7| Gemeinsam einsam
~ 778 h
Achtlos wirft Devran ein kleines Mäppchen, einige zerknitterte Blätter, die er aus den Tiefen seiner Reisetasche gefischt hat, und seinen Geldbeutel in meinen Rucksack, bevor er sich diesen über die Schulter hängt. Die Müdigkeit steht ihm ins Gesicht geschrieben, während ich nicht wacher sein könnte. Nachdem ich ihn eine knappe Stunde zuvor aufgeweckt habe und er erschrocken aus dem Bett gefallen ist, können wir beide nicht mehr schlafen. Es tut mir zwar leid, aber froh darüber, nicht ständig am selben Ort sein zu müssen, bin ich dennoch.
Seufzend klaubt Devran seine Schlüssel von der kleinen Kommode in der Ecke, auf die er sie bei unserer Ankunft abgelegt hatte, und klemmt sich seinen Motorradhelm unter den Arm.
„Lust auf Frühstück?", fragt er mich mit einem angedeuteten Lächeln. Bestätigend nicke ich. Vorauslaufend wendet er sich der Tür zu und hält sie mir anschließend auf. Dankend verziehe ich die Lippen, bevor ich aus dem Zimmer husche. Der Anblick der fremden Einrichtung und das kühle Türkis der Tapeten erscheint mir unwirklich.
Die Treppenstufen knarzen leise unter meinem Gewicht. Dieselbe Frau, die uns bei unserer späten Ankunft empfangen hat, steht an der Rezeption. Sie nickt uns freundlich zu, als wir den Empfangsraum durchqueren, und höflich erwidere ich ihre Geste. Sonnenlicht flutet den Raum und beleuchtet die Felder am Horizont. Geräuschlos zieht Devran die Tür auf und lässt mir erneut den Vortritt. Dann sind wir draußen.
Der Himmel begegnet mir in einem strahlenden Blau, vereinzelte Vögel streifen über unseren Köpfen die Dachreihen entlang. Eine seichte Brise spielt mit meinem Haar und bringt es zum Tanzen. In den Vorgärten einiger Häuser, auf die wir aus unserer Position einen Blick erhaschen können, liegen faulenzende Menschen und genießen die Sonne. Der Straßenverkehr nimmt stetig zu, Autos brausen knapp an uns vorbei. Eine Ampel in der Nähe lähmt die Fahrzeuge und bremst ihre Geschwindigkeit. Lautes Hupen, von Flüchen begleitet, ist die Antwort.
Als wäre es eine Selbstverständlichkeit schnappt sich Devran mein Handgelenk und zieht mich Richtung Parkplatz. Ohne weitere Worte besteigt er sein Motorrad, das unbeschadet am selben Ort steht, an dem wir es zuletzt verlassen haben. Mit einem Nicken deutet er mir anschließend, ihm nachzumachen. Widerstandslos leiste ich seinen Worten Folge, nicht ohne ihm zuvor den Helm aus der Hand genommen zu haben.
„Wo gehen wir hin?", will ich ihn fragen. Auf meinen neugierigen Blick antwortet Devran nur mit einem geheimnisvollen Lächeln.
„Ich habe schon Recherchearbeit betrieben", verkündet er stolz und lässt den Motor schnurrend anspringen. „Keine Sorge, du wirst es lieben."
Tausende Fragen liegen mir auf der Zunge, warten darauf, gestellt zu werden. Ich zwinge mich zur Geduld und dränge sie zurück. Bald, tröste ich mich gedanklich, während der Fahrtwind trotz des stockenden Verkehrs grob an meiner hellen Bluse zerrt. Wenn wir irgendwo anders und ungestört sind, dann werde ich sie ihm stellen.
Die Friedlichkeit in diesem Ort fasziniert mich. Obwohl noch kein Wochenende ist, sehe ich überall Grüppchen herumlungern, bestehend aus Jugendlichen, die ihre Köpfe über ein fremdes Handy zusammenstecken. Geschäftsmänner spazieren die Wege entlang, pfeifend und mit einer Hand in der Hosentasche ihres Anzugs, als kennen sie keine Eile. Ab und zu fährt sich jemand gestresst durch die Haare, packt die Einkauftüten oder Handtasche fester, bevor er, fest entschlossen, seine Probleme zunächst zu verdrängen, weiterstapft. Der Fortlauf des Alltags sorgt dafür, dass sich ein zufriedenes Lächeln auf meine Lippen schleicht.
Ein paar Kreuzungen, viele Ampeln und unzählige Flüche später parkt Devran schließlich vor einem kleinen Café relativ außerhalb der Stadtmitte. Verzweigt zwischen schmalen Wegen und überwucherten Trampelpfaden befinden wir uns am Rande einer Sackgasse. Eingepfercht in aufragenden Bäumen fügt sich das Gebäude perfekt in das Bilddes Waldes. Rosen überwuchern willkürlich das weiße Backsteinhaus, ein Schaufenster erlaubt einen Blick in den gemütlich eingerichteten Innenraum. Es lädt förmlich dazu ein, über seine Schwellen zu treten. Staunend lege ich den Kopf in den Nacken, nachdem ich Devrans Helm abgenommen habe.
„Ich wusste, es würde dir gefallen", schmunzelt dieser und läuft lässig voraus, die Hände unterdessen in den Hosentaschen verstaut. Brav folge ihm in das kleine Café. Der aromatische Geruch nach gemahlenen Kaffeebohnen steigt mir in die Nase und die verschiedene Sorten von Kuchen hinter der Theke lenken meine Aufmerksamkeit auf sich. Begeistert weiten sich meine Augen.
Mein Nachbar manövriert mich zu einem freien Platz am Fenster. Die Sonne teilt sich im Glas und wird in unterschiedliche Farbtöne reflektiert. Dabei malt sie einen bunten Lichtkreis auf das hellgeriffelte Holz.
„Such dir einfach etwas aus", erklärt mir Devran und schiebt mir eine der Karten zu, die sich bis dato im kleinen Ständer in der Mitte des Tisches befunden hatte. Einverstanden nicke ich und überfliege die vielfältige Auswahl. Illustrierte Bilder nehmen den beschrifteten Seiten die Strenge. Es dauert nicht lange, bis ich die aufgeschlagene Karte ablege und vor Devran auf das Mobiliar klopfe, da sich dieser mir gegenüber hingesetzt hat. Er schielt daraufhin über den Rand seiner aufgeklappten Ausgabe und sieht mich abwartend an. Mit dem Finger tippe ich auf die Wörter „Blaubeermuffin" und„heiße Schokolade", was er wortlos abnickt. Anschließend vertieft er sich wieder in seine eigene Bestellung.
Der Kellner, der uns wenig später das Frühstück bringt, wirkt nicht viel älter als wir und zudem ziemlich nett. Die ganze Zeit über trägt er ein freundliches Lächeln auf den Lippen, äußert sich in keinster Weise darüber, was wir hier machen, statt im Unterricht zu sitzen. Möglicherweise denke ich auch einfach zu viel, schließlich sieht man uns nicht an, dass wir beide mehr oder weniger von zuhause abgehauen und noch Schüler sind.
„Guten Appetit", wünscht er und nickt uns zu, bevor er sich einem hinzugekommenen Ehepaar widmet. Ein Teller dampfender Pancakes steht vor meinem Begleiter, der sich, mit nur einer Gabel bewaffnet, über sie hermacht. Ich muss auf sein Verhalten hin grinsen.
Genüsslich beiße ich von meinem süßen Gebäck ab und schließe genießend die Augen, sodass ich für einen kurzen Moment vergesse, dass ich Devran eigentlich etwas ernstes fragen wollte. Die gedämpften Gespräche um uns herum lullt mich auf sanfter Weise ein. Es ist das erste Mal seit langer Zeit, dass ich mich so befreit gefühlt habe.
Wir schweigen, bis die Teller und Tassen leer sind und die Sonne ein Stück höher am Horizont gestiegen ist. Zufrieden lehnt sich Devran in seinem Stuhl zurück und sieht durch das Fenster auf die lichtdurchflutete Straßen hinaus. Ein goldener Ton legt sich auf sein Antlitz, lässt sein Lächeln in Sanftheit erblühen. Unwillkürlich schlägt mein Herz schneller.
„Du kannst sie ruhig stellen." Verständnislos blinzele ich und verliere mich in den Tiefen seiner Augen. Geduldig richtet er den Blick auf mich. „Ich kann mir denken, dass du Fragen hast."
Tatsächlich habe ich diesen Fakt beinahe vergessen. Dankbar nicke ich. Noch bevor ich ihn danach fragen kann, öffnet Devran meinen Rucksack, den er mitgebracht hat, und wühlt darin nach einem Blatt und seinem Mäppchen. Nachdem er beides hervorgeholt hat, legter sie vor mir auf die Tischplatte.
„Hier", sagt er aufmunternd, „fühl dich frei."
Ein wenig unsicher nehme ich einen Kugelschreiber zur Hand, während ich nachdenklich mit einer meiner blonden Strähnen spiele, die offen über meine Schultern fallen. Anschließend beginne ich, wenn auch etwas zögerlich, zu schreiben.
„Warum bist du eigentlich von zuhause weggelaufen, Devran?"
Er schweigt. Abwesend senkt er den Blick auf das gerillte Muster und fährt sie vorsichtig mit dem Finger nach. Ich frage mich unwillkürlich, woran er gerade denkt und kann die aufflammende Neugierde nicht unterdrücken.
„Ich habe es dort nicht mehr ausgehalten", antwortet er mir, während ich das Gefühl bekomme, dass er gedanklich an einem anderen Ort ist. „Die Streitereien, Beschuldigungen, ... einfach alles. Ich meine, es war natürlich schon immer mein Wunsch gewesen, erst meine Schwester beim Sterben zuzusehen und dann zu erfahren, dass wir nur das halbe Blut teilen. Ein Traum wird wahr."
Der Sarkasmus schwingt unüberhörbar in seiner Stimme mit. Ich presse mitleidig die Lippen zusammen.
„Du trägst keine Schuld, niemand hat das gewusst."
Etwas unbestimmtes drängt sich in mein Bewusstsein, fordert mich dazu auf, ihm die Vorwürfe zu nehmen. Devran seufzt lediglich resigniert.
„Womöglich."
Eine eigenartige Stille breitet sich aus, obwohl sich das Café allmählich füllt und der Lärmpegel um uns steigt. Die fremden Stimmen vermischen sich zu einem undefinierbaren Summen, in der Nähe höre ich das Scheppern von Geschirr. Unruhig lasse ich die Mine des Kugelschreibers abwechselnd ein- und ausrasten.
„Und ... wann wirst du zurückkehren? Wissen sie, dass du fort bist?"
Nachdem Devran die Beschriftung gelesen hat, die ich in Unentschlossenheit verfasst habe, schüttelt er träge den Kopf.
„Ich weiß es nicht", gibt er ehrlich zu. „Vielleicht bald, vielleicht auch nicht. Wer weiß schon, was die Zukunft bringt."
Er versucht sich an einem schiefen Grinsen, aber ich erkenne den fehlenden Glanz in seinen Augen. Dennoch nicke ich zustimmend.
„Was ist mit dir?", fragt er neugierig und überrascht mich. Diese Frage ist mir unangenehm, wenngleich ich ihm dieselbe gestellt habe. „Warum schläfst du plötzlich auf einer Bank, und das soweit von zuhause entfernt?"
Nervös druckse ich herum und schiebe mein Zögern auf meine Aphonie, die mir das Führen einer normalen Unterhaltung verbietet. Ich habe gedacht, dass ich durch mein Fortgehen auch die Gefahr mitnehmen würde. Niemals käme ich bei meinem Handeln auf die Idee, dadurch jemand anderes mit hinein zu ziehen. Was ich davon halten soll, nun eine Beichte darzulegen, weiß ich nicht.
Der ernste Gesichtsausdruck des braunhaarigen Jungen lässt mich an der Möglichkeit zweifeln, mich geschickt herauszureden. Nach einem gewagten Blick in seine Augen gebe ich mich schließlich geschlagen und entscheide, zumindest teilweise wahrheitsgemäß zu antworten.
„Ich bin gegangen, weil ich dachte, mich würde ein Stalker verfolgen. Jemand, der seltsame Nachrichten an mein Fenster schmiert."
Widerstrebend gebe ich das Geschehen in starker Verkürzung wider. Ich wage es nicht, den Kopf zu heben, sondern hefte meinen Blick standhaft auf das blütenweiße Papier.
Schweigen breitet sich aus.
„Das ... ist wirklich ein Dilemma", gibt Devran irgendwann von sich und räuspert sich leise. Ich wundere mich darüber, dass sich keine Spur des Entsetzens in seinem Gesicht abzeichnet, und bin gleichzeitig dankbar dafür. "Ehrlich gesagt hätte ich an deiner Stelle keine Ahnung gehabt, was ich tun sollte."
Zustimmend wiege ich den Kopf. Zu meinem Erstaunen breitet sich etwas ähnliches wie Erleichterung in mir aus. Jemandem davon zu erzählen gibt mir ein befreiendes Gefühl, auch wenn ich es ungern zugebe. Eine Frage drängt sich in mir auf und fordert, gestellt zu werden.
„Was hätte dich aufgehalten?"
Aufrichtig interessiert beuge ich mich ein Stück über den Tisch, um seine Antwort auf keinen Fall zu überhören. Die Tür irgendwo in meinem Rücken geht unerlässlich auf und spuckt Besucher aus, bevor sie neue einlädt.
„Nun ja", nachdenklich kratzt er sich am Kinn und schürzt die Lippen, „so einiges, aber vor allem die Angst vor dem Ungewissen. Ich will ja nicht sagen, dass du es falsch gemacht oder zu voreilig gehandelt hättest, ich wäre wohl der Letzte, der dazu berechtigt wäre. Aber obwohl es zu Hause nicht mehr sicher ist, so schätze ich die Lage jedenfalls mal ein, muss es außerhalb unserer Wände nicht zwingend besser sein. Du weißt ja gar nicht, wohin du sollst. Und schläfst deshalb auf einer Bank."
Devran wirft mir einen bedeutenden Blick zu, den ich grimmig erwidere. Er wird mich wohl für immer an meinen armseligen Anblick erinnern.
„Ein Stalker ist kein Spaß. Ich könnte mich vielleicht wehren, wenn ich an einem fremden Ort erwischt werde, den ich nicht kenne. Aber so ein zartes Mädchen wie du hätte keine Chance. Du wärst ihm einfach hilflos ausgeliefert."
Seine Worte treffen mich mehr, als ich erwartet hätte, denn sie beinhalten die harte Wahrheit. Erst in diesem Moment wird mir bewusst, wie unfassbar viel Glück ich hatte, indem ich Devran auf halbem Weg getroffen habe. Was er sagt, hätte durchaus passieren können. Und dieser Gedanke lässt mich unwillkürlich frösteln.
Ein dumpfes Klacken lässt mich aufblicken.
„Wie auch immer", sagt Devran, der gerade seine leere Kaffeetasse abgestellt hat. „Für unseren Aufenthalt hier lassen wir mal alle Sorgen zurück und genießen einfach das sommerliche Wetter. Danach finden wir gemeinsam eine Lösung. Ist das ein Deal?"
Zaghaft stimme ich zu. Meine Suspension schwebt noch vor meinem inneren Auge und bereitet mir Kopfschmerzen, dennoch will ich den Versuch wagen, das Beste aus der Situation zu machen. Während mein Begleiter sein Portemonnaie aus meinem Rucksack fischt, betrachte ich ihn selig. Mit ihn an meiner Seite fühle ich mich plötzlich nicht mehr einsam.
In der Abenddämmerung lasse ich mich erschöpft auf das kleine Bett fallen, das mir seit neuestem zusteht. Es quietscht leise, als ich mich, verschwitzt wie ich bin, darauf fallen lasse. Aus den Augenwinkeln nehme ich die Silhouette von Devran wahr, der sich kurzerhand das Oberteil über den Kopf zieht und in eine Ecke pfeffert, wo es als Stoffhäufchen unbeachtet liegen bleibt.
Den ganzen restlichen Tag haben wir damit verbracht, die Stadt in der prallen Sonne zu erkundigen. Ich muss zugeben, dass es mir dieser Ort ziemlich angetan hat. Es ist eine wohltuende Abwechslung zu Cambridge, in der immer etwas los ist und die Menschen in Hektik verfallen. Nur leider haben wir beide vergessen, Sonnenschutz zu benutzen. Zusätzlich ist Devrans Motorrad samt Helm schwarz, was nicht sonderlich vorteilhaft gewesen ist. Beinahe wäre ich unter der Haube erstickt, wenn wir daraufhin nicht abgestiegen wären.
Gerade erst kommen wir von einem kleinen Hügel in der Nähe zurück, auf dessen Spitze man fast zur Autobahn blicken kann, die wir bei unserer Ankunft passiert haben. Er liegt unweit der Felder, auf die ich in meiner Position einen guten Blick habe. Die Sonne taucht sie gerade in stechendes Orange und macht dem Sternenhimmel Platz.
„Weißt du, Elster", beginnt Devran heiser und stellt sich ans Panoramafenster, „seit Lias Tod habe ich gedacht, das Licht an meinem Himmel wäre endgültig erloschen. Ich weiß, ich habe euch zwei oft genug geärgert, sei es durch Streiche oder sarkastische Kommentare. Aber sie ist immer noch meine Schwester, und ich liebe sie. Niemand hat mich jemals besser verstanden, niemand war je selbstloser. Dass sie plötzlich nicht mehr da ist, fühlt sich so falsch an. Ich dachte, das alles wäre nur ein Albtraum."
Seine Worte stürzen die Stimmung in eine bedrückende Atmosphäre. Ich verstehe den abrupten Wandel nicht ganz, dennoch respektiere ich ihn. Verständnisvoll blicke ich zu meinem Nachbarn auf. Die Resignation haftet an ihm und zerstört die Illusion eines harmonischen Bildes. Er öffnet sich mir, zeigt mir die klaffende Wunde in seinem Herzen und richtet zugleich den Finger auf meine. Noch nie habe ich ihn so frei über seine Gefühle sprechen gehört. Er hat sie stets hinter einer Fassade aus Gleichgültigkeit und dem Hauch von Lächerlichkeit verborgen. Ich hätte niemals damit gerechnet, dass ein Blick dahinter so wehtun würde.
Devran seufzt gequält auf.
„An diesem Nachmittag, als wir das Geheimnis meiner Mutter ... das meiner Familie zufällig mitbekommen haben, habe ich die Kontrolle über mich verloren. Ich habe mich von allen so verdammt hintergangen gefühlt. Verarscht."
Er unterbricht sich selbst, indem er sich mit der Hand übers Gesicht fährt und stützt sich anschließend gegen den Fensterrahmen. Die Müdigkeit ist ihm klarer anzusehen als bei unserer Begegnung auf dem Schulparkplatz.
„Ich bin dir dankbar, Elster." Verwundert weiten sich meine Augen.
Wofür?
Als hätte er meine stumme Frage gehört, dreht er sich um und grinst mich halbherzig an.
„Ich bin dir dankbar, dass du noch da bist. Dass du mich weder angelogen noch verlassen hast, meine ich. Denn trotz der Tatsache, dass du gerade nicht sprechen kannst, bist du das einzige Licht an meinem Himmel. Und ich weiß, das mag vielleicht egoistisch klingen, aber ich hoffe, du wirst bleiben. Alle Sterne können ihr Leuchten verlieren, nur du nicht."
Seine Worte berühren unweigerlich mein Herz.
Das sanfte Rascheln der Blätter, die auf dünnen Zweigen thronen und im wiegenden Wind gegen das Fenster peitschen, erfüllt das Schweigen. Manchmal ist Hoffnung das Einzige, das uns bleibt, und ich rechne es Devran hoch an, dass er nicht aufgegeben hat. Mit einem Seufzen tritt er schließlich zurück, wendet sich vom Bild des Nachtanbruchs ab.
„Ich werde dann mal duschen gehen", verkündet er und grinst verschmitzt. „Ich beeile mich, versprochen."
Nickend lasse ich ihn gehen. Seine Schultern hängen müde herab, doch er strafft sie unwillkürlich, als er an mir vorbeigeht. Ich schenke meine Aufmerksamkeit wieder dem Himmel.
Sterne zeichnen sich ab, die Wolken am Tag haben sich längst verzogen. Klare Schwärze taucht die Nacht in eine Illustration des Todes. Sie verschlingt jede Helligkeit, nur die der Himmelskörper nicht. Es wirkt, als gäbe es im tiefsten Dunkel noch ein spärliches Licht.
Hoffnung. Glaube.
Ein unterdrücktes Fluchen lässt mich herumdrehen. Devran hebt gerade seine Reisetasche in die Höhe und schüttelt diese so heftig, dass sämtlicher Inhalt zu Boden purzelt. Ein Geräusch, als würde Glas auf Holz treffen, lenkt meinen Blick auf einen kleinen Behälter. Er rollt unbeachtet in meine Richtung, wo er nach kurzen Zusammenstoß mit der Wand liegenbleibt. Die rote Farbe bringt meinen Puls zum rasen.
Vorsichtig mache ich einen Schritt zur Seite und stelle mich so an das Fenster, dass der Behälter hinter meinen Füßen versteckt ist.
„Sorry", entschuldigt sich Devran, der meinen Blick bemerkt hat, und wirft sich ein frisches Oberteil über die Schulter. Mir ist unklar, wonach genau er gesucht hat, aber als ich die unscheinbare Waschtasche in seinen Händen erblicke, schlucke ich die unausgesprochene Frage wieder hinunter.
Nachdem er im Badezimmer verschwunden ist, zögere ich keinen Augenblick länger und bücke mich nach dem Glas. Es ist ein Farbtopf. Ein roter Farbtopf.
Die Erinnerung an die Schrift in meinem eigenen Fenster und dem Stalker, vor dem ich weggelaufen bin, wallen auf wie die unaufhaltsamen Flammen eines Feuers. Entsetzt stürze ich zum kleinen Waschbecken, der neben der Tür angebracht wurde. Die Lampe über meinem Spiegelbild, dessen weißes Licht mich blendet und in den Augen schmerzt, scheint mich zu verspotten. Die Angst zeichnet sich in meinem Gesicht ab.
Meine Finger sind zittrig, als ich versuche, den Deckel des Farbbehälters aufzuschrauben. Ganz langsam tunke ich sie in die feucht-weiche Masse. Zögernd, als könnte der Spiegel unter meiner Berührung zerbrechen, berühre ich sie mit der Hand. Mein Atem geht heftig und unregelmäßig, mein Körper ist angespannt. Ein Teil von mir klammert sich eisern an den Glauben, dass es nur ein dummer Zufall ist. Dass es nichts zu bedeuten hat.
Auch dann noch, als es keinen Zweifel daran gibt, dass es dieselbe Farbe ist, wie ich sie bereits zweimal zuvor gesehen habe.
Bitte um Rückmeldung/Kritik!
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