8| Chaos & Erlösung
~ 764 h
Das Geräusch von fließendem Wasser dringt gedämpft zu mir durch. Kurz nach dem Verstummen des Rauschens ziehe ich mich hastig um und verstaue den roten Farbtopf unter meiner Bettdecke. Ich werfe Devran ein wackeliges Lächeln zu, als er heraustritt, bevor ich mit meiner Waschtasche ins Bad husche und die Tür hinter mir beinahe zuwerfe.
Während der wenigen Minuten, in denen ich mir die Zähne putze und mein Spiegelbild anstarre, kann ich durchgehend meinem pochenden Herzschlag lauschen. Ich habe Angst, das Zimmer zu verlassen, und der Gedanke an Schlaf bereitet mir Gänsehaut. Mir ist nicht ganz klar, woher mein Misstrauen kommt, es erscheint mir zu unverhofft. Aber ich kann nichts gegen die wachsende Vorsicht tun.
Trotz meines Bemühens, alles so langsam wie möglich zu machen, bin ich doch viel zu schnell fertig und stehe schließlich unbeholfen herum. Das Deckenlicht beleuchtet mein Gesicht fahl, verleiht mir einen kränklichen Anblick. Das Blau meiner Augen wirkt fast leblos grau. Vielleicht schläft er schon, denke ich insgeheim. Hoffnungsvoll verschränke ich meine Finger vor der Brust, während sich der Anflug von Aufregung macht in mir breitmacht.
Tapfer schiebe ich meine Bedenken beiseite und drücke die Türklinke hinunter. Das Metall fühlt sich kalt an unter meiner verschwitzten Handfläche, ich kann das schwache Zittern meiner Finger nicht kontrollieren.
Mein Mut schwindet, wird erstickt, bevor er anfangen kann zu entflammen. Nichtsahnend liegt Devran mit im Nacken verschränkten Armen auf seinem Bett am Fenster. Er hat den Blick hinaus gewandt, aber ich erkenne deutlich, dass er wach ist. Das Sternenmeer flutet den Nachthimmel, wandelt die Dunkelheit in ein Bild voll Hoffender. Ihr schwaches Licht ergänzt den abnehmenden Mond.
Ich kann den Anblick nicht genießen. Stattdessen tapse ich möglichst unauffällig zu meinem Schlafplatz, während ich befürchte, das Herz könnte mir jeden Moment aus der Brust springen. Mein Atem erscheint mir viel zu laut und ich halte kurz die Luft an, aus Furcht, auf irgendeiner Weise entdeckt zu werden.
Devran war immer wie ein großer Bruder für mich. Ihn jetzt als meinen Verfolger zu verdächtigen, ist so absurd, dass ich unter anderen Umständen augenverdrehend geschmunzelt hätte.
Zu meiner Erleichterung spricht mich Devran nicht mehr an. Als das leise Rascheln seiner Bettdecke zu mir durchdringt, atme ich unwillkürlich auf. Dann ist es still im Raum. Angestrengt lausche ich meinen eigenen Atemzügen, mahne meinen Herzen, nicht zu laut zu sein. Ich habe das Gefühl, Devran könnte es hören und mich anschließend zur Frage stellen. Zweifel kämpft sich einen Weg an die Oberfläche.
Was ist, wenn er mich umbringen will? Wenn er der Stalker ist?
Ich kann nicht vermeiden, an die wirren Möglichkeiten zu denken, die orientierungslos in meinem Kopf umherschwirren. Ein Mantra wiederholt sich in Endlosschleife.
Was soll ich tun? Was soll ich tun? Was soll ich nur tun?!
Die Zweige vor dem Fenster werfen im fahlen Mondlicht schemenhafte Schatten auf die Wand. Sie erheben sich wie Hände über mich, langen nach mir. Der Wind fegt höhnend um das Gebäude, pustet mir zischend gegen die Wange. Ein Frösteln erreicht mich, und ich ziehe mir die Decke bis unters Kinn.
Es dauert lange, bis ich nach endlosem hin und her wälzen in einen unruhigen Schlaf falle. In meinen Träumen begegne ich meiner Schwester. Die nächtliche Umgebung verschmilzt mit den hohlen Wänden eines Hauses, verschwimmt förmlich, sodass mir ihre zierliche Gestalt scharf ins Auge sticht. Blondes Haar umspielt ihr Gesicht, ein zufriedenes Lächeln liegt auf ihren Lippen. Den Blick ziellos in die Ferne gerichtet, kommt sie auf mich zu.
Langsam.
Schritt. Für. Schritt.
„Stella...", haucht sie undeutlich, fast murmelnd. Ich kann sie kaum verstehen. „Stella ..."
„Sprich lauter!", fordere ich sie auf, während die Unsicherheit in mir wächst. Ungeduld schwingt in meiner Stimme mit. „Dela, ich kann dich nicht verstehen!"
Sie ist zu weit weg, denke ich, bevor ich anfange zu laufen. Ich muss näher an sie heran!
Plötzlich versperrt mir eine hohe Wand aus Flammen die Sicht und zwingt mich zum Stillstand. Beinahe wäre ich hinein gefallen. Loderndes Feuer lechzt nach dem knackenden Holz, das mich an brechende Knochen erinnert. Hektisch wedele ich mit der Hand vor meiner Nase herum, in der Absicht, den aufsteigenden Rauch von mir fernzuhalten.
Das Feuer breitet sich rasend aus. Wie eine brennende Schlange bahnt es sich einen Weg durch die Dunkelheit – und genau auf meine Schwester zu.
„Dela, pass auf!", rufe ich ihr zu. Verzweifelt springe ich auf der Stelle, um einen Blick auf sie zu erhaschen, um sie zu warnen. Vergeblich. „Bleib stehen! Geh nicht weiter! Nicht!"
Meine Stimme bricht. Ein Kreischen ertönt, laut und unbändig. Für einen Sekundenbruchteil bin ich verwirrt, bis ich bemerke, dass es aus meiner Kehle gebrochen ist.
Aufsteigende Flammen verschlingen die Gestalt meiner Schwester.
Abrupt sitze ich aufrecht und schlage die Lider auf, das Blut rauscht mir in den Ohren. Orientierungslos wende ich den Kopf und blicke mich hastig um. Mein atemloses Schnaufen erscheint mir viel zu laut in der Stille. Der Geruch von beißendem Rauch liegt mir immer noch in der Nase und brennt in meinen Augen.
Holztür. Waschbecken. Wand. Eine Kommode. Vorhänge. Feuer. Devran in seinem Bett.
Ich glaube, mein Herz setzt einen Schlag aus und droht mir im nächsten Moment aus der Brust zu springen. Alarmiert weiten sich meine Augen.
Feuer?!
Sofort versteift sich mein Körper. Ich bin nicht länger fähig, mich zu bewegen. Ein Zittern durchläuft mich und versetzt mich in eine ähnliche Situation zwei Jahre zuvor. Das wilde Rot tanzt vor meinem Geist, umhüllt mich wie das leichte Kleid, das meine beste Freundin trug. Aus der Ferne höre ich ihre Rufe, spüre ihr energisches Zerren an meinem Arm. Ich kann mich nicht losreißen, um meine Schwester hinter dem Flammenmeer zu suchen.
Mein Herz schreit nach Erlösung, aber ich weiß es besser. Sie sind beide nicht mehr hier.
Der dichte Rauch bringt mich zum Husten. Aus Reflex halte ich mir den Arm über die Nase, damit ich ihn nicht weiter einatme. Meine Sicht beginnt zu verschwimmen, das Zimmer schwankt. Flüchtig lasse ich meinen Blick durchs Zimmer huschen und fange das Bild der Verwüstung ein. Der brennende Vorhang gibt leises Surren und Zischen von sich, der Geruch nach Verkohltem liegt in der Luft. Meine Kehle ist wie zugeschnürt, ich bekomme keine Luft mehr.
Dann sehe ich ihn. Devran.
Ich glaube, die Zerrissenheit in mir war noch nie größer.
Das Feuer befindet sich direkt an seiner Seite, und ich weiß, er würde von ihm verschlungen werden, wenn ich weiterhin untätig sitzen bleibe. Alles in mir schreit danach, aufzustehen und ihm zu helfen. Aber ich kann nicht. Zu groß ist die Angst, erneut den Kampf gegen die Flammen zu verlieren. Die Narben an meinen Händen machen sich mit einem unangenehmen Ziehen bemerkbar.
Die plötzliche Hitze bringt mich zum Schwitzen. Mühsam quäle ich mich aus dem Bett, während ich die Augen fest auf den Boden hefte und versuche, flach zu atmen. Mein Herz rast förmlich, rauschendes Blut flutet meine Venen. Die Panik greift nach mir.
Ich zwinge mich dazu, weiter zu gehen. Meine Fingerknöchel treten weiß hervor, so fest halte ich das Bettlaken umschlossen. Ganz langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Irgendwo meine ich, eine Uhr ticken zu hören. Fest beiße ich mir auf die Unterlippe, bis ich Blut schmecke.
Schritt. Für. Schritt.
Eine Ewigkeit scheint vergangen zu sein, bis ich mich unmittelbar vor dem Ursprung des Chaos' befinde. Flackernde sLicht streckt seine langen Finger nach mir aus. Ich weiche einen Schritt zurück. Kalter Schweiß benetzt meine Stirn, die Augen habe ich so weit aufgerissen, wie es mir erlaubt ist. Meine Füße fühlen sich an, als würden sie in Flammen aufgehen. Stechender Schmerz zuckt mir durch die Beine.
Fest beiße ich die Zähne zusammen, bevor ich die Hand nach dem Jungen ausstrecke. Rauch schwebt über seinem Gesicht. Seine Lider sind ganz still.
Sein Anblick lässt mein Herz schneller schlagen. Mit einem Ruck stürze ich mich vor, berge ihn in meinen Armen. Seine Haut fühlt sich viel zu heiß an. Die Erkenntnis trifft mich wie ein Blitzeinschlag und schickt mir einen Schauer über den Rücken. Obwohl ich mich direkt an einer Wärmequelle befinde, beginne ich zu zittern. Mein Körper wird von unterdrückten Schluchzern geschüttelt.
War es das?, schießt es mir durch den Kopf. Werden wir hier sterben?
Am liebsten hätte ich vor Hilflosigkeit laut aufgeschrien, wenngleich ich weiß, dass mich niemand hören würde. Ich will noch nicht gehen. Mein ganzes Leben liegt noch vor mir! Die Angst, ohne Abschied die Welt verlassen zu müssen, legt sich wie eine schwere Kette um mein Herz.
In dem verzweifelten Versuch, uns vor dem erbarmungslosen Feuer zu retten, reiße ich Devran mit mir zu Boden, wo ich ihn letztendlich von mir stoße. Meine Beine können mich kaum halten, als ich mich aufrappele. Beinahe wäre ich gestürzt, wenn ich mich nicht rechtzeitig an meinem Bett festgehalten hätte. Die Decke liegt wie ein Rettungsanker in meinem klammernden Griff.
Wackelig stehe ich auf. Ohne einen Blick zurück zu werfen, stolpere ich Richtung Tür, bevor ich sie mit Schwung aufreiße. Das anspringende Licht blendet mich. Für einen Augenblick muss ich mich gegen die Wand lehnen, während sich meine Sicht verschärft. Der verlassene Gang wirkt geisterhaft.
Ein erneuter Hustenanfall bahnt sich in meiner Kehle an. Mühsam unterdrücke ich ihn und haste stattdessen zur Treppe. In meinen Gedanken erscheint Devran, der leblos auf dem Boden liegt. Das zehrende Feuer hinter ihm, das sein Gesicht mit seinem Licht orange färbt. Meine Atemzüge klingen rasselnd und unregelmäßig. Die knarzenden Geräusche, die die Holzstufen unter meinen dumpfen Schritten machen, dringen kaum zu mir durch.
Der Anflug an Erleichterung lässt mich aufatmen, als ich eine andere Rezeptionistin als die, die Devran und mich letzte Nacht empfangen hat, erblicke. Ich halte mich nicht damit auf, darüber nachzudenken. Aufgewühlt bleibe ich vor ihr stehen und ignoriere ihren überforderten Blick, der unvermittelt auf mir liegt. Ich beginne, wie wild mit den Händen zu gestikulieren, ohne mich zu vergewissern, ob meine kopflosen Bewegungen Sinn ergeben. Mein Kopf ist wie leergefegt und plötzlich weiß ich nicht mehr, wie ich mich ausdrücken soll.
Frustriert raufe ich mir die Haare. Schließlich deute ich mit dem Finger nach oben, schnappe mir das Handy, das neben dem Computer auf dem Tresen liegt, und sprinte voraus. Hinter mir höre ich den empörten Ausruf der bestohlenen Frau, aber ich habe keine Zeit, ihr mein Vorhaben ausführlicher zu erklären. Polternd besteige ich die Treppen. Die Befürchtung, sie würde mir nicht folgen, kommt mir in den Sinn. Ich wage es nicht, einen Blick über die Schulter zu riskieren.
Erst vor der Zimmertür, die ich offen gelassen habe, bleibe ich stehen.
Atemlos sichte ich die Entwicklung der Situation. Das Feuer hat sich in meiner Abwesenheit weiter verbreitet und kriecht direkt auf Devran zu. Mit dem Rest an Adrenalin werfe ich mich förmlich ins Zimmer, packe ihn an den Armen und zerre ihn am Boden entlang. Hustend kneife ich die Augen zusammen.
Bevor ich die Schwelle erreiche, strecke ich meine Hand aus, um der Rezeptionistin ihr Handy wiederzugeben, die dort mit panisch geweiteten Augen steht. Diesmal zögert sie nicht länger, sondern wählt selbstständig den Notruf. Endlich erlaube ich mir, einen tiefen Atemzug zu nehmen.
Wir haben es geschafft, denke ich mit Unglaube, als ich vollends verstehe, was soeben passiert ist. Ich habe es geschafft!
In der Nacht erklingen die näher kommenden Sirenen, während die Flammen die Bodendielen in Brand setzen. Ein Alarm geht los. Darauf aufgeschreckte Stimmen. Aufloderndes Licht.
Meine Knie knicken ein, und ich spüre nur noch den Fall, bis mich die Dunkelheit einfängt wie eine schützende Umarmung.
In regelmäßigen Abständen durchbricht das Ticken meines Weckers die Stille. Es ist Sonntag, fast exakt eine Woche nach dem Feuer. Inzwischen habe ich Devran im Krankenhaus besucht, meine aufgeschreckten Eltern beruhigt, um anschließend eine Predigt über mich ergehen zu lassen, und war in der Schule anwesend. Der Fragenansturm meiner Freunde war unvermeidbar gewesen, und ich habe es ihnen kaum übel genommen. Mein Alltag verlief ganz normal, bis auf eine Attacke von Norelle, die mich wegen Devran beinahe angesprungen hätte. Aber die Angst hat mich seit dem Vorfall nie wieder allein gelassen.
Die unangenehme Atmosphäre reizt mich dazu, eine Leinwand aufzustellen und mit Farben zu experimentieren, aber die Anwesenden hindern mich daran. Stumm sitze ich auf meinem Bett und beobachte meine Mitschüler. Fast alle vier verstecken ihre Gesichter hinter dem Bildschirm ihres Handys. Selbst Kaden streicht gelangweilt über sein Display, während er sich die Unterlippe zwischen die Zähne klemmt. Nur Cameron Dion, der bekannte Streber aus der ersten Reihe, hat ein Buch aufgeschlagen und liest. Wir stehen uns nicht unbedingt nahe, dennoch tut es mir leid, dass er in diese Gruppe gelandet ist.
„Sagt mal", durchbricht mein bester Freund plötzlich das Schweigen und streckt sich gähnend, „wollen wir auch mal was machen?"
„Wieso?" Norelle antwortet spitz, ohne den Blick einen Millimeter zu heben. Ihre Finger sausen über die Tastatur, wobei ihre Mundwinkel wie gewohnt nach unten gebogen sind. „Willst du etwa zum zweiten Möchtegern-Löwen werden?"
Kaden schielt betont unauffällig in Camerons Richtung.
„Nö." Aufs Neue überschlägt er die Beine und macht sein Handy wieder an, bevor er mir einen kurzen, genervten Blick zuwirft. „Hab bloß keinen Bock, mich vor der Schule zu blamieren – so wie gewisse andere Menschen."
Ich seufze bei Norelles Killerblick und lasse mich in meine Kissen fallen. Insgeheim verfluche ich mich dafür, den Vorschlag gemacht zuhaben, das Treffen bei mir abzuhalten. Meine Eltern haben aufgrund meines Verschwindens betont, dass ich mich mehr auf die Schule konzentrieren soll, und dadurch ist mir nichts anderes eingefallen, als das Projekt als Vorwand zu nutzen, um zumindest einen meiner Freunde zu sehen. Außerhalb der Schule, fern von fremden Augen.
Mittlerweile muss bestimmt schon eine volle Stunde vorbei sein, in der jeder seinen eigenen Beschäftigungen nachgegangen ist, anstatt Ideen für unsere Präsentation zu sammeln. Es ist einfach katastrophal. Mit im Nacken verschränkten Armen starre ich an die Decke und puste mir unterdessen eine verirrte Strähne aus den Augen. Außer das Rascheln der Buchseiten und das Ticken meines Weckers verstummt der Raum erneut.
„Ich denke, Kaden hat Recht."
Vor Überraschung wäre ich beinahe aus dem Bett gefallen. Ruckartig wende ich den Kopf zur Quelle der Stimme, so wie die anderen, um festzustellen, dass Cameron noch immer in sein Buch vertieft ist.
„Seit wann so frech, Brillenschlange?" Hochnäsig rümpft Norelle die Nase und wirft sich das gefärbte Haar über die Schulter, wobei sie fast Kadens Augen getroffen hätte. Dessen protestierenden Ausruf ignoriert sie absichtlich. Etwas besorgt richte ich mich wieder auf und beobachte, wie die beiden ihre Handys ausschalten und eindeutig verwirrt in die Richtung des einzigen emsigen sehen.
Cameron rückt beifällig seine Brille zurecht und sieht endlich von den bedruckten Seiten auf.
„Ich weiß zwar, dass du Aufmerksamkeit magst", fährt er fort, „aber ich nicht."
Mein bester Freund hält sich mit einem Klatschen die Hand vor den Mund, um sein Lachen zu dämpfen. Bei Norelles strengem Blick räuspert er sich schnell und beißt sich auf die Lippe.
„Sag das noch mal." Drohend steht Norelle auf und wendet sich mit schriller Stimme wieder Cameron zu.
„Es-es tut mir leid ... das hätte ich wohl nicht s-sagen sollen..."
„Ganz genau." Sie nickt mit verschränkten Armen und kneift dieAugen zu schmalen Schlitzen zusammen. „Hättest du nicht."
Inzwischen habe ich das Gefühl, dass die Situation früher oder später eskalieren würde und weiß nicht, wie ich das finden soll. Ehrlich gesagt habe ich mir unser erstes Treffen ganz anders vorgestellt. Etwas ... produktiver. Aber letztendlich soll es mir recht sein.
„Jetzt reg' dich wieder ab, Weihnachtsbaum. Ich wusste auch nicht, dass du solche Wege gehst, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Lass' doch unseren armen Streber in Ruhe."
Langsam beginnt Norelles Gesicht, an Farbe zu gewinnen, bis das Rot selbst durch ihre Make-Up Schicht dringt und dem Ton in meiner Farbtube gleicht. Unwillkürlich werde ich an das meinen Fund in Devrans Reisetasche erinnert. Letztendlich ist mir dieser ein Rätsel, denn offensichtlich habe ich den meinen Nachbarn zu Unrecht verdächtigt, was mir einige Gewissensbisse bereitet.
„Wie hast du mich gerade gena-"
„YES!"
Eine Faust schießt neben ihrem Fuß aus dem Boden und erschreckt sie so sehr, dass sie einen Schritt zurück stolpert, gegen meinen Schreibtischstuhl stößt und sich widerwillig darauf plumpsen lässt. Das Zurückschnellen der Feder hallte einige Sekunden nach und ich glaube, mein Puls ist aufgrund des vorherigen Lärms einen Herzschlag lang auf den Tiefpunkt gesunken.
„I AM THE WINNER!"
Charlottes freudestrahlendes Gesicht schwebt über der Kante meines Bettes. Sie schenkt uns allen ein triumphierendes Grinsen, bevor sie den Kopf wieder auf das Display senkt und aus meinem Blickfeld verschwindet. Blinzelnd sehe ich meinem besten Freund entgegen, dessen Miene sich allmählich verfinstert, nachdem er sich von seinem Schrecken erholt hat. Entschlossen beugt er sich hinunter, um Charlotte einen Schlag gegen den Hinterkopf zu verpassen.
„Ey!", protestiert diese sofort und hebt anklagend den Blick. „Wofür war das denn? Hast du kein Benehmen oder was?"
„Liebe Charlotte", säuselt Kaden mit einem nahezu unheimlichen Lächeln. „Düfte ich fragen, wie viel du von unserem Gespräch mitbekommen hast?"
Verwirrt sieht sie zu Norelle hinüber, die eingeschnappt in ihrem Rücken sitzt. Hilfesuchend hebt sie den Kopf. „Hat ... Hat denn jemand was gesagt?"
Prompt fliegt Kadens Hand an seine Stirn, während ein ergebendes Stöhnen seine Lippen verlässt.
„Dir ist echt nicht mehr zu helfen, was?"
Ein Knall bewahrt Charlotte vor einer Antwort und veranlasst mich dazu, ein weiteres Mal alarmiert herumzuwirbeln. Das Herz schlägt mir prompt bis zum Hals und wird anschließend mit Erleichterung durchflutet, als ich meinen Vater panisch im Türrahmen stehen sehe.
„Stella", stößt er aufgelöst hervor. Er klingt, als wäre er die Treppen in einem Atemzug hinaufgestürmt. „Ist alles in Ordnung?"
Sein Blick huscht eilig durch den Raum, bis er bei mir landet. Erleichtert atmet er auf und fasst sich mit der Hand an die Brust. Ich glaube, wir werden irgendwann alle vollkommen paranoid.
„Gott sei Dank, es ist nichts passiert. Aber ich habe eben einen Schrei gehört ..."
Es rührt mich, dass er sich noch immer um mich sorgt, nach all dem, was geschehen ist.
„Alles in Ordnung, Robert." Verächtlich fixiert der blonde Junge Charlotte. „Das kommt eben davon, wenn sich eine Frechheit im Raum befindet."
Mein Vater scheint eindeutig verwirrt zu sein. Mit einem angedeuteten Lächeln nickt er unsicher und wirft mir einen überforderten Blick zu, um sich anschließend wieder aus dem Staub zu machen.
„Kann mir mal endlich jemand erklären, worum es hier gerade geht? Ich komme irgendwie nicht mit." Charlottes Frage bleibt eine Weile einsam in der Luft hängen.
Abfällig schnaubt Kaden und lässt sich neben mir aufs Bett fallen. „Das wundert mich kein Stück."
„Fakt ist", betont beifällig erhebt sich Norelle und stolziert zur Tür, „dass ich keine Lust mehr auf euch Langweiler habe. Komm, Charlotte, wir gehen."
Ein letztes Mal wirft sie ihr Haar zurück und verschwindet anschließend, gefolgt von ihrer Anhängerin, durch die Tür.
„Ich hoffe, dass sie auch die Tür nach draußen findet!", schreit ihr Kaden nach, worauf er nur ein Schnauben zur Antwort erhält. Trotz der verkorksten Lage muss ich mir ein Schmunzeln verkneifen.
„Ich gehe dann auch mal", verkündet Cameron halb nuschelnd, schnappt sich sein Buch, winkt uns kurz zu und folgt den beiden zum Abschluss. Nachdem die Besucher verschwunden sind, wirft Kaden meine Zimmertür zu und schmeißt sich lautstark auf meine Matratze.
„Endlich sind die weg! Ich dachte schon, ich würde hier drin lebendig sterben. Ehrlich, wie konnte uns der alte Sack diese beiden nur antun?"
Mitleidig ziehe ich eine Schnute und lege mich neben ihn. Allerdings schnellt Kaden gleich darauf hoch und dreht sich stirnrunzelnd um. Zögernd zieht er mein aufgeschlagenes Notizbuch unter seinem Rücken hervor und wirft einen Blick auf die Beschriftung. Langsam sieht er zu mir auf.
„Was bedeutet das?"
Ahnungslos blinzele ich und strecke meine Hand nach dem Heft aus, das er mir widerstandslos übergibt. Als ich den Satz erblicke, der auf der leeren Seite ziemlich verloren wirkt, muss ich unwillkürlich gegen die auflehnenden Erinnerungen kämpfen.
„Rache 1011110111;G. E. I. h-A"
Kurz nach meinem Aufwachen im Krankenhaus der Stadt, dessen Namen ich vergessen habe, sobald er gefallen ist, hat mich ein Polizist zur Befragung eingeladen. Devran, der sich wegen einer starken Rauchvergiftung immer noch dort befindet, muss es erst nach Besserung seines Zustands durchführen. An die Einzelheiten kann ich mich nicht mehr genau erinnern, aber die deutlichsten Eindrücke sind mir im Gedächtnis geblieben. Der Polizist hat mir erklärt, dass das Feuer kein Unfall gewesen ist, sondern eindeutig das Werk eines Menschen. Zwar ist mir nicht länger unbekannt, dass mir jemand etwas antun will und ich womöglich damit zu tun habe, doch die Sicherheit, womit der Polizist sprach, hat mich dennoch getroffen.
Später hat mir der Beamte einen Zettel übergeben, der bis dato in einer kleinen Tüte aufbewahrt wurde. Er hat mich gefragt, ob es mir gehört oder ich seinen Verfasser kenne. Der Schriftzug war mir gleich bekannt – es ist die angebrannte Version einer Zahlenfolge, die ich in ähnlicher Form schon dreimal erhalten habe, wenngleich die Letzte nur an mein Fenster geschrieben wurde.
Der Officer hat mir erlaubt, die Nachricht zu notieren.
Ich habe alles gesagt, was ich wusste. Meine Informationen sind allerdings nicht sonderlich hilfreich, nicht, wenn sie nur drei Botschaften und ein Klopfsignal enthalten. Wenn der Vorfall mit dem Feuer nicht gewesen wäre, hätten mich bestimmt auch die Beamten schamlos ausgelacht, sobald ich mit meiner Erzählung geendet habe. So jedoch hat der Polizist alles abgenickt, das ich niedergeschrieben habe.
Mit herzlichen Worten und der Empfehlung, zusätzliche Sitzungen bei Mrs. Evans zu nehmen, bin ich schließlich entlassen worden.
„Stella? Alles in Ordnung?"
Kadens beunruhigte Worte reißen mich aus meinen Gedanken und befördern mich zurück in die Gegenwart. Eilig nicke ich, während ich gedanklich abwäge, ob ich ihm von der Wahrheit berichten soll. Immerhin ist Devran dadurch in Gefahr geraten, und ich will auf keinen Fall, dass auch meinem besten Freund etwas ähnliches zustößt.
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