Tag 3 - Harte Schläge (2)

Peter

Peter erwachte. Nackt. Es war immer noch hell und die Sonnenstrahlen fielen schräg durch das Fenster. Das Bett neben ihm war leer. Seine nassen Klamotten lagen zerknüllt daneben.

»Carmen?« 

Keine Antwort. 

Stille durchzog die Wohnung. Seltsam. Verwirrt stand er auf und schaute sich um. Keine Spur von ihr. Kein Zettel oder Nachricht. Als hätte er alles geträumt. War das denkbar? Er hatte einen ziemlichen Schock und starke Schmerzen nach dem Hagelschauer. Sein Rücken pochte. Nochmals sah er sich genauer um. Roch an seinem Kissen. Hm ... Schwer zu sagen. Er meinte den Shampoo-Duft ihrer Haare wahrzunehmen, aber eventuell bildete er sich das ein.

Zum Schluss setzte Peter sein VR-Headset auf und prüfte seine eigenen Daten. Das Robo-Taxi und die Medikamente hatte er aus eigener Tasche bezahlt. Die Wohnung hatte er persönlich aufgeschlossen. An weitere Überwachungsdaten kam er zumindest von zu Hause nicht ran. Auf eine Kamera oder KI-Überwachung seines Wohnraumes verzichtete er bewusst. Und ganz ehrlich: Würde ihn eine umwerfend attraktive, fünfzehn Jahre jüngere Frau dermaßen dreist verführen? Vor allem ihn? Einen dicklichen Beamten, der aus gutem Grund auf das andere Geschlecht nur in der VR zuging? Eher nicht.

Er schüttelte den Kopf. Nein. Das musste definitiv eine Einbildung gewesen sein. Der Schock, die Schmerzen, der Stress – das passte alles zusammen. Alles andere war Wunschdenken. Außerdem war es besser so, schließlich hatte er Kristina und Hedda, die auf ihn warteten. Im Moment fühlte er sich jedoch noch nicht in der Lage, um mit ihnen zu sprechen.

Zunächst ging er duschen und machte sich einen starken Kaffee, um wieder klar zu werden. Anschließend entschuldigte er sich bei Roland und berichtete von seinem Missgeschick mit dem Hagelschauer. Sie verabredeten sich erneut, diesmal für den frühen Abend und er versprach, ein Robo-Taxi zu nehmen.

Diese heftigen Wetterumschwünge gab es bereits vor hundert Jahren in München. Damals wurden einmal pro Jahrzehnt Autos, Rollläden und Häuserfronten vom Hagel zerschlagen. Heute passierte das monatlich. Die Münchener hatten sich im Laufe der Zeit daran gewöhnt und ihre Häuser und Fahrzeuge gesichert. Nur wer dumm genug war, zu Fuß unterwegs zu sein, musste bei Bedarf schnell eine Schutzzone erreichen.

Gegen 18:00 Uhr betrat er den gläsernen Aufzug. Zwischendurch hatte er noch kurz Kristina und Hedda in der VR besucht und ihnen von seinem Missgeschick mit dem Hagel berichtet. Seine seltsame Carmen-Halluzination überging er dabei geflissentlich. Der Lift rauschte an der Fassade eines der neuen Glastürme am Rande des Karlsplatzes in die Höhe. Das Sky-Café lag auf dessen Dach im fünfzehnten Stock. Nicht sehr hoch, wenn man es mit den Wolkenkratzern am Stadtrand verglich. Nachdem vor fünfzig Jahren die Beschränkung gefallen war, nicht höher zu bauen als die Türme der Marienkirche, waren diverse Bürotürme in der Innenstadt entstanden. Ein Fehler, wie die Investoren nur ein Jahrzehnt später feststellen mussten. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Büroarbeit nahezu vollständig in die VR und die heimischen vier Wände verlagert. Heute standen die meisten diese Bausünden leer. Sie abzureißen und in etwas Neues zu investieren, wollte in der heutigen Zeit jedoch ebenfalls niemand.

Oben angekommen, öffneten sich die Glastüren und gaben den Blick auf ein Café-Restaurant frei, dass eine grandiose Aussicht über die Münchener Innenstadt bot. Rote und schwarze Dächer erstreckten sich zu beiden Seiten, während die Drohnenschwärme unmittelbar über sie hinwegzogen. Der Gastraum war komplett mit einer Glaskuppel überdacht, sodass der Hagel hier lediglich ein nettes Schauspiel gewesen wäre. Die Tische waren einladend weiß gedeckt, aber nur vier besetzt. In einer entfernten Ecke saß Roland und winkte ihm zu. Sein Kollege war um die vierzig und hatte schütteres schwarzes Haar sowie eine Halbglatze. Er bemühte sich, seine Platte mit einer Handvoll Haarsträhnen zu kaschieren. Damit betonte er diese im Grunde umso mehr.

Peter setzte sich gegenüber und verzog das Gesicht, als er die blauen Flecken auf seinem Rücken und Unterarmen spürte.

»Servus«, grüßte er seinen Kollegen auf Deutsch, »und sorry, dass ich das verschieben musste. Ein Hagelschauer hat mich voll erwischt.«

Roland schaute ihn besorgt an und legte seine Stirn in Falten. »Grüß dich. Wir hätten uns auch morgen treffen können.«

»Na', passt schon. Du hast was Spannendes entdeckt?«, kam er direkt zur Sache, um nicht weiter über seinen Nachmittag sprechen zu müssen.

»Allerdings.« Sein Kollege warf einen kurzen Blick in die Runde, bevor er fortfuhr: »Die Presse-KI, die du mir geschickt hast, ist im Grunde nur ihrem Training gefolgt. Sie hat von den Drohnen Bildmaterial gesammelt, es bewertet, geschnitten und bei Bedarf Prognose-Animationen hinzufügen lassen. Ihr Hauptziel war dabei, eine möglichst große Zuschauerzahl zu erreichen, ohne ihre ethische Grundprogrammierung zu verletzen.«

»Okay, das ist klar. So funktionieren die Teile halt.«

»Genau. Aber diese KI hat sich im Laufe der Zeit das amerikanische Journalistenmotto ›Only bad news are good news‹ zu eigen gemacht. Daher zog sie reißerische, emotionale Bilder den harmlosen, langweiligen vor. Präferierte somit den Überfall einer Gang, dem fröhlich lachenden Jungen auf dem Spielplatz.«

Bisher erzählte ihm Roland nichts Neues. »Ja, ist klar. Komm zum Punkt.«

»In diesem Fall ist sie über das Ziel hinausgeschossen: Sie hat sich eine Prognose erstellen lassen, die mehr Zuschauer versprach als das tatsächliche, harmlose Ende. Das sollte ihrer einprogrammierten Ethik widersprechen. Tat es auch.« Sein Kollege beugte sich vor und sprach im verschwörerischen Tonfall: »Jetzt kommt der Clou. Die KI hat selbstständig einem Weg gefunden, diese Sperre zu umgehen. Sie hat die Ganger schlicht als schützenswerte Quellen eingestuft. Dafür erfand die KI folgende Begründung: Die Drohne wurde am Ende des Clips mit Steinen angegriffen. Das war versuchte Sachbeschädigung. Um die Quellen – hier die Ganger – vor Strafverfolgung zu schützen, hat die KI dann den Rest des Videos fallen gelassen und durch die Prognose-Animation ersetzt.«

»Halt, Augenblick amoi!« Peter konnte kaum glauben, was er da hörte, und hob abwehrend seine Hände. »Das ist ein ziemlicher Schmarrn und kann niemand für voll nehmen. Die Nötigung der Familie vorher war genauso eine Straftat.«

In dem Moment kam die Bedienung. Sie bestellten beide Soja-Schnitzel Wiener Art mit Pommes und Weißbier. Das Bier hatte er dringend nötig. Erst diese Carmen-Halluzination und jetzt das.

»Denk mal drüber nach.« Roland holte ihn aus seinen Gedanken zurück. »Aus Sicht eines holistisch denkenden Menschen hast du recht. Aber die Presse-KI ist im Grunde ziemlich beschränkt. Sie verfolgt nur ihre antrainierten Ziele: Mehr Zuschauer sind gleich mehr Werbeeinnahmen. Dem ordnet sie alles andere unter, natürlich ohne die Ethikregeln zu verletzten.«

Peter pfiff leise durch seine Zähne. »Verstehe. Du meinst die Presse-KI war am Ende vermutlich sogar stolz auf sich, dass sie eine clevere Lösung gefunden hatte, die beide Zielstellungen erfüllte.«

Roland nickte. »Korrekt. Exakt das konnte ich in ihrem internen Belohnungssystem nachvollziehen. Diese Methode hat sie im Laufe der Zeit perfektioniert.«

So weit, so schlecht. Diese KI hatte gelernt, sich selbst auszutricksen. Blieb eine wichtige Frage: »War das ein Einzelfall bei dieser KI?«

»Nein und ja.« Sein Kollege schüttelte vehement den Kopf. »Also nein: Diese KI hat dieses Prinzip schon zigmal angewendet und mit jedem Erfolg gelernt, dass sie auf dem richtigen Weg war. Das ist eindeutig auszulesen. Ich kann dir nicht sagen, was genau sie in der Vergangenheit getrieben hat. Du hast mir nur den KI-Algorithmus geliefert, nicht die gesamte Datenhistorie.«

»Mist, daran habe ich nicht gedacht. Ich bin mir sicher, dass diese Historie nicht mehr existiert.« Zumindest hätte er anstelle dieser Redakteurin im Nachgang alles radikal gelöscht, was mit dieser KI zu tun haben könnte. »Und wieso, das Nein?«, hakte Peter nach.

»Nun ja ... weil die KI nicht grundsätzlich negative Nachrichten bevorzugt und entsprechende Prognosen erstellt hat.«

»Nicht?« Was kam jetzt?

»Nein. Sondern nur bei Migrations- und Fluchtthemen. Es macht für mich den Eindruck, dass das bereits in Grundtraining der KI verankert wurde.«

Den Gedanken verfolgend stellte Peter klar: »Wer auch immer diese Presse-KI ursprünglich trainiert hat, hat sie also von Anfang an mit massiven Vorurteilen gegenüber Flüchtlingen ausgestattet?«

»So sieht es für mich aus. Da es sich um Training, nicht um Programmierung handelt, dürfte das schwer nachzuweisen sein.« Roland zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid, das ist eine Schweinerei, aber wird sich kaum beweisen lassen. Mehr habe ich nicht für dich.«

In diesem Moment kam ihr Schnitzel, das die Pommes wie eine Bettdecke unter sich versteckte. Sie verbrachten den Rest des Essens mit unverfänglichen Themen. Peter war nicht mehr bei der Sache. Er hatte es eilig nochmals ins Büro zu kommen, um ein paar Thesen nachzuprüfen, die ihm durch den Kopf geisterten.

Spät in der Nacht hatte sich sein Verdacht bestätigt.

Im ersten Jahr wurden positive Dinge rund um die offene Grenze im Mittelmeer hervorgehoben: neue Absatzmärkte in Afrika, die Einbürgerung besonderer, talentierter Menschen und so weiter. Diese Welle war schnell abgeflaut. Gleichzeitig stieg die Anzahl von prognostizierten Enden, Fake-Animationen, massiv. Und nahezu alle waren negativ behaftet. Auch die öffentlich verfügbaren Statistiken waren eindeutig: Die Zahl der Zuschauer, die sich kurz nach der Wall-Zerstörung für das Positive und Neue interessierten, war im Laufe der Zeit gesunken. Um das Publikum am Ball zu halten, brauchte es Bad News, wie es Roland formulierte. Die KIs suchten explizit nach schlechten Ereignissen. Nicht nur das: Sie begannen, den Flüchtlingen Verbrechen anzudichten, oder provozierten diese absichtlich. So wie im Fall der Massenpanik in Cabo del Gata von gestern.

Er fand bei seiner händischen Recherche Hunderte ähnlicher Fälle. Es existierten auch positive Nachrichten. In der Flut von automatisch generierten negativen News gingen diese allerdings komplett unter. Leider war nicht festzustellen, welcher Anteil der Berichte von KIs oder realen Personen erstellt worden war. Er konnte es sich jedoch vorstellen.

Gänsehaut überzog seinen Rücken wie eine Schicht Raureif im Zeitraffer: Diese neue Art legaler Fake News, die sich gegen die Flüchtlinge richteten, hatte Methode. Und es war nicht eine Presse-KI, deren moralischer Kompass zu wünschen übrigließ: Es waren alle.

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