Handy in der freien Hand hält und allem Anschein nach davon abgelesen hat. Als er bemerkt, dass Jeno das kapiert, versteckt er es verlegen hinter seinem Rücken. „Man, sorry", sagt er kleinlaut. „Wenn ich eins nicht kann, dann sind es Entschuldigungen."
„Willst du damit sagen, dass dein Freund dir die Entschuldigung geschrieben hat, die du mir eben vorgelesen hast?" Nicht einmal Chenle würde auf eine so hirnrissige Idee kommen.
„Naja, das stimmt nicht ganz", verteidigt Jaemin sich. „Ich hab mir auch noch selbst was ausgedacht. Und die Schokolade war auch meine Idee, das musst du mir glauben!"
Für einen Moment starrt Jeno ihn nur an. Ihn und sein schönes Gesicht und sein Lächeln und diese strahlenden Augen, und den zu großen Hoodie und– „Willst du reinkommen?" Er hat es ausgesprochen, bevor er versteht, was es bedeutet. Jaemin starrt zurück, bis Jeno wieder etwas sagt. „Ich meine ... ich kann nicht alle Schokoriegel allein essen und– naja." Wie schön wäre es jetzt, wenn sich der Boden auftun könnte.
„Okay", sagt Jaemin und dann lächelt er wieder. Jeno lässt ihn eintreten und Jaemin zieht seine Schuhe aus, nimmt Jenos Hausschuhe an und tritt dann endgültig in sein Reich.
Jeno hat nicht oft Besuch. Er mag es nicht, wenn Leute zu ihm nach Hause kommen, weil das so ziemlich der einzige Ort ist, der nur ihm gehört. Deswegen lädt er seine Eltern auch ungern ein. Der einzige regelmäßige Besuch ist Chenle einmal die Woche, freitags vielleicht, oder donnerstags nach seinem letzten Kurs. Jetzt erkundet sein Nachbar den begrenzten Platz und es ist wirklich seltsam, dass plötzlich jemand Fremdes hier ist; und er hat ihn auch noch selbst reingelassen.
„Sieht schön aus", sagt Jaemin. „Bei mir siehts immer noch nicht so gut aus, ich bekomme es nicht hin, endlich die letzten Sachen auszupacken." Er zuckt mit den Schultern und schiebt die Hände in die Taschen. „Also, wo drehst du?"
Diese Tür bleibt für gewöhnlich immer verschlossen. Das Zimmer, das Jeno als Studio auserkoren hat, ist gleichzeitig auch die Wäschekammer und so schmal, dass er gerade so am Tisch vorbei gehen kann, wenn er sich setzen will. Es grenzt zudem direkt an Jaemins Wohnung an und hat nur ein einziges, winziges Fenster ganz oben in der Ecke, was ihm aber sowieso nichts bringt, wenn er immer nachts dreht. Deswegen nehmen die Softboxen und das Kamerastativ den ganzen restlichen Platz ein. „Ist kein Profistudio", sagt Jeno verlegen, als er die Tür aufschiebt. „Aber für gewöhnlich reicht es." Er hat die hintere Wand vor längerer Zeit blau angestrichen und wenn ihm danach ist, dann kann er eine Leinwand an den beiden Haken ganz oben in der Wand aufhängen.
„Sieht irgendwie trostlos aus", findet Jaemin und schiebt die Unterlippe nach vorn. Er quetscht sich zum restlichen Equipment in den Raum und Jeno muss ihm unrecht geben; wenn er mit drin ist, dann ist es überhaupt nicht mehr trostlos.
„Wie sollte es denn deiner Meinung nach aussehen?", fragt er. „Hast du schon mal ASMR-Videos gesehen? Die meisten Leute drehen vor einem schwarzen Hintergrund oder einfarbig dunkel. Das sieht immer so aus."
„Aber so ein paar Extras wären doch voll cool." Jaemin schiebt die Unterlippe nach vorn. „Ein paar Poster oder so. Da, an der leeren Wand. Das würde alles ändern." Er dreht sich zu Jeno um und mustert ihn nachdenklich mit schief gelegtem Kopf. „Was magst du so? Mal abgesehen von Essen."
„W-Was?" Jeno geht rückwärts wieder aus dem Zimmer, als Jaemin näher kommt. Er kann mit Nähe umgehen, zumindest dachte er das. Chenle klebt äußerst gern an ihm und Taeyong ist ebenfalls niemand, der etwas gegen physischen Kontakt hat. Aber bei Jaemin ist es irgendwie anders. Wenn Jaemin in seiner Nähe ist, dann klopft ihm sein Herz bis zum Hals, er spürt wie seine Ohren heiß werden und irgendwie kann er dann plötzlich überhaupt nicht mehr normal damit umgehen, geschweige denn noch zu Atem kommen, bevor ihm die Luft ausgeht.
„Ganz offensichtlich magst du Essen, sonst würdest du nicht diese Videos drehen." Jaemin stemmt die Hände in die Seiten und sieht sich weiter in Jenos (zugegebenermaßen sehr spärlich eingerichteten) Wohnung um. „Hier sieht es ja überall gleich aus", stellt er fest und schiebt die Unterlippe nach vorn. „Magst du überhaupt irgendwas außer Essen?"
Ich mag dich, will Jeno sagen, aber er verkneift es sich im letzten Moment. Höchstwahrscheinlich ist es dafür noch viel zu früh. „Naja", sagt er verlegen. „Ich mag Autos? Und Fußball?" Jaemin grinst, versucht vergeblich, ein Lachen zu stoppen, doch schließlich prustet er los. „Was?", fragt Jeno beleidigt.
„Sag mir, dass du ein Junge bist ohne mir zu sagen, dass du ein Junge bist", keucht Jaemin.
„Hey! Auch Mädchen können Fußball mögen! Und Autos." Empört sieht Jeno ihn an. „Und außerdem, wessen Haare sind hier rosa?"
„Siehst du, ich breche alle Geschlechternormen." Jaemin dreht sich einmal mit ausgestreckten Armen um sich selbst. „Ich mag Blumen und Badminton und rosa Hoodies. Und Katzen." Er legt den Kopf schief, lächelt. „Versuch's nochmal."
Jeno räuspert sich. Sie stehen immer noch mitten in seiner Wohnung und obwohl es seine eigene ist, ist es so seltsam. „Ich mag Autos, Fußball und ... Disneyfilme?" Oh Gott. „Und ich mag ... Tiere."
„Was für Tiere?" Jaemins Augen beginnen begeistert zu leuchten, als er das Wort hört. Vielleicht bemerkt er selbst es nicht, aber er beugt sich immer weiter nach vorn in Jenos Richtung.
„So ... flauschige? Hunde, Katzen ... Hasen? Ich hab bald eine Katze."
Jaemin schnappt theatralisch nach Luft und legt sich eine Hand auf die Brust. „Verarsch mich nicht."
„Nein, ich war letzte Woche mit einem Freund im Tierheim und habe mir eine ausgesucht. Wobei ich mich eigentlich nicht entscheiden konnte zwischen zweien. Also– werden es vielleicht sogar zwei?"
Jaemins Augen leuchten jetzt so hell, als hätte jemand ein Feuer darin entfacht. Jeno kann den Blick überhaupt nicht davon abwenden, hat Angst davor, dass es wieder kalt wird, wenn er es tut. Jaemins Augen sind unendlich. „Ich ziehe bei dir ein, wenn du eine Katze bekommst, das weißt du schon, oder?"
„Müssen wir uns dazu nicht ein bisschen besser kennen?", fragt Jeno, weil Jaemins Offenheit ihn schon wieder verlegen macht.
„Wieso, ich weiß doch jetzt was du magst." Jaemin zuckt mit den Schultern. „Das reicht mir schon." Und dann lässt er sich einfach so aufs Sofa fallen, streckt die Beine aus und starrt aus dem Fenster neben dem Bett. „Hey, dein Ausblick ist viel schöner als meiner!"
„Ansichtssache", sagt Jeno atemlos, weil Jaemin auf seinem Sofa etwas mit ihm macht. Mit seinem Herzen, das ihm beinahe aus der Brust springen will, während er dem Anderen beim Atmen zusieht. Oh Himmel, wenn er das Chenle erzählt, dann wird der ihn nie wieder damit in Ruhe lassen.
„Wenn du schon keine Deko hier drin hast, dann wenigstens einen guten Ausblick." Jaemin legt den Kopf in den Nacken, bis er Jeno ansehen kann, und dann schenkt er ihm wieder dieses umwerfende Lächeln. Kann er nicht mal aufhören zu lächeln? Jeno bekommt davon so weiche Knie, dass er das dringende Bedürfnis verspürt, sich irgendwo gegen zu lehnen. Oder sich zu setzen, aber der Tisch ist zu weit weg und neben Jaemin aufs Sofa ist irgendwie gerade keine Option.
„Willst du ... Willst du einen Tee?", fragt er, weil die Stille immer lauter wird, er immer noch mitten im Raum steht und nicht weiß was er als nächstes tun soll. In seiner eigenen Wohnung.
„Hast du auch Kaffee?", fragt Jaemin und drückt sich vom Sofa hoch. Schon an diesen Anblick könnte Jeno sich gewöhnen; wie Jaemin inmitten seiner Wohnung steht, als wäre sie seine, und so schön aussieht, dass es weh tut.
„Kaffee?" Als Jeno auf die Uhr schaut ist es Viertel nach Zwei. „Jetzt noch?" Jaemin zuckt mit den Schultern. „Kein Wunder, dass du nie schläfst. Ist das überhaupt gesund?"
„Ich bezweifle, dass irgendwas, das ich in meinem Leben tue, gesund ist." Jaemin grinst und zuckt noch einmal mit den Schultern. „Aber ich bin furchtlos und lebe den Moment."
„Tja, leider wird in dieser Wohnung nach zehn kein Kaffee mehr ausgeschenkt", sagt Jeno und schenkt ihm ein unschuldiges Lächeln. „Alles was ich dir anbieten kann ist Matcha. Hat mal jemand hier vergessen, ich mag das Zeug nicht."
„Jeno", quengelt Jaemin. Jeno könnte schwören, dass sein Herz für einen Moment stehen bleibt. „Willst du, dass ich sterbe?" Er schiebt die Unterlippe nach vorn und macht große Augen, macht alles nur noch schlimmer als es sowieso schon ist.
„An Kaffeemangel?" Jeno grinst und dreht sich weg, damit Jaemin sein rotes Gesicht nicht sieht. Er tut so, als würde er ganz professionell sein Teeregal durchforsten. Selbst wenn Jaemin ihn fast dazu bringt, alle seine Geschütze wieder einzufahren, muss er standhaft bleiben. Es kann wirklich kaum gesund sein, wenn er so spät immer noch Kaffee trinkt. Außerdem hat Matcha auch Koffein, sogar mehr als Kaffee. „Gehst du Schlaf aus dem Weg oder so?"
„Hmm, weiß nicht. Vielleicht", sagt Jaemin. Er starrt an die Decke und zupft an einem losen Faden an seiner Jogginghose herum. „Ich mag Kaffee einfach, das gibt mir einen schönen Kick und ich kann normal funktionieren. Nicht so wie jetzt. Diese blöde Entschuldigungsaktion hat mir die ganze Energie entzogen und jetzt–" Er unterbricht sich selbst mit einem Gähnen. Selbst dabei schafft er es, lauter als jeder gewöhnliche Mensch zu sein. Aber Jeno hat eigentlich längst kapiert, dass Jaemin nicht gewöhnlich ist. „Siehst du, das sind Anzeichen dafür, dass es mit mir zu Ende geht."
„Machst du jeden Atemzug so theatralisch oder versuchst du gerade bloß, mich dazu zu bringen, die Kaffeemaschine, die wohlgemerkt zwanzig Minuten braucht, bis sie mal heiß ist, doch noch anzustellen?"
„Ich weiß nicht was du meinst." Jaemin schielt in seine Richtung, aber dann muss er wieder grinsen. Und dann kichert er, versteckt es hinter seiner Hand, und Jeno ist drauf und dran, zu Boden zu gehen, weil seine Knie mittlerweile die Konsistenz von warmem, flüssigem Gelee haben.
„Vielleicht– Vielleicht solltest du einfach schlafen?" Noch nie hat ihn ein anderer Mensch so nervös und schwach gemacht wie Jaemin. Noch nie war er so peinlich vor jemandem, der ihm ganz langsam immer wichtiger wird. Wenn er so weitermacht, dann wird er den Anderen niemals beeindrucken können – mit was auch immer.
„Aber schlafen ist so ... langweilig. Ich will den Mond sehen. Und die Sterne. Und ich will etwas streicheln, am besten irgendwas Kleines, Flauschiges." Dabei krümmt er seinen ganzen Körper zusammen und tut so, als hielte er etwas Winziges in den Händen. Schließlich seufzt er, dreht sich zu Jeno um. „Aber vielleicht hast du recht und ich sollte einfach schlafen, damit du deine Videos machen kannst und ich tagsüber normal funktioniere." Dieser Wandel ging schon wieder so schnell, dass Jeno gar nicht mehr hinterher kommt. Na Jaemin, wer verdammt bist du und was machst du mit mir?
„So ernst hab ich das jetzt auch nicht gemeint–", beginnt Jeno, aber Jaemin unterbricht ihn, indem er vom Sofa aufspringt und in seine Richtung schlappt, wobei er beinahe über seine eigenen Füße stolpert. Jenos Hausschuhe sind ihm viel zu groß.
„Doch, doch, weißt du wieso?" Er bleibt so dicht vor Jeno stehen, dass der wieder die Sterne in seinen Augen sehen kann. Und den Riss in seiner Unterlippe, ebenso wie die winzigen, kaum sichtbaren Sommersprossen auf seiner Nase. Oh, er ist so schön, Jeno will ihn für immer behalten. Viel zu spät fällt ihm wieder ein, dass der Andere ihm eine Frage gestellt hat.
„W-Warum?", krächzt er unbeholfen, schüttelt den Kopf, als wollte er Jaemin abschütteln. Als wäre das jetzt noch möglich.
„Weil ich einkaufen muss!", sagt Jaemin feierlich. „Am Tag. Wahrscheinlich sind da dann ganz viele Menschen und ich werd Kopfschmerzen bekommen, weil es so hell ist, aber ich muss echt dringend einkaufen!" Er hüpft schon fast zur Tür, schlüpft wieder in seine eigenen Schuhe. „Bist du morgen Abend zu Hause?", fragt er, die Hand schon an der Türklinke, während Jeno immer noch wie versteinert an der Küchenzeile steht.
„Äh– ja, ich glaube?"
„Sehr gut!" Jaemin reißt die Tür auf. „Wir sehen uns!" Er will sie schon hinter sich zuziehen, aber da kann Jeno sich endlich zusammenreißen und ihn zurückhalten.
„Warte!" Er nimmt die Packung mit den Schokoriegeln, reißt sie auf und fischt zwei heraus, bevor er sie Jaemin zuwirft. Er fängt sie und schenkt ihm noch ein letztes Lächeln.
„Gute Nacht, Jeno!"
„Gute Nacht, Jaemin", wispert Jeno, aber da ist die Tür schon hinter ihm zugefallen.
__________
Am nächsten Abend steht Jaemin dann tatsächlich wieder vor seiner Tür. Dieses Mal ist Jeno kaum besser darauf vorbereitet als gestern, aber er hatte heute keine Kurse, konnte ausschlafen und hat sich gegen später im Schlafanzug an den Tisch gesetzt, gegessen, eine Stunde mit Chenle telefoniert und sich dann danach in seinen Lernsachen vergraben. Und schon wieder die Zeit vergessen. Jedenfalls ist es dunkel draußen als es klingelt, und Jeno flucht leise, als er den pfirsichfarbenen Haarschopf in der Kamera erkennt. Deswegen eilt er ins Bad, wäscht sich sein Gesicht und fährt sich wie wild mit den Fingern durch die Haare, bis es noch einmal klingelt. „Ja!", ruft er, eilt zur Tür und reißt sie viel zu schwungvoll auf.
„Hi", sagt Jaemin. Er sieht nicht viel besser aus als Jeno, aber das macht sein Lächeln alles wieder wett. Unter seinem Arm klemmen mehrere Papierrollen, in der freien Hand hält er eine Tasche und irgendwie gleichzeitig einen Plastikbecher, der noch halb voll mit irgendeiner bestialisch dunklen Flüssigkeit ist.
„Hi", sagt Jeno. „Heute keine Rede?"
„Ach, das haben wir doch längst hinter uns", sagt Jaemin und winkt ab. „Und ich hab keine Hand mehr frei, also– darf ich?" Er zeigt an Jeno vorbei.
„Ähm, kommt drauf an, was hast du da?"
„Ist nichts Schlimmes, versprochen." Jaemins Lächeln ist sowieso viel zu entwaffnend, Jeno kann gar nichts dagegen tun, als er die Tür bereitwillig weiter öffnet.
Jaemin tritt ein, streift sich die Schuhe von den Füßen und nimmt wieder Jenos zu große Slipper an. „Ich habe mir Gedanken gemacht", platzt es dann aus ihm heraus, sobald die Tür ins Schloss gefallen ist. Er sieht aus, als könnte er es kaum erwarten, Jeno alles zu erzählen. „Du brauchst mehr Deko. Und etwas, das diese Wohnung oder wie auch immer du es nennen willst, wohnlicher macht. Und deswegen ..." Er hält die Papierrollen ein bisschen umständlich in die Luft. „Deswegen hab ich das hier mitgebracht. Ich hab extra für dich eingekauft." Er grinst so stolz, dass Jeno ihm gar nicht böse sein kann.
„Du– Du hast für mich eingekauft?", bringt er nur hervor.
„Jep! Halt mal." Jaemin drückt ihm die Tasche und seinen Becher in die Hand, dann lässt er die Rollen zu Boden gleiten und rollt eine davon auf. Ein gigantischer, schwarzer Hase starrt Jeno von dem DIN A3 Poster aus an, und Jaemin hält ihn sich so stolz vor die Brust, dass Jeno beinahe lachen muss. „Süß oder?" Er strahlt wieder, aber jetzt weiß Jeno endlich, woran ihn sein Lächeln erinnert, weil er das Bild davon direkt vor sich hat.
„Das ist–", beginnt er, aber bringt den Satz nicht zu Ende, weil er gar nicht das richtige Wort dafür findet. Am liebsten würde er das Poster über sein Bett hängen.
„Bitte sag, dass es süß ist, ich bin im Laden fast gestorben!" Jaemin hüpft ungeduldig auf der Stelle und schiebt die Unterlippe nach vorn.
„Ja, es ist süß", sagt Jeno und grinst. Er ist sich nicht ganz sicher, ob er Jaemin oder den Hasen meint. Oder beide.
Jaemin sucht den Platz für das Poster aus (natürlich im Studio, weil er findet, dass es da am besten passt), und dann zeigt er Jeno auch die anderen Poster; irgendein Auto, aber er scheint nicht unbedingt begeistert davon zu sein und lässt ganz schnell wieder davon ab, zwei Landschaftsbilder, die er als sehr passend für "Jenos Aesthetic" empfindet, ein kleineres König der Löwen-Poster aus der Realverfilmung, und eines von Die Schöne und das Biest in derselben Größe. Jeno ist gerührt von seiner Geste, und wünschte, er könnte sich richtig dafür bedanken. Stattdessen kämpft er irgendwann mit den Tränen, weil er so überfordert ist. Das hat noch nie jemand für ihn getan, und dann kommt Jaemin und stellt alles auf den Kopf? Das ist viel zu viel für sein Routineleben.
„Ich hab noch mehr", erklärt Jaemin, als sie die Landschaftsbilder aufgehängt haben und eigentlich immer noch nach einem Platz für die Disney-Poster suchen (wobei Jeno für neben dem Fernseher ist, Jaemin sie aber neben dem Fenster will, als würde das einen so großen Unterschied machen). Er hebt die Tasche vom Boden auf, wo Jeno sie vorhin liegen gelassen hat. „Das sind eher unnötige Sachen, aber bei dir steht auch nichts rum, also dachte ich, das kann bestimmt auch wohin." Zwei Winkekatzen, eine Popfigur von Bambi und eine von Elsa aus Frozen. Ein paar künstliche Blumen und ein Blumentopf mit einer Sukkulente drin in Form von Mini-Groot, den Jaemin am liebsten selbst behalten würde, letztendlich aber doch auf einer Ablage über der Küchenzeile platziert.
„Das hättest du echt nicht tun müssen." Jeno kann schon gar nicht mehr lächeln, so sehr freut er sich und so sehr will er zur selben Zeit heulen. Und Jaemin küssen, aber das ist neu und er geht dem Gedanken noch ein bisschen aus dem Weg.
„Ich hab's gerne getan." Jaemin lässt sich aufs Sofa fallen, wie gestern. „Du solltest mal meine Bude sehen, da siehts viel schlimmer aus. Das hier ist gar nichts dagegen." Er hebt seinen Becher an die Lippen und trinkt einen Schluck. Jeno konnte vorhin schon riechen, dass es Kaffee ist, und bis jetzt fragt er sich, was für eine Art, weil er noch nie so dunklen Kaffee gesehen hat.
„Trotzdem, das ist ... Das hat noch nie jemand für mich getan." Ein bisschen erschöpft sinkt er neben Jaemin ins Polster, spürt seine Präsenz neben sich und wünscht sich, dass der Moment für immer bleibt. Und wenn er sich eines Tages eine Erinnerung aussuchen muss, an die er für immer denken kann, dann will er diese hier nehmen.
„Kann ich morgen wieder vorbeikommen?", fragt Jaemin ganz plötzlich in die Stille zwischen ihnen hinein.
„Ich–", beginnt Jeno und öffnet die Augen, sieht ihn an. Ihn und sein schönes Gesicht, und die dunklen Augen mit den Sternen drin, die plötzlich so unsicher aussehen, wie er sich die ganze Zeit fühlt, wenn er mit Jaemin zusammen ist.
„Du musst nicht Ja sagen, bloß ... Mit dir ist es nachts irgendwie erträglicher." Jaemin beißt sich auf die Unterlippe und wendet den Blick ab, als würde er es bereuen, etwas gesagt zu haben.
„Warum schläfst du nicht? Also, ich habe nichts dagegen, aber vielleicht solltest echt aufhören, so viel Kaffee zu trinken, das kann ja wohl kaum gesund se–"
„Ich kann nicht schlafen, Jeno. Es geht nicht, ich weiß nicht wieso, aber manchmal, da habe ich dann sogar Angst davor, obwohl es vielleicht völlig unbegründet ist, und dann ... ist es eben noch schwieriger, Ruhe zu finden. In mir drin ist ständig so viel los, weißt du, den ganzen Tag, das ist wie ein Sturm, der durchgängig wütet und an allem zerrt. Nachts ist es immer am schlimmsten und dann brauche ich immer was zu tun, weil ich sonst im Sturm untergehe. Deswegen bin ich wahrscheinlich so laut."
„Oh." Jeno wünscht sich, er könnte etwas Nützlicheres sagen.
„Du bist auch eher nachts wach, oder? Wegen deiner Videos. Ich hab niemanden, der nachts so lange wach ist, weißt du. Renjun und Hyuck sind eher so medium wach und mehr mit sich selbst beschäftigt, also habe ich quasi niemanden und manchmal ... manchmal ist das so schwer." Er seufzt verzweifelt und fasst sich an die Stirn.
„Warum erzählst du mir das alles?" Vielleicht gibt es eine bessere Antwort. Eine, mit der er ausdrücken kann, dass er froh ist, dass Jaemin sich ihm anvertraut, dass es okay ist und dass er es schätzt. Aber stattdessen kommt sowas, wow Jeno. „Ich meine, das ist gut, du solltest es nicht in dich reinfressen aber ich? Ich kenne dich seit etwas mehr als einer Woche und drei Tage davon haben wir uns wirklich gesehen? Das ist nur ... viel."
„Naja", sagt Jaemin und sieht ihn zögerlich wieder an. Jeno fühlt sich, als hätten sie die Rollen getauscht; plötzlich sieht er sich in Jaemin. „Du machst den Sturm erträglich."
Okay. Damit hat er nicht gerechnet. Aber, das ist gut, oder? Das ist irgendwie richtig gut, und etwas in ihm drin explodiert ganz bunt und kribbelnd. „I-Ich?"
„Ja, du." Jaemin lächelt wieder ein bisschen. „Du."
„Ich", flüstert Jeno und fragt sich, ob das der richtige Zeitpunkt ist, um Jaemin zu küssen, wenn der sowieso schon so weit in seine Richtung gerückt ist, dass er seinen Atem an seinem Hals spüren kann. „Meinst du das ernst?"
„Todernst", sagt Jaemin, jetzt ist er noch näher.
„Und was bringt dich zu der Annahme?"
„Wenn ich bei dir bin, dann ... fühlt es sich immer an, als würde der Sturm die Luft anhalten, eine Pause machen, weil du jetzt da bist. Immer, wenn ich dich sehe." Jaemins Kopf sinkt final auf Jenos Schulter. „Das war schon so, als ich dich zum ersten Mal drüben gesehen habe. Deswegen war ich vielleicht so creepy, aber ich konnte nicht damit umgehen irgendwie."
„Du hast mich angestarrt wie die Grinsekatze", sagt Jeno und lacht leise. „Ich dachte mit dir stimmt was nicht."
„Tut's ja auch."
„Ja, aber auf eine Art und Weise, die auf keinen Fall schlimm ist. Niemals. Eigentlich finde ich es fast schon schön. Du bist schön." Jeno starrt auf seine eigene Hand, die plötzlich überhaupt nicht mehr in seiner Gewalt zu sein scheint, und sich wie von selbst in Richtung Jaemins bewegt, bis er mit dem Finger über seinen Handrücken streichen kann. Er spürt, wie Jaemins Atem stockt, als er die Hand dreht, damit seine Handfläche nach oben zeigt, und Jeno die Finger zwischen seine schieben kann.
„Lass mich nicht los", flüstert Jaemin, klammert sich an Jenos Hand wie an einen Rettungsring. Und Jeno weiß irgendwie auf Anhieb, dass er Jaemin niemals loslassen wird.
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