Jede Mittagspause traf ich mich mit Seungmin im obersten Geschoss der Schule und gemeinsam redeten über alle möglichen Dinge. Ich erfuhr durch Zufall, dass er seine Mutter vor knapp zwei Jahren durch einen Autounfall verlor und er nun allein mit seiner kleinen Schwester und seinem Vater, mit dem er sich eher wenig verstand, in einer viel zu kleinen Wohnung zusammenwohnte. Seine Schwester kam des Öfteren bei seinen Großeltern unter, weil sein Vater nicht mit zwei Kindern gleichzeitig zurecht kam. Selbst nach zwei Jahren nicht. Daher boten diese ihm immer noch an, das Mädchen am Wochenende und an einigen Wochentagen zu sich zu nehmen. Aber er selbst war gezwungen bei seinem Vater zu bleiben.

Ich bekam selbst eine Gänsehaut, als er mir das gesagt hatte. Was würde ich ohne meine Mutter machen? Ich wäre echt aufgeschmissen ohne sie, wenn ich ehrlich zu mir selbst war. Auch wenn sie manchmal anstrengend sein konnte. Aber das waren wir wohl alle einmal.

Heute feierte Felix seinen Geburtstag nach, da genau an diesem Tag ein Lehrer meinte, eine dicke fette Klassenarbeit schreiben zu müssen, die den ganzen Jahrgang betraf. An sich konnte es mir ziemlich egal sein. Der Australier hätte so oder so gefeiert. An welchem Tag, war ihm letztlich egal. Meine Mutter hatte mich verdonnert spätestens um zehn Uhr abends nach Hause zu kommen, als Konsequenz für mein unsinniges Verhalten. Ich empfand es als übertrieben, aber mich dagegen zu wehren, half trotz allem nichts. Das würde schlussendlich nur noch mehr Drama ergeben, als es ohnehin schon war. Felix war anfangs enttäuscht darüber, aber hatte sich damit abgefunden, dass ich nicht die ganze Zeit vor Ort war.

"Deine Mutter ist echt nett.", sagte Seungmin, der gerade in mein Zimmer gekommen war. Meine Mutter hatte ich, trotz dem ganzen Trubel der letzten Tage, irgendwie überreden können, dass der Rothaarige bei mir schlief, weil er einen viel längeren Weg zu Felix hatte und er ungern allein sein wollte. Eigentlich wollte er erst bei Jeongin übernachten, aber dieser hatte ihm abgesagt, weil er vorhatte die ganze Nacht bei Felix zu bleiben. Jisung übernachtete natürlich bei seinem Freund, weswegen ich letztendlich als Einziger in Frage kam. Da wir uns bis jetzt ziemlich gut verstanden, hatte meine Mutter sogar eingewilligt. Eigentlich mochte sie es nicht, wenn meine Freunde hier übernachteten. Immerhin war sie der Meinung, dass sie ein eigenes Bett bei sich zu Hause hatten, auf dem sie schlafen konnten. Da ich aber schon Kompromisse machen musste, musste sie nun auch welche eingehen.

"Manchmal kann sie echt anstrengend sein."
"Sie erinnert mich an meine Mutter. Genauso liebevoll und süß."
"Süß? Hast du gerade meine Mutter wirklich süß genannt?", lachte ich und warf ihm ein Kissen ins Gesicht. Breit grinste der Brillenträger und schmiss es wieder zurück auf seinen ursprünglichen Platz.
"Vielleicht? Es gibt Mütter, die können wirkliche Biester sein. Väter genauso. Aber dann gibt es solche, die sind wie Engel."
"Ich überdenke meine Freundschaft nochmal.", meinte ich mit einem Grinsen. Der Rothaarige empfand das allerdings nicht als so lustig. Er sah ziemlich niedergeschlagen aus und ich war mir ziemlich sicher, dass er das nicht spielte. Hatte er meine Aussage wirklich derartig ernst genommen, dass er sich dadurch angegriffen fühlte?

"Alles in Ordnung?" Er nickte nur und richtete seinen Blick gegen Boden. Ein schlechtes Gewissen kam in mir auf und ich war mir echt nicht sicher, wie ich reagieren sollte. So eine Situation hatte ich in meinem Leben noch nie von jemanden bekommen, als ich einen Witz machte. Vielleicht war Seungmin jemand, der sensibler war, die Dinge persönlicher nahmen als die meisten anderen. Auch wenn es nur ein dummer Scherz war, den man riss. Letztlich konnte ich mir keinen Reim darauf machen, sodass ich ihn still schweigend musterte und die Situation dadurch verschlimmerte, weil ich meinen Blick von von ihm abwandte.

"Ich brauch eine Sekunde." So lief er aus meinem Zimmer und ließ mich perplex stehen. Was war plötzlich mit ihm los?