PROLOG
𝟐𝟓. 𝐎𝐊𝐓𝐎𝐁𝐄𝐑 𝟏𝟗𝟖𝟑, 𝐋𝐄𝐍𝐎𝐑𝐀 𝐇𝐈𝐋𝐋𝐒, 𝐂𝐀𝐋𝐈𝐅𝐎𝐑𝐍𝐈𝐀 – Während sich das blonde Mädchen konzentriert ihre Haare zu einem Zopf zusammenbindet, begutachtet sie sich im Spiegel und legt ihren Kopf schief und mustert sich kritisch.
Die Tatsache, dass sie ihren Vater nicht kennt und sich deswegen nicht komplett identifizieren kann, macht sie fertig.
Ein kurzer Blick auf die Uhr verrät ihr, dass sie jetzt los zur High School muss, um noch pünktlich zu kommen. Schnell zieht sich Sinika ihre Schuhe und eine Jacke an und greift nach ihrem Rucksack. Im Flur auf der Kommode nimmt sie sich ihren Schlüssel und zieht hinter sich die Tür zu.
Schnellen Schrittes begibt sich die Schülerin zu einer kleinen Bäckerei, welche sich auf dem Weg befindet und betretet die kleine Stube.
»Ah, wenn das nicht die liebe Sinika ist.« Eine ältere Dame, mit leichten grauen Haaren kommt um die Theke herum und umarmt das junge Mädchen.
»Guten Morgen, Mrs. Myers«, begrüßt Sinika die Ladenbesitzerin und löst sich grinsend von ihr. »Dein Essen ist bereits fertig und der Kakao ist noch schön heiß.«
Mrs. Myers dreht sich glücklich um und greift nach einer Papiertüte und einem Becher und reicht die beiden Sachen der Schülerin. »Lass es dir schmecken, süße.« Mrs. Myers zwinkert ihr noch mal zu und die beiden verabschieden sich voneinander.
Draußen trinkt Sinika den ersten Schluck und riecht einmal an der Tüte. Der Duft von frisch gebackenen Croissants und süßem Gebäck schlägt ihr um die Nase und Sinika muss glücklich lächeln.
Mrs. Myers ist die Inhaberin der kleinen anliegenden Bäckerei und führt den Laden zusammen mit ihrer Tochter. Ihr Mann ist leider vor zwei Jahren an einem Herzinfarkt verstorben, doch das motiviert die Dame nur noch mehr.
Auf dem weiteren Weg zur Schule begegnet Sinika einigen anderen Schulkameraden, welche sich kurz zunicken und ihren Weg fortsetzen. »Nika!« Die Angesprochene dreht sich zu der zugehörigen Stimme um und sieht ihre beste Freundin Christine auf sich zulaufen.
»Wie war dein Wochenende?«, fragt das rothaarige Mädchen die Blondine direkt und fällt ihr dabei um den Hals. »Ich habe mich mit Kai getroffen, wir waren im Kino. In dem neuen Film: Dead Zone«, erklärt Sinika und Christine nickt schelmisch.
Doch dann weiten sich ihre Augen und sie quietscht kurz. »Ist das nicht der mit Sean Patrick Flanery?«, fragt sie und wird leicht rot im Gesicht.
Jetzt muss Sinika lachen, nickt dann aber zustimmend. »Warum habt ihr mich nicht mitgenommen? Der Typ ist doch voll heiß!«
Sinika hört schlagartig auf zu lachen und schüttelt den Kopf. »Ja, das kann schon sein, aber nicht so heiß wie Mark Hamill.« Nun stöhnt Christine und geht weiter Richtung High School.
»Hör mir bloß auf mit Mark Hill. Star Wars ist nicht alles im Leben, Nika. Außerdem ist der doch viel zu alt.« Empört dreht sich Sinika zu ihrer besten Freundin um und sieht sie entgeistert an. »Er heißt Mark Hamill! Wie oft noch? Und er ist erst 33.«
Da ertönt der erste Gong und die beiden Mädchen beschleunigen ihre Schritte. »Sehen wir uns in Geschichte wieder?«, fragt Christine und Sinika nickt zustimmend.
»Klar, Mrs. Tullin kann ich mir nicht alleine geben«, lacht Sinika und die beiden verabschieden sich vorerst voneinander. Die ersten beiden Stunden hat das junge Mädchen Mathematik bei Mr. Eder und danach eine Stunde Kunst bei Mr. Gon.
Anschließend trifft die Blondine ihre beste Freundin in Geschichte wieder. »Diese Themen werden in der nächsten Arbeit drin vorkommen, also bitte schreibt euch das auf.«
Christine wirft ihrer besten Freundin einen nervenden Blick zu und Sinika muss kichern, während sie sich die Notizen von der Tafel notiert. »Sinika Faith. Bitte kommen Sie umgehend in das Büro des Schulleiters.«
Der Kopf der Schülerin schellt nach oben und verwirrt schaut sich die Blondine im Raum um. Die Durchsage endet mit einem grellen piepen und die restlichen Mitschüler und die Lehrerin schauen Sinika sprachlos an.
Nie hätte einer der hier anwesenden gedacht, dass das Mauerblümchen zum Direktor muss. Unsicher schaut sich Sinika im Raum um und ihr Blick bleibt bei Mrs. Tullin hängen.
»Du kannst gehen«, sagt sie bloß, nickt kaum merklich und dreht sich wieder der Tafel zu. Noch immer überrascht von der Situation packt das junge Mädchen ihre Notizen zusammen und verstaut alles in ihrem Rucksack.
Anschließend schultert sie ihn und dreht sich noch mal unsicher zu ihrer besten Freundin um. Christine nickt aufmunternd und mit einem mulmigen Gefühl in der Bauchregion verlässt das blonde Mädchen das Klassenzimmer.
Das Büro des Schulleiters liegt in einem anderen Bereich der High School. Und so kommt Sinika nach knappen fünf Minuten vor der Tür zum Direktorat stehen.
»Principal Bellweather«, liest sie leise und klopft schließlich. Nie hätte Sinika gedacht, in das Büro des Schulleiters gebeten zu werden.
»Herein!« Die autoritäre Stimme des Schulleiters lässt Sinika kurz zusammenzucken, bevor sie die Klinke zum Büro hinunterdrückt und in sechs Augenpaare blickt.
Principal Bellweather ist in Begleitung eines älteren Polizei Detectives und einer jüngeren Frau – Anfang dreizig. Panisch schaut Sinika von ihrem Schulleiter hinüber zum Detective und bleibt mit dem Rücken an die Tür gepresst stehen.
»Ich habe nichts verbrochen«, rechtfertigt sich das junge Mädchen sofort und die junge Frau nickt mitfühlend.
»Das wissen wir, Sinika. Wenn ich mich vorstellen dürfte: Ich bin Maria Taylor und arbeite fürs Jugendamt.« Verwirrt darüber, dass eine Mitarbeiterin vom Jugendamt hier ist, kriegt Sinika nicht mit, wie ihr Mrs. Taylor die Hand reicht.
»Verzeihung«, murmelt sie und bekommt rote Wangen, als sie nach der Hand von Maria Taylor greift. »Und ich bin Polizei Detective John Fray. Schön dich kennenzulernen, Sinika. Schade nur, dass es unter diesen schrecklichen Umständen sein muss.«
Während Mr. Fray das sagt, sieht Sinika ihn verwirrt an und begegnet dem mitleidigen Blick von Principal Bellweather und Mrs. Taylor. »Welche Umstände?«, fragt die 16-Jährige in die Runde hinein.
»Setz dich doch, liebes«, schlägt Maria Taylor vor und deutet auf einen der zwei freien Stühle vor dem Tisch des Schulleiters. Kopf nickend setzt sich Sinika auf einen Stuhl und sieht nun abwartend in die drei erwachsenen Gesichter.
Stumm sprechen sich die drei ab, ehe der Polizist sich auf den noch freien Stuhl neben das junge Mädchen setzt. »Es tut mir leid, dir das sagen zu müssen, aber wir haben deine Mutter vor wenigen Stunden tot in einer Gasse aufgefunden. Eine Überdosis«, fügt er noch leise hinzu und Sinika hält für einen Augenblick die Luft an.
Einige Tränen bahnen sich den Weg in die Freiheit, aber bevor sie ihre Wange hinunterlaufen, wischt Sinika sie sich die mit dem Ärmel weg und schaut den Mann vor sich emotionslos an.
»Wie lange?«, fragt sie heiser und räuspert sich, überrascht davon, wie kalt ihre Stimme doch klingt. »Wie lange ist sie schon tot?«, fragt sie jetzt genauer und der Polizist nimmt seinen Hut vom Kopf und legt ihn sich auf die Beine.
»Es gibt noch keine Autopsie, aber der Gerichtsmediziner geht von den ersten Befunden, die wir haben, von fünfzehn Stunden aus«, erklärt er und Sinika nickt resigniert.
Dem jungen Mädchen war klar, dass das irgendwann passieren würde. Ihr Mutter war nie wirklich zu Hause und wenn sie es mal war, dann brachte sie Männerbesuch mit und dann verließ Sinika die Wohnung für die darauffolgenden vier bis sechs Stunden.
»Hast du dich nicht gefragt, wo deine Mutter ist?«, hallt die Stimme von Mrs. Taylor im Raum herum und Sinika schaut ihr in die braunen Augen.
»Um ehrlich zu sein: Nein. Meine Mum war nie oft zu Hause und streunte immer mit irgendwelchen zwielichtigen Typen in der Stadt herum. Ich habe sie seit zwei Tagen nicht mehr gesehen.«
Der Polizei Detective und die Mitarbeiterin vom Jugendamt nicken, während sich der Schulleiter kopfschüttelnd auf seinen Stuhl setzt.
»Was passiert jetzt mit mir? Komm ich ins Heim?«, fragt Sinika und Mrs. Taylor schüttelt den Kopf. »Nur vorübergehend. Die Polizei und ich, wir werden uns zusammensetzen und deinen Vater ausfindig machen. Dann wirst du zu ihm ziehen«, erklärt Mrs. Taylor und Sinika schüttelt energisch mit dem Kopf.
»Aber ich möchte nicht zu ihm. Ich kenne ihn doch überhaupt nicht.« Sinika steht aufbrausend auf und tapst durch das Büro.
»Das ist mir durchaus bewusst, liebes. Aber wenn er noch am Leben ist, ist er dein Erziehungsberechtigter. Das verstehst du doch, oder?« Mitfühlend sieht Mrs. Taylor zu der Schülerin und Sinika nickt leicht.
Natürlich versteht sie das. Aber dennoch will sie nicht zu einem fremden Mann ziehen, der nicht weiß, dass sie überhaupt existiert.
Sinika hat sich auch nie für ihren Vater interessiert und ihre Mutter ab einem bestimmten Alter nicht mehr gefragt, wer er ist.
Einmal hat sie in ihrer Brieftasche ein Bild von ihr und einem Mann gefunden. 1966, Hawkins, Indiana – Jim Hopper und Eleonore Faith
»Jim Hopper«, murmelt Sinika und Mrs. Taylor schaut das Mädchen verwirrt an. »Wie bitte?« Sinika atmet einmal schwer ein und sieht dann wieder aus. »Jim Hopper. Das ist mein Vater – denke ich. Ich habe vor zwei oder drei Jahren ein Bild von den beiden gefunden. Auf der Rückseite stand sein Name. Und das Jahr 1966. Ein Jahr später bin ich auf die Welt gekommen. Das Bild wurde wohl in Hawkins, Indiana aufgenommen.«
Sowohl John Fray als auch Maria Taylor schauen überrascht zu dem jungen Mädchen. »Ob er lebt, kann ich nicht sagen oder ob er noch immer in Hawkins lebt. Und das Bild habe ich auch nicht mehr«, meint Sinika noch gleichgültig. »Darf ich dann wieder in den Unterricht gehen oder gibt es noch weitere Fragen?«
Die drei Erwachsenen nicken mit dem Kopf und Sinika greift nach ihrem Rucksack. »Eine Sache wäre da noch.« Mrs. Taylor greift in ihre Handtasche und kramt da eine weile herum, ehe sie ein kleines weißes Kärtchen herausholt und es Sinika reicht.
»Das ist meine Karte. Darauf findest du meine Nummer. Ich bin jetzt erstmal so lange für dich verantwortlich, bis wir deinen Vater gefunden haben. Das Kinderheim habe ich auch schon kontaktiert. Sie erwarten uns beide heute Abend um 18:00 Uhr. Pack bis dahin bitte ein paar Klamotten zusammen. Ich hole dich um 17:00 Uhr bei dir ab. Und denk gar nicht erst daran abzuhauen. Ich werde dich finden«, zwinkerte Mrs. Taylor und Sinika nickt geschlagen. »Bis später, liebes.«
Sinika nickt dem Detective und ihrem Schulleiter noch einmal zu, bevor sie aus dem Büro verschwindet. Doch der Weg der Schülerin führt sie nicht zurück in den Unterricht, sondern auf die Mädchentoilette.
Dort wirft Sinika ihren Rucksack achtlos zu Boden und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand und rutscht an dieser herunter. Ihren Kopf legt sie auf ihre Knie ab und jetzt wo sie alleine ist, erlaubt es sich Sinika ihren Tränen freien lauf zu lassen.
Sie und ihre Mutter hatten schon seit sechs Jahren kein enges Verhältnis mehr. Als Sinika gerade einmal zehn Jahre alt war, lernte ihre Mutter einen – auf den ersten Blick – netten Mann kennen. Doch dann stellte sich heraus, dass er es nur auf das Geld abgesehen hatte.
Eleonore war nach der Trennung so fertig mit den Nerven, dass sie ihre Tochter vernachlässigte und sich jede Woche einen neuen Mann suchte. Und dann kamen die Drogen ins Spiel.
»Nika! Nika, bist du hier?« Als die Angesprochene die Stimme ihres besten Freundes hörte, stand sie mit wackeligen Beinen auf und öffnete die Tür der Mädchentoilette, um Kai in die Arme zu fallen. »Oh Gott, Nika. Was ist passiert?«, fragt Kai und streichelt dem Mädchen über die Haare.
Schniefend trennt sich Sinika von dem Jungen und wischt sich die restlichen Tränen aus dem Gesicht. »Sie haben meine Mom gefunden. Tod«, erklärt sie heiser und fing sofort wieder an zu weinen.
»Verdammt, Nika, das tut mir schrecklich leid. Weiß die Polizei denn schon, was passiert ist?«, fragt Kai besorgt und die Schülerin nickt leicht. »Die Polizei sagt, sie ist an einer Überdosis gestorben. Sie ist bereits seit fünfzehn Stunden tot.«
Ohne weitere Worte legt der Schüler dem Mädchen seine Arme um den Körper und zieht sie wieder an sich heran. Er streichelt ihr immer wieder über den Rücken und gab ihr kleine Küsse auf den Haaransatz. Das hat er schon immer gemacht, um sie zu beruhigen, wenn es Sinika nicht gut ging.
Damals waren die beiden aber auch noch zusammen, aber nachdem die beiden sich vor knapp vier Monaten getrennt haben, waren die beiden sich nicht mehr so nahe gewesen.
Aber Kai kannte sie gut und wusste was sie daher brauchte. »Ich komme jetzt erstmal in ein Kinderheim. Zumindest so lange, bis die Polizei meinen Vater gefunden hat«, flüstert Sinika und Kai drückt seine beste Freundin vorsichtig von sich weg, um sie besser angucken zu können. »Deinen leiblichen Vater? Aber die wissen doch gar nicht, wer er ist, oder?«
Sinika schüttelt den Kopf, dann nickt sie aber und geht zu ihrem Rucksack und kramt dort nach etwas. Sie holt ein Bild heraus und hält es Kai vor die Nase.
Verwirrt nimmt der Junge das Foto in die Hand und schaut es sich genauer an. »Ist das deine Mom?«, fragt er und deutet auf das junge Mädchen mit den wilden Locken und die langen bauschigen Kleid.
Sinika nickt und deutet dann auf den Mann. »Und das ist wahrscheinlich mein Vater. Das Bild entstand ein Jahr vor meiner Geburt.« Dabei tippt Sinika immer wieder auf den Mann neben ihrer Mutter.
»Weiß die Polizei von dem Bild?«, fragt Kai und wedelt mit dem Bild vor Sinikas Nase herum. »Ja, ich habe ihnen davon erzählt und auch, wo das Bild aufgenommen wurde. Ich aber keine Ahnung habe, ob er noch am Leben ist oder überhaupt noch in Indiana lebt.
Dann habe ich ihnen gesagt, dass ich das Bild auch nicht mehr habe.« Verwirrt schaut Kai seine Ex-Freundin an und zieht eine Augenbraue hoch. »Warum? Ich dachte, dir liegt nichts an deinem Vater? Also, warum behältst du dann das Bild?«
Ertappt knabbert Sinika an ihrer Unterlippe und weicht dem Blick von Kai aus. »Mir liegt auch nichts an ihm. Aber ich habe mich dennoch immer gefragt, wie es wohl wäre, wenn meine Mom damals nicht abgehauen wäre. Ich weiß nicht, irgendwie wollte ich meinen Vater schon immer kennenlernen und jetzt hab ich die Möglichkeit. Aber als die Frau vom Jugendamt meinte, ich würde zu meinem Vater ziehen, wenn sie ihn ausfindig gemacht haben, hatte ich erst totale Panik. Ich meine, zu einem fremden Mann ziehen, der keine Ahnung von meiner Existenz hat, war auf einmal total beängstigend. Der Name ist mir anschließend herausgerutscht.«
Kai mustert seine beste Freundin und nimmt sie anschließend wieder in die Arme. Kurz ist es still und die beiden schweigen sich an. Dann weiten sich plötzlich seine Augen und er drückt Sinika wieder von sich. »Warte, sagtest du Indiana?« Fragend sieht der Junge das Mädchen an und Sinika nickt verwirrt. »Ja, das habe ich gesagt, warum?«
»Weißt du, wie weit Indiana von Kalifornien entfernt ist? Das sind mit dem Auto bestimmt knapp dreißig Stunden.« Sinika nickt und schultert ihren Rucksack.
»Ich weiß, Kai. Aber du bist sechzehn und hast bereits einen Führerschein. Und meinen werde ich ja bald auch machen. Außerdem wissen wir doch gar nicht, ob ich wirklich nach Indiana ziehe. Ob mein Vater noch dort lebt oder vielleicht verstorben ist«, meint Sinika leicht gereizt. »Jetzt sei doch nicht sauer.«
Verwirrt über den plötzlichen Stimmungswechsel, verlässt das Mädchen die Toilette und geht die Gänge entlang zum Pausenhof.
»Ich finde die Vorstellung einfach nicht so super, dich nicht mehr täglich zu sehen.« Kai folgt Sinika nach draußen und durch die Gänge. »Ich finde es ja auch scheiße, dass meine Mom an einer Überdosis gestorben ist, aber mein Vater ist nun mal mein Erziehungsberechtigter. Wenn er am Leben ist, muss ich zu ihm.« Sinika dreht sich zu Kai um und verschränkt die Arme vor der Brust.
»Müssen wir uns jetzt wirklich streiten?«, fragt die 16-Jährige und sieht Kai mit schief gelegtem Kopf an. Der Angesprochene schüttelt geschlagen mit dem Kopf und geht auf seine beste Freundin zu und nimmt sie wieder in seine Arme.
»Du hast ja recht, tut mir leid«, flüstert Kai und dieses Mal löst sich Sinika von ihrem besten Freund. »Schon in Ordnung, Kai. Ich glaube, das nimmt uns alle, vor allem mich mehr mit, als gedacht.« Fast schon schmunzelnd schüttelt Sinika ihren Kopf und die beiden setzen ihren Weg fort.
Den Rest des Tages schwänzen die beiden. Sinika hat Christine einen Zettel in den Spind gelegt, auf dem steht, dass sie die beiden in der Mall findet.
Als Christine gute zwei Stunden später in der Mall auftaucht, erzählt Sinika ihr, was passiert ist. »Oh Gott, Nika! Das tut mir schrecklich leid«, weint Christine und nimmt ihre beste Freundin in die Arme.
»Warum weinst du denn jetzt?«, fragt Sinika verwirrt und streichelt der rothaarigen über den Rücken. »Meine Mom ist gestorben, nicht deine.« Christine nickt, schüttelt dann aber mit dem Kopf und löst sich schniefend von der Blondine.
»Ich weiß doch, aber das nimmt mich gerade so mit«, erklärt sie und wischt sich ihre Tränen weg.
»Jetzt ist bestimmt mein Make-up verschmiert«, lacht sie jetzt und sieht durch ein Fenster ihr Spiegelbild, ehe sie sich mit einem Taschentuch die verlaufene Mascara wegmacht.
Dann weiten sich die Augen des Rotschopfs und grinsend dreht sich Christine zu ihren besten Freunden um. »Du machst mir Angst«, kommentiert Kai und mustert Christine kritisch. »Ich weiß, was dir jetzt guttun wird«, sagt Christine und greift ohne weitere Worte nach Sinikas Hand und zieht sie Richtung Friseur.
»Was soll ich denn hier?«, fragt das Opfer kichernd und sieht ihre beste Freundin fragend an. »Na was wohl? Eine kleine Typveränderung«, erklärt sie und schaut ihr Freunde an, als wäre es das offensichtlichste der Welt.
Und so spaziert Sinika knapp eine Stunde später mit kürzeren Haaren aus dem Salon und betrachtet sich in der Spiegelung eines Fensters.
Sinika hat ihre langen blonden Haare über alles geliebt. Doch jetzt, wo sie ihr nur noch bis zur Schulter gehen und nicht bis zum Po, fühlt sie sich viel freier und auch viel besser.
»Danke, Christi. Das war eine super Idee«, meint Sinika und umarmt ihre beste Freundin. »Natürlich. Und so konnte ich außerdem auch mal wieder zum Friseur. Meine Strähnen mussten unbedingt erneuert werden«, kichert sie und geht sich durch das frisch gewaschene und gestylte Haar.
»Ihr seht auf jeden Fall beide echt super aus«, komplimentiert Kai und betrachtet die beiden. »Und was ist mit mir?«, fragt er und deutet dabei auf sich.
»Wenn du willst, können wir dir neue Klamotten kaufen gehen. Deinen Kleidungsstil mag ich gar nicht«, murmelt Christine und mustert Kai kritisch. »Was?«, fragt Kai säuerlich und streicht sein Ananas-Hemd glatt.
Sinika steht neben den beiden und kichert in sich hinein. »Nika, jetzt sag doch was!«, fordert der Junge das 16-jährige Mädchen auf, doch die Angesprochene schüttelt mit dem Kopf.
»Nein, aus dieser Unterhaltung halte ich mich raus. Das könnt ihr gerne alleine klären«, sagt sie und entfernt sich ein wenig von den beiden. »Ich dachte, du magst das Hemd.«
Mit einem Schmollmund sieht Kai seine beste Freundin an und als Sinika den Kopf leicht schüttelt, sieht Kai getroffen weg. »Ich dachte wir sind Freunde«, murmelt er und dreht sich beleidigt um.
»Das Hemd ist nicht unbedingt deins Kai. Vielleicht steht dir ja eher was Schlichteres«, überlegt Christine laut. »Aber ich mag es, wenn ich auffalle«, erklärt er und deutet auf seine bunte Socken.
»Das kann ja sein, aber die Socken mit den Fischen passt nicht wirklich, das musst du doch selbst zugegeben«, lacht Sinika und jetzt schmunzelt auch Kai wieder.
»Ich dachte, es ist gut, wenn ich mein Lieblingsessen kombiniere«, lacht er und zuckt unschuldig mit den Schultern. »Du isst auch Ananas auf Pizza. Das sollte verboten sein!« Christine harkt sich bei ihren zwei besten Freunden ein und führt sie fort. »So, und damit ist die Diskussion beendet. Du bekommst ein neues Hemd.«
☾❀❁✧
Pünktlich um 17:00 Uhr steht Maria Taylor vor ihrer Wohnungstür und wartet geduldig auf die Schülerin. Die drei Freunde haben die Zeit völlig vergessen und so hat Sinika letztendlich nur eine halbe Stunde Zeit ein paar Sachen zu packen.
Als es klingelt, öffnet Sinika die Tür und lächelt die Mitarbeiterin von Jugendamt freundlich an. »Oh, wie ich sehe warst du beim Friseur.«
Unsicher, ob das jetzt ein Kompliment ist oder nicht, schaut Sinika mit geröteten Wangen auf ihre nackten Füße und Maria Taylor schmunzelt. »Steht dir«, fügt sie noch hinzu und zwinkert. Irgendwie erleichtert atmet Sinika die angehaltene Luft aus und sieht die nette Mitarbeiterin vom Jugendamt an.
»Was ist mit der Beerdigung?«, fragt das blonde Mädchen leise und Maria fragt stumm um Erlaubnis die Wohnung betreten zu dürfen.
»Wir werden ihre Beerdigung diese Woche vorbereiten. Du wurdest von der Schule erst mal freigestellt, bis sich alle Angelegenheiten geklärt haben. Schnellstmöglich werde ich, dich in der High School in Hawkins anmelden. Die Polizei hat herausgefunden, dass dein Vater in Indiana lebt. Er ist sogar der Chief des Police Departments in Hawkins.«
Nickend verfolgt Sinika den Monolog und packt währenddessen die restlichen Klamotten zusammen. Diese Informationen muss sie erst mal verarbeiten. Es ist also beschlossene Sache. Sinika zieht zu ihrem Vater. Ein leichter Schauer fährt über ihren Körper und Sinika legt ihre Arme um ihren Körper.
»Er scheint sehr gut in seinem Job zu sein«, hört die Schülerin Maria sagen. In Gedanken nickt Sinika und schließt ihre Tasche. »Bin fertig«, murmelt sie und schultert den Rucksack. »Wir können los.« Maria nickt verstehend und die beiden verlassen die Wohnung. Zusammen steigen sie in einen silbernen Mercedes 190.
»Der gehört meinem Mann. Aber der Tollpatsch hat sich sein Bein gebrochen.« Lachend schüttelt Mrs. Taylor den Kopf und drückt aufs Gas. »Wollte mir eine Überraschung machen und für mich Kochen. Keine Ahnung, wie er das angestellt hat.« Sinika muss schmunzeln und umklammert ihren Rucksack feste.
»Das Kinderheim ist knappe zwanzig Minuten von hier entfernt. Deine Freunde können dich bestimmt besuchen kommen. Die Leiterin ist eine nette Dame. Ich kenne sie schon was länger. Leider musste ich schon in meinem Job einige junge Kinder dorthin schicken. Ms. Smith ist schon über fünfzig und nicht verheiratet. Sie kann leider keine Kinder bekommen und hat das Kinderheim vor dreißig Jahren eröffnet«, schwärmt Maria Taylor und ihre Augen fangen an zu funkeln.
»Ms. Smith scheint eine sehr nette Frau zu sein«, meint dann auch Sinika und Maria nickt zustimmend. »Das ist sie. Connie liebt jedes ihrer Kinder, als wäre es ihr eigenes. Schade, wenn die Kinder dann irgendwann gehen müssen.« Traurig legt Mrs. Taylor den Kopf schief und dann ist es einige Zeit ruhig.
Erst als das Auto die Einfahrt hochfährt und hält, sieht Sinika auf und erblickt ein großes weißes Haus.
»Connie hat das Haus von ihrer Großmutter geerbt. Es bietet viel Platz und hat einen großen Garten. Ich glaube, es wird dir hier gefallen.« Maria stellt den Motor aus und zwinkert der Schülerin zu. »Und jetzt komm, Connie wartet bestimmt schon auf uns.«
»Haben Sie nicht gesagt, wir werden um 18:00 Uhr erwartet?«, fragt die Schülerin und Maria nickt. »Das stimmt, das habe ich. Aber es ist doch nie verkehrt pünktlich zu sein, oder?«, antwortet die ältere keck und zieht den Schlüssel aus dem Zündschloss. »Sie meinen wohl überpünktlich.«
Maria steigt kichernd aus dem Auto und Sinika folgt ihr unsicher. Vor dem Auto bleibt sie mit dem Rucksack an die Brust gepresst stehen und macht sich einen ersten Eindruck.
»Maria! Wie schön dich zu sehen«, sagt eine euphorische Stimme und Sinika wird aus ihren Gedanken gerissen.
Eine Frau – Mitte fünfzig – kommt auf die beiden zu und winkt begeistert. »Connie. Hallo, gut schaust du aus«, komplimentiert Mrs. Taylor und schaut zu Sinika. »Darf ich dir Sinika Faith vorstellen?« Maria legt der jüngsten eine Hand auf die Schulter und dirigiert sie vom Auto weg.
»Sinika. Schön dich kennenzulernen. Ich bin Connie Smith. Aber bitte nenn mich Connie.« Die Frau lächelt und reicht Sinika die Hand. Die Schülerin nimmt die Hand entgegen und nickt leicht.
»Es tut mir übrigens außerordentlich leid, was mit deiner Mutter passiert ist. Maria hat mich ja bereits informiert.« Während der Begrüßung schüttelt die ältere Frau die Hand der Schülerin ununterbrochen und hört erst auf, als Sinika ihre Hand langsam aus ihrer zieht und sich unbehaglich umschaut.
»Oh, es tut mir leid. Ich trete immer wieder ins Fettnäpfchen. Dabei sollte ich mich doch eigentlich damit auskennen.« Kopf schüttelnd dreht sich Connie um und geht Richtung des Kinderheims. »Du kannst dich jetzt verabschieden, Sinika. Maria wird die nächsten Tage vorbeikommen und dich besuchen.«
Das junge Mädchen dreht sich zu der Mitarbeiterin vom Jugendamt um und winkt ihr zu. »Wir sehen uns, Mrs. Taylor«, murmelt Sinika und Maria nimmt die Schülerin in die Arme und streichelt ihr beruhigend über den Rücken.
»Du darfst mich gerne Maria nennen.« Aufmunternd nickt Maria der jüngsten zu und Sinika muss leicht lächeln. »Pass auf dich auf. Ich komme morgen wieder und dann besprechen wir das weitere Vorgehen. Hab noch einen schönen Tag, liebes.«
Maria streicht über Sinikas kurzes Haar und setzt sich dann wieder ins Auto. Sie winkt durch das Fenster hindurch und fährt die Auffahrt rückwärts hinunter und verschwindet hupend. »Komm Sinika. Es gibt gleich Abendessen und die anderen Kinder freuen sich bestimmt dich kennenzulernen.«
Mit gestrafften Schultern folgt das Mädchen der Frau und betritt das große Haus. Und plötzlich wird es laut. Einige kleine Kinder laufen durch das Haus und umkreisen Sinika, während sie dabei lachen und laut kreischen. Die Augen des jungen Mädchens weiten sich und am liebsten würde sie das Haus wieder verlassen.
Sinika kann nicht gut mit kleinen Kindern. Vor allem nicht, wenn sie erst sechs oder sieben sind. Kais kleiner Bruder ist auch erst sechs und wenn Sinika bei ihm war, ist sie Christian so gut es ging aus dem Weg gegangen.
»Dein Zimmer ist oben in der ersten Etage, die zweite Tür links. Du teilst es dir vorübergehend mit Gabriele. Sie ist in deinem Alter.« Die Stimme von Connie Smith dringt durch das laute Kreischen zu Sinika hindurch und die Angesprochene nickt.
»Du kannst deine Klamotten jetzt erst mal nach oben bringen. In einer halben Stunde gibt es essen. Du kannst dich gerne so lange umschauen und die anderen kennenlernen.«
Connie verabschiedet sich fürs Erste und nun steht Sinika alleine da. Unentschlossen, ob sie sich schnell aus dem Staub macht oder die Treppen nach oben geht, nimmt ihr ein Mädchen mit dunkel blonden Haaren die Entscheidung ab.
»Hey, du musst Sinika sein. Ich bin Gabriele. Du kannst mich aber auch gerne Gabs oder Gabi nennen. Komm, ich nehme dich mit hoch und zeige dir dein Zimmer für die nächsten Tage.«
Das Mädchen vor Sinika lächelt liebevoll und geht voraus. »Weißt du, das Mädchen vor dir wurde letzte Woche achtzehn. Sie ist dann ausgezogen. Seitdem gehört das Zimmer mir alleine. Aber ich freue mich wieder eine Mitbewohnerin zu haben.«
Gabriele grinst breit und läuft die Treppen euphorisch hoch. »Du redest nicht viel, was?«
Sinika schaut das Mädchen mit großen Augen an und schüttelt dann den Kopf. »Na ja. Das ist alles sehr viel auf einmal«, erklärt sich Sinika und Gabriele nickt verstehend. »So ging es mir auch damals. Meine Mom starb bei einem Autounfall vor zehn Jahren. Mein Dad ist Alkoholiker.«
»Das tut mir leid«, flüstert Sinika und lächelt aufmunternd. »Du bist schon seit so vielen Jahren hier?«, fragt das blinde Mädchen bedrückt. Gabriele nickt.
»Ja. Einmal war ich bei einer Pflegefamilie, aber die haben mich nach vier Monaten wieder zurückgebracht. Und jetzt bin ich ende fünfzehn. Keiner möchte freiwillig einen Teenager zu sich aufnehmen.« Auf Gabrieles Gesicht bildet sich ein Schmunzeln und Sinika lächelt automatisch auch.
»Also, das ist unser Zimmer. Das hier ist dein Bett.« Gabriele deutet auf ein unbenutztes Bett in der rechten Ecke des Zimmers. »Und der Schrank hier ist auch deiner. Genauso wie der Schreibtisch. Wir haben ein gemeinsames Badezimmer mit den anderen auf dieser Etage hier. Auf dieser Etage sind übrigens nur Mädchen. Die Jungs sind in der Etage unter uns.« Verstehend nickt Sinika und legt ihren Rucksack auf das Bett.
»Hübsch«, kommentiert sie schlicht und schaut sich ein wenig um. »Gemütlich.« Gabriele lächelt und geht zur Tür. »Ich lass dich dann erst mal ein wenig alleine. Gleich gibt's essen. Wir sehen uns«, verabschiedet sich das Mädchen und schließt die Tür hinter sich.
Nun ist Sinika alleine und setzt sich auf ihr vorübergehendes Bett. Dann lässt sie sich rücklings fallen und starrt an die Decke. Tränen schießen aus ihren Augen und erst jetzt wird sich Sinika bewusst, dass ihr neues Leben jetzt beginnt.
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