Tag 1 - Abweichende Lebenswelten (2)

Jacques

»Papaaa!« Lucas warf sich jauchzend in seine Arme, als er von der Schaukel sprang. Jacques war fasziniert, mit welchem Urvertrauen sein Sohn davon ausging, dass man ihn auffing und er sich kein blutiges Knie auf dem kaputten Straßenbelag holte.

»Es geht los! Le grand carrousel!« Nun war es an ihm den Kleinen herumzuwirbeln, während er ihn fest unter den Schultern gepackt hielt.

»Huiiii, noch mal, noch mal!«, rief Lucas begeistert.

Sie lachten beide, während sich sein Sohn wieder der Schaukel zuwendete. Langsam wurde ihm der Kleine, der für seine dreieinhalb Jahre ein ordentliches Gewicht auf die Waage brachte, zu schwer für dieses Spiel.

»Mach erst mal allein weiter!«, rief Jacques zurück und winkte ab.

Damit wandte er sich um und ging zu Kara, die auf einem halbzerbröselten Betonklotz am Rande ihres Spielplatzes neben anderen Eltern saß. Spielplatz war gut. Sie befanden sich in einem zerfallenen Hinterhof. Trotz ihrer Versuche, die Häuser wieder bewohnbar zu machen, lugten unter abgefallenem Putz graue Ziegel hervor. Jahrzehnte alte Farbe blätterte von den Fensterrahmen und intakte Glasscheiben existierten ebenfalls keine mehr. Die Schaukel bestand aus einem vermoderten Brett, das mit zerfasernden Seilen an einer verrosteten Metallstange verknotet war. Den Sandkasten hatten sie mit verdrecktem Kies vom Stadtrand aufgefüllt. Aber wenn er ehrlich war, sah es in seiner Heimat Algerien in den Hinterhöfen vieler Städte nicht viel anders aus. Nur, dass sie sich hier in Europa befanden. Dem grünen Kontinent. Von wegen. Ihr Städtchen Cabo del Gata, benannt nach dem felsigen Kap, das zwei Kilometer entfernt in das Mittelmeer ragte, lag mitten in der südspanischen Wüste. Es war eine natürliche Anlaufstelle für Migranten, die die beschwerliche Reise über das Mittelmeer überstanden hatten.

»Wow, wie der Kleine wächst.« Jacques stöhnte übertrieben, während er sich neben Kara auf dem Stein fallen ließ. »Ich frag mich, wie wir ihn hier später zu einer Schule schicken können. Vermutlich müssen wir dafür zurück nach Algerien.«

»Tja, das ist eine gute Frage.« Seine Frau schaute nachdenklich zu Lucas. »Wir haben es uns so ausgesucht. Vom Zauber des Anfangs ist nicht viel übrig geblieben. Fast jeden Tag kommen neue Menschen mit Booten an. Und die Behörden lassen uns neuerdings in Ruhe. Es gab schon seit Monaten keine Rückführungen mehr. Alejandro und Olivia gehen langsam die Ideen aus, wie wir alle versorgen können.«

Jacques war sich unsicher, wie die Geschichte weiterging. Bisher hatten sich Neuankömmlinge und Rückführungen durch die Behörden die Waage gehalten. Dabei kam es nur selten zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Fast immer hatten sich genügend Freiwillige gefunden, die erkannten, dass sie in der ZEU keine echte Zukunft hatten. Aber die politische Stimmung in der ZEU wurde im Laufe der letzten vier Jahre ständig fremdenfeindlicher. Und aus unerklärlichen Gründen hatten die Rückführungen vor einigen Monaten aufgehört. Die Stadt platzte inzwischen aus allen Nähten.

»Lass uns ins Centro gehen. Es ist kurz nach Mittag.« Kara riss ihn aus seinen Gedanken. Ohne eine Antwort abzuwarten, stand sie auf. »Lucas, kommst du? Wir wandern ins Centro zu deinen Freunden!«

Das ließ sich der Kleine nicht zweimal sagen, im Zentrum des verfallenen Städtchens war immer was los. Auch war es kein Problem, die Kinder dort in einer Art lockeren Tagesbetreuung mit anderen spielen zu lassen, ohne dass groß was passieren konnte.

»Papaaa! Wir spielen Hoppe Hoppe Reiter! Du bist das Pferd!«

Sie spazierten die zerlöcherten Straßen mit den zweistöckigen Häusern in Richtung Centro entlang. Ihm fiel auf, wie sehr sich die Stadt im Laufe der letzten vier Jahre verändert hatte. Die ehemals verfallene, halbversunkene Geisterstadt war in eine quirlige Flüchtlingsmetropole mit über zweitausend Einwohnern mutiert. Die beigen Fassaden wurden ausgebessert, löchrige Dächer geflickt und Fensterläden repariert. Bei ihrer ersten Ankunft waren sie in den einsamen Gassen und Ruinen vor der Polizei und Killerdrohnen auf der Flucht gewesen. Heute hatten sie hier ihr eigenes Heim, Freunde und Nachbarn. Sie halfen Alejandro und Olivia die Stadt mit ihren neuen, weitläufigen Gewächshäusern für die Neuankömmlinge bewohnbar zu machen. Es gab Strom, Wasser und Essen. Mehr nicht.

»Hey, hey, wo will'n die junge Familie hin?«, hörte er eine weibliche Stimme von hinten auf Arabisch rufen.

Als er sich umwandte, sah er auf der anderen Straßenseite eine tätowierte Frau, die sie zusammen mit drei Halbstarken beäugte. Alle deutlich jünger als er mit seinen vierundzwanzig Jahren, dennoch gefährlich. Ganger. Er hatte damals in Algerien üble Erfahrung mit diesem Gesindel gemacht. Im Grunde taten sie ihm leid. Jugendliche, die nichts mit ihrem Leben anfangen konnten und keine Perspektive hatten. Die Gangs gaben ihnen zumindest ein gewisses Gefühl der Zugehörigkeit – und der Macht, wenn es darum ging, scheinbar Schwächere zu belästigen oder zu bestehlen.

Er versuchte sie zu ignorieren, nahm Kara an die Hand und wechselte zügig auf die andere Straßenseite. Trappelnde Schritte folgten ihnen und kamen näher. Mit seinem Sohn auf den Schultern konnte er vergessen wegzurennen. Es half nichts, also blieb er zusammen mit seiner Frau stehen und drehte sich um. Die drei Ganger, in kaputten Jeans mit fleckigen T-Shirts und Jacken sowie schlechten Zähnen, die sie jetzt grinsend zeigten, waren auf fünf Meter herangekommen.

»Is' aber unhöflich, einfach so weiterzugeh'n, ohne uns zu grüßen.« Es war wieder das Mädel, das sie mit falschem Lächeln ansprach. »Wenn ihr schon nicht mit uns sprechen wollt, habt ihr doch bestimmt ein paar Gutscheine oder Eurodollars für uns.«

Es war Kara, die gelassen blieb und nicht auf die Provokation einging: »Wenn ihr euch ein paar Gutscheine verdienen wollt, dann kommt einfach ins Centro. Dort gibt es genug Arbeit.«

Das würde nicht funktionieren. Jacques musste Schlucken und sein Herz pumpte mit schweren Schlägen rauschendes Blut in seinen Schädel.

»Al'dä! Sehen wir aus wie Bauarbeiter, die Bock ha'm, in der Hitze Pissrinnen für die Neuen zu buddeln?« Sie baute sich vor Kara auf und streckte die Brust vor, während einer ihre Kumpane ein langes Messer aufblitzen ließ.

»Papaaa!«, mischte sich Lucas ängstliche Kinderstimme über seinen Kopf ein. »Ich habe Angst! Lass uns gehen. Ich mag die böse Frau nicht!«

Mist, er musste ihn hier wegbringen.

»Oh, wie süüß«, ätze die Tätowierte, »pass' bloß auf, dass dem Kleinen nicht passiert, 'ne? Also? Was is' jetzt?«

»Wir haben keine Gutscheine oder Geld«, beteuerte Kara. »Ehrlich, ich würde es euch geben, wenn ich könnte.«

Das entsprach leider der Wahrheit. Sie hatten nichts Nennenswertes dabei.

»Rafael, gib dem Alten und dem Kleinen mal 'nen Piecks, vielleicht überlegt die Schlampe 's sich dann anders«, wandte sich die Frau an den Kerl mit dem Messer.

»Hey, jetzt lasst mal gut sein!«, rief Jacques dazwischen. Lucas begann, ihm ins Ohr zu brüllen. »Wir besorgen euch ja was, aber wir haben wirklich nichts dabei.«

»Los, Rafael, mach hin.« Sie gab dem Bewaffneten einen Wink. »Verpass dem Alten ein nettes Andenken von uns. Und stopf dem schreienden Balg das Maul! Danach schau'n wa' mal, was die dabeihaben.«

Jacques wirbelte herum, um trotz der schlechten Chancen das Heil für sich und Lucas in der Flucht zu suchen. In diesem Moment hörte er ein deutliches Surren über sich. Alle stoppten in ihren Bewegungen und hoben die Köpfe. Dort schwebte schräg hinter ihnen eine Media-Drohne mit ihrem Kameraauge. Am Logo konnten sie sehen, dass diese von einem der bekannten Nachrichten-Streams kam. Scheinbar hatte sie die ganze Szene aufgezeichnet und wollte sich gerade in eine bessere Position bringen, um die kommende Action aufzuzeichnen.

»Mist! Was ist das denn?«, kam der Ausruf von dem zweiten Typen, der bisher geschwiegen hatte.

»Bitte recht freundlich. Eure Gesichter laufen gerade in allen großen Nachrichtenportalen.« Es war Kara, die geistesgegenwärtig den Spieß umdrehte und verblüffend cool blieb. »Seht zu, dass ihr Land gewinnt! Gleich ist hier mit Sicherheit die Hölle los, die Stadtpolizei hat das bestimmt auch Live gesehen.«

»Los, verzieh'n wir uns. Hab'n ja nichts gemacht, oder? War nur'n Späßchen zwischen Freunden.« Die Tätowierte schubste missmutig ihre Kameraden an, damit diese abdrehten. Nicht, ohne Kara und ihm einen Blick zuzuwerfen, der nichts Gutes verhieß.

Deutlich hörbar stieß er seinen Atem aus. »Merde. Das war knapp.«

Zügig lief er weiter und holte dabei Lucas von seinen Schultern. Er gab ihn Kara auf den Arm, die versuchte, den Kleinen zu beruhigen. Die Media-Drohne flog den Gangern hinterher. Als diese mit Steinen und Müll nach ihr warfen, drehte sie ab.

Das mit der Polizei war ein Bluff. Die gab es hier nicht. Aber dass sie in diesem Moment in irgendwelchen Nachrichten-Streams erschienen, war leider nicht unwahrscheinlich.

»Moment, warte«, meinte Kara. Sie blieb zwei Blocks weiter stehen und setzte sich auf die Stufen eines Hauseingangs. Lucas war von dem ganzen Stress in ihren Armen eingeschlafen. »Bevor wir zu Olivia und Alejandro gehen, müssen wir uns überlegen, wie wir für unsere eigene Sicherheit sorgen können.«

Olivia

Olivia stand auf dem Dach des höchsten Gebäudes von Cabo del Gata. Es hatte vier Stockwerke, das reichte, um sich einen Überblick über das Umland der Stadt zu verschaffen. Die brennende Sonne störte sie nicht. Rund um die Ortschaft erstreckten sich in einem einen Kilometer weiten Radius mit Plane bespannte weiße Flächen. Dahinter folgten Sand, verkrüppelte Bäume und in der Ferne die Silhouetten schroffer Hügel. Unter den Planen fanden sich Gewächshäuser für Obst und Gemüse. Diese hatten Alejandro und sie hier gemeinsam mit frühen Migranten im Laufe der ersten drei Jahre zu Selbstversorgung – und ehrlicherweise zur Selbstbeschäftigung – aufgebaut.

Nach der Vernichtung des Walls durch Diego und seinen Mitstreitern vor vier Jahren nutzten die Menschen in Nordafrika die neu gewonnene Freizügigkeit. Sie erreichten zu Tausenden die europäische Südküste. So wie hier in Cabo del Gata, dem Kap der Katzen, wo Alejandro und sie es sich zur Aufgabe gemacht hatten, zumindest eine Grundversorgung aufzubauen.

Im Gegensatz zu allen anderen Menschen in dieser Stadt waren sie reguläre ZEU-Bürger. Und somit als einzige in der Lage, Dinge des täglichen Bedarfs, Medikamente, Baumaterial, Strom und Wasser zu beschaffen. Ehrenamtliche Hilfsorganisationen, die sich darum kümmern könnten, waren in der ZEU verboten. Genauso wie das Sammeln von Spenden und jede andere Aktivität, die der Staat für sich beanspruchte – und unter Kontrolle halten wollte. Inzwischen hatte sich trotz aller Restriktionen eine Art Schattenwirtschaft aus freiwilligen Helfern etabliert, die diese Aufgaben übernahmen. Bisher ließ man sie gewähren.

Aktuell richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf einen Bereich, der einen halben Kilometer weiter vor der Stadtgrenze lag. Dort wirbelten grobschlächtige Baudrohnen, Bagger und Roboter eine Menge Staub auf, während sie einen fünf Meter hohen Pfahl im Boden verankerten. Es war einer von Hunderttausenden, die mit drei bis vier Schritt Abstand die gesamte Stadt umzingelten. Wie eine Kette schwarzer Zahnstocher schlängelten sie sich scheinbar endlos in beide Richtungen an der Küste entlang.

Sie hob den Feldstecher, den sie um den Hals trug, und zoomte den Bereich bei den Baumaschinen heran. Der hohe Zaun war dort fertig, zwischen den Pfählen spannten sich vertikale Stahlstreben wie bei einem Gefängnis. Zu eng, als dass ein Mensch sich hindurchquetschen konnte. Zu glatt, um hinaufzuklettern. Mehrfach gewickelter Klingendraht bildete den Abschluss. Sie hatte gehört, dass eine Mauer mindestens viereinhalb Meter hoch sein müsse, damit man intuitiv die Hoffnung aufgab, hinüberklettern zu können. Da war was Wahres dran.

»Was meinst du, wie lange brauchen die noch, bis der Zaun fertig ist?« Sie wandte sich mit besorgter Mine an Alejandro, der neben ihr stand. Seine wirren Haare und der melierte Vollbart gaben ihrem Mann etwas Messiashaftes.

»Keine Ahnung, Olivia. Aber es wird unsere Situation nicht verbessern. In den Häusern ist kaum noch Platz für Neuankömmlinge.« Er zuckte ratlos mit den Schultern. »Die Stimmung hat sich gewandelt. Am Anfang hatte man sich bemüht, die Erstaufnahmelager zu vergrößern und aus denen mit Potenzial gute ZEU-Bürger zu machen. Später haben sie begonnen, sie mit Schiffen wieder zurückzubringen. Und heute ...«

»... heute ist jeder Migrant ein Mörder, ein Vergewaltiger oder eine Prostituierte, wenn man den Streams Glauben schenkt«, setzte sie seinen Gedanken fort. »Ich weiß. Daher wird jetzt ein neuer ›Wall‹ gebaut. Nur nicht mehr in der Mitte des Meeres, sondern nahe dem Ufer zum europäischen Inland. Scheinbar hat die ZEU auch die Rücktransporte mit den Schiffen eingestellt. Die ankommenden Menschen sollen einfach elendig davor verrecken.«

Nicht nur ihre Stadt, die gesamte Südküste würde mit der massiven Grenzanlage vom Rest Europas abgeschnitten.

»Ja, das scheint die Strategie von unserem neuen Innenminister Theo Mäuser zu sein«, stimmte er ihr zu.

»Aber das wird auf Dauer nicht gut gehen. Früher oder später bringt jemand schwere Waffen aus Algerien mit und sprengt ein Loch in den Zaun.«

»Hm ...« Er strich über seinen Bart. »Möglich. Vielleicht wartet Mäuser nur darauf und will es bewusst eskalieren lassen? Bisher wurden die Migranten als arme, aber harmlose Menschen wahrgenommen. Eher lästig als störend. Was wäre, wenn man sie in Zukunft als gewaltbereite Terroristen abstempeln würde?«

Darüber wollte sie lieber nicht nachdenken. Bei den martialischen Tönen, die Mäuser bereits heute spuckte, konnte das nicht gut ausgehen.

Wenige Minuten später spazierten sie durch die Straßen mit den Häusern, die langsam von den Einwohnern der ehemaligen Geisterstadt instandgesetzt wurden. Überall sahen sie neue Gesichter. Kinder rannten durch die Gassen. Einige Familien versuchten, an kleinen Ständen etwas dazu zu verdienen. Den Centraleuro, kurz CE, die offizielle ZEU-Währung konnte niemand von ihnen verwenden, da er nur digital existierte. Das Bargeld war vor Jahrzehnten abgeschafft worden. Und man benötigte für alles eine ZEU-Identität, die keiner der Migranten besaß. Sie konnten in der ZEU weder etwas kaufen noch hier arbeiten oder eine Wohnung mieten. Auch die Cloud war für sie gesperrt. Selbst einfache Telefongespräche in die Heimat waren nahezu unmöglich. Zudem benötigte in der heutigen ZEU niemand mehr ihre Arbeitskraft, da alles automatisiert war. Daher tauschten sie Waren und Comunidad-Gutscheine oder nutzten Eurodollars, die Währung ihrer Heimatländer, die im Rest der ZEU nicht anerkannt wurde. Das war auch der Grund, warum nahezu alle Neuankömmlinge schnell erkannten, dass eine Weiterreise ins Inland sie nicht weiterbrachte. Dort würden sie direkt von der Polizei aufgegriffen und zurückgeflogen. So waren sie hier gestrandet und auf Almosen und Hilfe angewiesen – die sie offiziell ebenfalls nicht erhielten.

Nach einer Weile erreichten sie ihr Haus. Früher hatte es vermutlich auf einem erhöhten Abschnitt der Küste gelegen während davor ein weiter Sandstrand zum Faulenzen und Spielen einlud. Durch den angestiegenen Meeresspiegel lag es jetzt direkt am Ufer und wurde bereits von Wellen umspült. Im ersten Stock befand sich die Alte Bodega, eine ehemalige Bar mit grandiosem Blick über den Ozean, die sie wieder in Schuss gebracht hatten. Inzwischen war es ein lebhafter Treffpunkt für die Mitglieder ihrer neuen Gemeinde. Dort warteten Kara und Jacques mit besorgten Gesichtern auf sie.

»Alejandro, Olivia!« Die junge Frau kam direkt auf sie zugestürzt. »Das kann so nicht weitergehen! Vorhin wären wir fast von ein paar Gangern aufgeschlitzt worden!«

Sie war ehrlicherweise nicht überrascht. »Tut mir leid. Wir kennen das Problem. Für viele finden wir sinnvolle Beschäftigungen – es gibt schließlich immer was zu tun. Aber die Stadt ist inzwischen so groß, dass das kaum noch zu überblicken ist. Vor allem, da wir keine offiziellen Strukturen wie eine Polizei oder Sozialarbeiter haben.«

Kara holte tief Luft und setzte ihre Rede fort: »Egal, was der Grund ist, das Ganze kann sich jederzeit wiederholen. Wir haben hier, wie du gerade bemerkt hast, weder Polizei noch Soldaten wie in Algerien, die halbwegs für Ordnung sorgen. Wir haben darüber nachgedacht und eine Entscheidung getroffen ...« Sie brach ab.

»Wir«, sprangt Jacques ein, »haben beschlossen, Cabo del Gata zu verlassen und wieder nach Algerien zurückzukehren.«

Olivia war sprachlos. Sie kannte sie inzwischen vier Jahre. Seitdem Jacques bei ihnen aufgeschlagen war, um Kara zu retten. Aus der Gefangenschaft als Sexsklavin von eben dem Theo Mäuser, der heute ZEU-Innenminister war. Später haben die beiden bei ihrer damaligen Schlepperin Jawaria angeheuert und dabei geholfen, die ersten Migranten nach Cabo del Gata zu verschiffen. Mit der Geburt ihres Sohnes Lucas waren sie hier sesshaft geworden und halfen seitdem, die Gemeinschaft am Laufen zu halten.

Sie fasste sich: »Aber... ihr seid doch extra bei uns geblieben, damit ihr nicht mehr die gefährlichen Schlepperfahrten für Jawaria machen müsst! Ihr könntet höchstens in euer Heimatdorf zurück. Hier können wir jede Hand gebrauchen.«

»Ja, das stimmt schon.« Man merkte, dass es Jacques unangenehm war, schließlich waren sie Freunde. »Aber wir müssen vor allem an Lucas denken. Hier ist er auf Dauer nicht sicher. Demnächst muss er zur Schule gehen. Dafür gibt es keine gute Lösung. Die ganze Stadt hat kaum echten Regeln, keine Verwaltung, keine Bildungseinrichtungen und keine Polizei. Nichts, was einem eine normale Stadt bietet.«

Leider konnte sie ihm da nicht widersprechen.

Alejandro, der sich als eine Art Stadtvater sah, schaute die beiden betroffen an. »In unserer ersten Comunidad hat das Zusammenleben doch immer funktioniert. Gemeinsam bekommen wir das hin. Wir müssen nur aktiv mit den neuen Menschen sprechen. Und vielleicht wählen wir eine Art Stadtrat. Und wir könnten eine Schule aufbauen. Und eine Bürgerwehr gründen. Wir haben alle Möglichkeiten!«

»Tut mir leid.« Kara schüttelte den Kopf und konnte ihm nicht in die Augen schauen. Lucas spielte zwischen ihren Beinen mit den scharfkantigen Resten einer rostigen Dose.


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