> 𝗞𝗮𝗽𝗶𝘁𝗲𝗹 𝟰𝟬

Je mehr Tage vergehen, desto größer wird der Abstand zwischen letztem Samstag und dem Samstag heute. Mit gelingt es immer besser, den Kuss zu verdrängen. Mittlerweile denke ich höchstens nur noch vier Mal täglich daran. Die Gespräche darüber ebben auch immer weiter ab und ich werde nicht mehr komisch von der Seite angeschaut. Man könnte also sagen, dass ich wieder unsichtbar geworden bin, was mich wirklich erleichtert. Ich will nicht ewig das Mädchen sein, das vor unserem halben Jahrgang mit  dem Blake rumgeknutscht hat.

Zwischen ihm und mir ist alles... okay, schätze ich. Morgens fahren wir immer noch gemeinsam zur Schule, auch wenn diese Woche eine gewisse Distanz zwischen uns herrschte, haben wir uns so normal wie möglich verhalten. Das bedeutet, wir haben nicht mehr über Samstag gesprochen, sondern über sein anstehendes Spiel gegen die Schule des Nachbarorts und Filme. Anfangs fühlte sich alles eher gezwungen an, aber irgendwann habe ich mir befohlen, mich zu beruhigen und mir unsere Freundschaft nicht von so einer Sache zerstören zu lassen. Unglaublich, wie leicht alles zu sein scheint, wenn man sich einmal entspannt und bestimmte Gedanken an den Rand drängt.

Genau diese Tatsache hat mich auf die Idee gebracht, nochmal mit Fiona zu sprechen, mit der ich nun schon seit längerer Zeit weder geschrieben, noch telefoniert habe. Ich habe mein Handy bereits in der Hand, als plötzlich eine Nachricht eingeht. Hey, hast du gerade Zeit? Blake. Zögernd öffne ich die Nachricht und sehe, dass er noch online ist und mit großer Wahrscheinlichkeit auch gesehen habt, dass ich seine Nachricht gelesen habe. Mist. Seufzend antworte ich ihm. Hey. Ja, ist etwas passiert?

Es dauert nicht lange und ich bekomme sofort eine Antwort. Nein, alles ist gut. Hast du Lust, einen Film zu schauen?

Mit einer Bewegung setze ich mich auf und lege das Handy zur Seite. Habe ich Lust darauf? Ja, warum auch nicht. Ist ja nicht so, als wäre es der erste Film, den wir gemeinsam gucken. Trotzdem macht sich ein komisches Gefühl in mir breit. Soll ich wirklich zusagen?

Mein Handy brummt. Du kannst dir auch diesmal den Film aussuchen.

Ich atme tief durch und tippe eine Antwort. Okay.

Ich beiße mir auf die Unterlippe, als ich sehe, dass er die Nachricht gesehen hat. Als er schreibt, beginnt mein Herz schneller zu schlagen. Gut. Kann ich dann rüberkommen?

Schlagartig verändert sich meine Nervosität in Aufregung. Nein. Meine Eltern sind unten, was bedeutet, dass wir den Film nicht im Wohnzimmer gucken können, sondern bei mir im Zimmer. In meinem Zimmer. Meine Kehle ist plötzlich wie zugeschnürt. Will ich ihn wirklich in mein Zimmer lassen? Ich schüttle den Kopf. Gott, was ist denn los mit mir? Ist ja nicht so, als hätte er es nicht schon weitem gesehen. Ist ja nicht so, als wüsste ich nicht, wie er wohn und er nicht, wie ich wohne. Mittlerweile wissen wir so viel voneinander, dass so ein kleines Detail auch nicht mehr viel ausmacht.

Ja, klar.

Bin schon unterwegs.

Was?! Jetzt schon? Verdammt! Ich dachte, ich hätte noch mindestens eine Viertelstunde oder so, bis er hier ist. Schnell springe ich auf und renne die Treppe nach unten, doch Dad ist schneller an der Tür und hat diese bereits geöffnet. „Blake! Ich etwas passiert?", fragt dieser überrascht, als Blake eintritt.

„Nein, Peter. Avery und ich wollen einen Film gucken", antwortet er und deutet mit einem Nicken in Richtung Treppenansatz, auf dem ich mit einem gequälten Lächeln stehe.

Dad folgt Blakes Blick und sieht mich mit zusammengezogenen Augenbrauen an. Oh Mann. Dann blickt er wieder zu Blake. Gerade will er etwas sagen, als Mom in den Flur tritt und uns drei erwartungsvoll anschaut. Das wird ja immer peinlicher. „Hallo, Blake. Schön, dich zu sehen. Was ist denn los?"

„Die beiden wollen einen Film gucken", sagt Dad versucht normal, doch mir entgeht sein misstrauischer Blick nicht. Ich will gar nicht wissen, was er gerade denkt.

Aufmerksam hört Mom zu. als Dad nichts mehr sagt, blickt sie ihn verwirrt an. „ist doch schön. Wo ist denn das Problem?", fragt sie.

„Sally", beginnt er und beugt sich näher zu ihr. Ich kann nicht hören, was er sagt, aber ich bin mir sicher, dass es um die Tatsache geht, dass Blake ein Junge ist und ich ein Mädchen und wir gemeinsam in meinem Zimmer einen Film gucken wollen. Alleine. Peinlich berührt umklammere ich das Treppengeländer. Er denkt doch nicht wirklich, dass... Oh Gott, nein. Auf keinen Fall. Vor wenigen Wochen hat es noch keinen interessiert, wenn wir einen Filmnachmittag gemacht haben, wo ist also jetzt das Problem?

Blake scheint sich ebenfalls unwohl zu fühlen. Nervös tritt er von einen Fuß auf den anderen und vergräbt seine Hände in den Hosentaschen. Er sieht zur mir und ich werfe ihm ein entschuldigendes Lächeln zu, welches er mit Mühe erwidert. So kompliziert hatte er das sich bestimmt nicht vorgestellt.

Mom und Dad unterhalten sich nun etwas lauter und wenden sich schließlich wieder uns zu. „Wenn etwas ist, könnt ihr immer Bescheid geben. Wir haben Popcorn, wenn ihr möchtet", bietet Mom uns freundlich an. Dad dagegen wirkt wie das Gegenteil von freundlich. Er grummelt etwas vor sich hin und verzieht sich wieder ins Wohnzimmer.

„Komm rein, Blake. Ist ja nicht so, als wärst du das erste Mal hier", lacht Mom.

„Äh ja, natürlich. Danke", stammelt er leicht und erwidert ihr Lächeln. Oh Hilfe.

„Kommst du kurz mit, Avery? Dann kann ich dir schnell das Popcorn mitgeben." Mom geht in die Küche und ich tapse ihr hinterher. Sie kramt bereits im Schrank nach dem Popcorn und legt es zu den zwei Gläsern und der Flasche Limo auf den Tisch. „Danke, Mom."
Schnell nehme ich alles und bin schon so gut wie aus dem Raum, als Mom mich nochmal zurückruft. „Ja?"

Sie tritt auf mich zu und schaut mich mit ihrem typisch mütterlichen Gesichtsausdruck an. Ich habe schon eine Befürchtung, in welche Richtung das hier geht. „Bitte halt mir jetzt keinen Vortag, Mom."

Sie legt ihre Stirn in Falten. „Das hatte ich auch nicht vor." Gott sei Dank. Ich glaube nicht, dass ich das überlegt hätte. „Ich weiß, dass ihr nur einen Film schauen möchtet. Ich kenne Blake. Er ist ein vernünftiger Junge und ich vertraue euch beiden. Du weißt ja, wie dein Dad ist. Es ist nichts Persönliches."

Ich nicke. „Ja. Dann gehe ich mal." Bevor sie noch etwas sagen kann, bin ich schon aus der Küche und gehe auf Blake zu, der unbeholfen im Flur steht. Ich muss ein Grinsen unterdrücken. Das ist so gar nicht Blake-Parker-mäßig.

„Ist alles okay?", fragt er besorgt.

„Ja, alles bestens." Ich deute auf die Sachen in meiner Hand. „Wir haben Popcorn und Limo."

Ein Lächeln zeichnet sich auf seinen Lippen ab. „Perfekt." Unwillkürlich muss ich auch lächeln. Es ist einfach unmöglich nicht zu lächeln, wenn Blake Parker dich anlächelt.

„Dann gehen wir mal in mein Zimmer." Ich stehe bereits auf der ersten Stufe, als Blake seine Hand vor mich hält. „Lass mich dir etwas abnehmen."

Daran habe ich gar nicht gedacht. „So viel zu tragen ist das doch nicht." Doch Blake besteht darauf. „Ist doch egal. Außerdem komme ich mir blöd vor, wenn ich nichts trage und du beide Hände voll hast."

„Okay." Ich gebe ihm die Chips und wir gehen in mein Zimmer.

Dort angekommen, lege ich die Sachen auf meinen Schreibtisch und sehe mich flüchtig um, ob hier irgendwas rumliegt, das Blake lieber nicht sehen sollte. Was nicht der Fall ist. Zum Glück hatte ich heute Morgen den Drang, mein Zimmer aufzuräumen. Als hätte ich es irgendwie geahnt.

Während Blake die Chips zu der Limo und den Gläsern legt, schaut er sich in meinem Zimmer um, was er nicht einmal zu verstecken versucht. „Wow."

Nervös spiele ich am Reißverschluss meiner Jacke. „Was ist?"

„Dieses Zimmer spiegelt dich unglaublich gut wider", sagt er anerkennend und lächelt.

Unsicher erwidere ich sein Lächeln. Keine Ahnung, was ich von diesem Kommentar halten soll.

„Ich wusste ja, dass du Musik magst, gerne liest und selbst Klavier spiest, aber wow! Wenn ich mir nur dein Zimmer ansehen würde, ohne dich zu kennen, hätte ich sofort das Gefühl, als würde ich dich schon kennen."

Mittlerweile glaube ich, auf dem besten Weg zu sein, den Reißverschluss meiner Jacke kaputt zu machen, wie ich daran reiße. Noch nie habe ich mein Zimmer so betrachtet, als wäre es eine Widerspieglung meiner selbst. Ich habe es einfach so eingerichtet, wie ich es wollte und mit den Dingen, die ich mag und brauche.

„Sorry, Avery. Ich wollte nicht so direkt sein, aber das hat mich etwas überrascht."

Mit einer wegwerfenden Handbewegung versuche ich es locker abzutun. „Ach, schon okay. Sollen wir dann den Film schauen?"

Blake stimmt erleichternd zu und wir setzen und auf mein Bett, den Laptop zwischen uns, sodass genug Abstand zwischen uns ist.

„Also, für welchen Film hast du dich entschieden?", fragt er interessiert.

„Na ja, da deine Idee mit dem Film etwas plötzlich kam, fallen mir spontan Filme ein, die ich mag, von denen ich aber glaube, dass du sie nicht mögen wirst."

Blake zieht seine Augenbrauen zusammen. „Wieso nicht?"

„Ich bezweifle, dass du Romcoms magst."

„Na ja, also..."

Ich grinse. „Siehst du? Das dachte ich mir bereits." Blakes Lippen verziehen sich zu einem entschuldigenden Lächeln. „Aber ich kenne auch wirklich gute Filme, die man meiner Meinung nach unbedingt gesehen haben muss. Und einen davon werden wir heute gucken."
Ich mache eine Pause. „Wir gucken 10 Dinge, die ich an dir hasse."

An seinem Gesichtsausdruck ist zu erkennen, dass Blake mit diesem Titel nichts anfangen kann. Gespielt frustriert nehme ich meinen Laptop auf den Schoß und öffne Netflix. Dort suche ich den Film und drücke auf play. Als der Film startet, stelle ich ihn wieder in die Lücke zwischen uns und hole die Chips

„Worum geht es?"

„Lass dich einfach darauf ein, Blake", sage ich und lehne mich zurück. „Und genieße es."

*

Nachdem der Film nach einer Stunde und 37 Minuten vorbei ist, ist die Chipstüte leer und ich reibe mir mit einem Taschentuch über die Augen.

„Ehrlich? Du weinst?", fragt Blake belustigt. „Es ist doch niemand gestorben."

„Ich weiß", schniefe ich. „Aber das Gedicht von Kat über Patrick war so... und ihre Gefühle dabei..."

„Das war doch nur gespielt, Avery."

„Nein, war es nicht. Julia Stiles, die Schauspielerin, die Kat Stratford gespielt hat, hat dabei wirklich geweint und das stand nicht im Skript", erzähle ich, woraufhin Blake leicht verblüfft wirkt. „Oh. Wow."

Ich drehe mich zu ihm. „Du kannst mir doch nicht sagen, dass dich das kalt gelassen hat."

„Nicht wirklich, aber..."

„Das nächste Mal gucken wir Wie ein einziger Tag. Das wirst du auf jeden Fall auch weinen, Blake, das verspreche ich dir. Und wenn das noch nicht der Fall wein sollte, gucken wir Das Schicksal ist ein mieser Verräter oder..."

Schmunzelnd unterbricht Blake mich. „Beruhige dich mal wieder, Avers. Ich bin nicht so nah am Wasser gebaut. Ja, die Szene war emotional, aber ich weine einfach nur nicht so schnell."

„Okay. Aber du musst wissen, dass selbst mein Dad geweint hat, als wir Wie ein einziger Tag gesehen haben. Und wenn ich sage, er hat geweint, meine ich, er hat richtig geheult."

Blake lacht auf und löst mit diesem Laut ein Kribbeln in meinem Magen aus. „Das kann ich mir bei ihm kaum vorstellen." Seine Miene verdüstert sich. „Aber wenn ich daran denke, wie er mich eben angesehen hat, bin ich mir sicher, dass er noch viele andere Seiten an sich hat."

„Die hat er."

Ein unangenehmes Schweigen breitet sich zwischen uns aus. „Er war nicht extra so fies, weißt du. Es ist nur so, dass... also..." Oh Mann. Warum ist es nur so schwer, darüber zu reden?

„Ich verstehe schon", seufzt er. „Ich bin ein Junge und du bist seine Tochter..."

„So ähnlich, ja", flüstere ich und schäme mich sofort dafür. Das klingt ja, als würde mein Dad denken, dass Blake und ich sonst was tun wollen würden... Oh Gott. Nein. Niemals. „Aber du weißt ja, wie Väter sind", rutscht es mir heraus. Erst, als ich es ausgesprochen habe, wird mir klar, was ich da gerade gesagt habe und schlage mir eine Hand vor den Mund. „Oh mein Gott, das tut mir leid. Das wollte ich nicht sagen. Es ist mir nur so rausgerutscht."

„Schon okay." Blakes Lippen sind zu einem gequälten Lächeln verzogen. Ich wünschte, ich könnte die Zeit um wenige Sekunden zurückdrehen. Warum musste ich ausgerechnet sowas sagen?

„Nein, es tut mir wirklich leid, Blake. Ich habe nicht gedacht und ich wollte damit eigentlich nur sagen, dass Eltern sich ja immer Sorgen machen und so." Hilfe. Ich reite mich gerade immer weiter rein.

Mit seinen warmen umfasst Blake meine Hände. „Avery! Ich sagte doch, es ist okay. Du musst mich nicht mit Samthandschuhen anfassen. Aber trotzdem danke."

Ich höre kaum noch was von dem, was er sagt. Zu sehr bin ich seine schönen Augen versunken. Unwillkürlich muss ich wieder an Samstag denken, als er auch so nah vor mir saß und mir zuflüsterte, ich solle keine Angst haben. Mein Herzschlag erhöht sich und meine Hände beginnen an den Stellen zu kribbeln, die Blake berührt. Nein! Ich ziehe meine Hand schnell zurück und tue so, als müsste ich husten und stehe auf, um etwas zu trinken.
Erschrocken springt Blake auf und stellt sich neben mich. „Ist alles in Ordnung?"

„Ja. Ja, alles bestens." Meine Aussage quittiere ich noch mit einem Lächeln. Doch er scheint nicht ganz überzeugt zu sein. „Okay. Wie du meinst. Ich wollte dann mal gehen. Gleich gibt es Abendessen."

Kurz hilft er mir noch, alles wieder aufzuräumen und dann begleite ich ihn auch schon zur Tür. „Bis morgen."

„Bis morgen." Hinter ihm schließe ich die Tür und atme tief durch.

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