6| Eine zufällige Begegnung

~ 786 h

Aufmerksam lasse ich den Blick schweifen, luge um die Ecke und sehe sogar hinter dem Mauervorsatz nach, der unser Haus vom Nachbargrundstück trennt. Vom vermeintlichen Einbrecher ist keine Spur. Unsicher verenge ich die Augen, während ich rückwärts die angelehnte Tür aufstoße. Ich fühle mich ungewöhnlich schuldig. Ein letztes Mal scanne ich die Straße ab und will gerade wieder in den Flur verschwinden, als mir etwas Schwarzes ins Auge springt.

Abrupt reiße ich die Augen auf.

Da ist jemand, ich bin mir sicher. Eine schwarze Gestalt, die eilig den Kopf einzog, als mein Blick sie getroffen hat. Unwillkürlich packt mich die Angst, eine, die mich trotz der hohen Temperaturen zittern lässt. Hektisch werfe ich die Haustür hinter mir zu und laufe eilend die Treppen hinauf. Mein Herzschlag beschleunigt sich und die Tatsache, dass ein Stalker um mein Zuhause schleicht, treibt meine Schritte an. Am liebsten hätte ich nach meinen Eltern gerufen. Wenn ich mich zuvor über ihre Abwesenheit gefreut habe, fürchte ich mich nun umso mehr davor. Der Schatten könnte mich mühelos überfallen, ohne dass ich eine Wahl hätte. Ich würde still aus der Welt verschwinden, und niemand würde mein Fehlen bemerken.

Ich muss hier weg, ist mein einziger Gedanke. Ich muss hier weg.

Unruhig stürze ich in mein Zimmer und schütte mit Schwung den Inhalt meines Rucksacks auf dem Schreibtisch aus. Planlos entnehme ich meinem Schrank einige Kleidungsstücke, bevor ich sie unwirsch in die entleerte Tasche stopfe. Ständig habe ich das Gefühl, unter Beobachtung zu stehen, und werfe nervöse Blicke aus dem Fenster. Die rote Farbe auf dem Glas bereitet mir eine Gänsehaut.

Geldbeutel, ein Stift und mein Notizbuch folgen. Ich weiß nicht, wohin ich soll, und noch weniger, wie lange ich dort verweilen werde. Aber hier kann ich nicht länger bleiben, wenn ich nicht vollends durchdrehen will.

Ich komme ja wieder, beruhige ich mein Gewissen. Das unregelmäßige Klopfen meines Herzens hallt in meinen Ohren wider. Die beiden Zettel in meiner Rocktasche, die ich dieser nie entnommen und für einen dämlichen Streich gehalten habe, werden zu einem unheimlichen Albtraum.

Kurz überlege ich, meinen Eltern eine Nachricht zu hinterlassen, entscheide mich schlussendlich allerdings dagegen. Sie sollen nicht noch enttäuschter sein als sie es ohnehin sind.

Vor der Haustür drehe ich mich erneut prüfend um meine eigene Achse. Anschließend lege ich die Hand auf die Türklinke und atme tief durch, während sich die Unentschlossenheit in mir ausbreitet. Noch kann ich umdrehen, mich in meinem Zimmer verbarrikadieren und darauf hoffen, aus diesem Traum aufzuwachen. In einem Anflug an Mut ziehe ich die Tür zu und drehe mich um. Bald sprinte ich die Straße entlang, von Panik und schlechtem Gewissen getrieben.

Der Gedanke an unsichtbare Augen, die jeden meiner Schritte beobachten, überläuft mich ein Schauer.

Die Sonne scheint mir in den Nacken und erschwert mir das Vorankommen. Es dauert nicht lange, bis meine Lunge wie Feuer brennt und ich gezwungen bin, das Tempo zu drosseln. Nicht selten ertappe ich mich selbst dabei, beunruhigt über meine Schulter zu schauen. Häuser ziehen an mir vorbei, einige Spaziergänger taxieren mich, als wäre ich eine Verrückte. Vielleicht bin ich das auch.

Häufig glaube ich, zu halluzinieren. Hinter jeder Ecke, um die ich biege, meine ich eine Schattengestalt zu erkennen, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen und niemals ohne das hinterhältige Grinsen, das mir erst vor Tagen im Spiegel entgegen gesehen hat. Und jedes Mal, wenn ich das Gefühl bekomme, von tonlosen Schritten verfolgt zu werden, beginne ich von Neuem an zu rennen. Der Tag zieht am Himmel vorbei, ich weiß nicht mehr, wo ich bin.

Umso länger ich durch die ziellos umher irre, desto ruhiger werde ich. Ich werfe nicht länger mit hektischen Blicken um mich und versuche stattdessen endlich, die Sache objektiv zu betrachten. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, mit einem einigermaßen kühlen Kopf und keinen Stalker im Rücken, wird mir erst klar, wie absolut bescheuert mein Vorhaben ist. Mitten im Nirgendwo bin ich wohl kaum sicherer als zu Hause. Ein Zurück gibt es jedenfalls nicht mehr und um ehrlich zu sein weiß ich nicht, wie lange es dauert, bis ich zurückkehren kann. Möglicherweise ist das aber auch besser so. Immerhin verfolgt mich die potenzielle Gefahr und trifft dadurch nicht meine Familie.

Der Gedanke daran gibt mir neuen Mut, begleitet mich auf meinem restlichen Weg. Die Straßen leeren sich, einige Lichter gehen an. Ein paar Mal halte ich an, um Atem zu schöpfen und eine Pause einzulegen. Unwillkürlich komme ich mir vor wie eine Obdachlose.

Erschöpft lasse ich mich auf eine Bank fallen und schraube den Deckel meiner neu erworbenen Wasserflasche auf. Gierig lasse ich die erfrischende Flüssigkeit meiner Kehle hinabfließen. Mein Geld ist nach einer Mahlzeit fast vollständig aufgebraucht, weil ich vergessen habe, meine Kreditkarte einzustecken, und ich bin mir alles andere als sicher, wie lange ich damit auskommen würde. Die Müdigkeit nagt an meinen Knochen. Ich spiele mit dem Gedanken, die Nacht einfach hier zu verbringen. Die sommerlichen Abende sind nicht sonderlich kalt, weshalb es keinen großen Unterschied machen würde, ob ich mich drinnen oder draußen aufhalte. Lediglich der Gedanke daran, im Schlaf ahnungslos erschossen zu werden, plagt mich.

Die Finsternis der Nacht umfängt mich wie eine bedrohliche Hülle.

Ein Hupen jagt mir einen Todesschrecken ein und lässt mich abrupt aufspringen. Ich muss die Augen zusammenkneifen, weil mich die Lichter eines Fahrzeuges blenden und mich vor Helligkeit erblinden lassen.

Der Schatten hat mich gefunden, ist mein erster Gedanke. Kalter Schweiß rinnt meinen Rücken hinab.

Ganz in der Nähe befindet sich eine Tankstelle. Wenn ich Glück habe, kann ich mich dort kurzweilig verstecken und warten, bis der unerwünschte Besucher weitergegangen ist. Überzeugt von meinem Plan nehme ich die Wasserflasche in die Hand und schultere leise meinen Rucksack. Auf Zehenspitzen schleiche ich gebückt um die Bank herum, dabei die Augen aufmerksam geweitet.

„Elster?"

Wie erstarrt bleibe ich stehen, während mein Gehirn versucht, die sowohl zögerliche als auch verdatterte Stimme zu identifizieren. Falls es noch möglich ist, reiße ich die Augen noch weiter auf, als mich die Erkenntnis trifft. Devran.

Was macht er denn hier?

Die Lichter hören auf, mir näher zu kommen. Unschlüssig bleibe ich stehen und rühre mich nicht vom Fleck. Schwungvoll steigt er von seinem Motorrad und landet weich auf beiden Füßen. Kurzerhand nimmt er sich den Helm ab, schüttelt den Kopf, um seine Stirn von verworrenen Strähnen zu befreien. Eine große Reisetasche hängt um seinen Hals und schwankt hin und her, als er auf mich zukommt. Instinktiv weiche ich einen Schritt zurück.

„Was machst du hier?", fragt er mich verwundert. Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Schließlich kann ich ihm schlecht erzählen, dass mich womöglich jemand verfolgt.

Achselzuckend senke ich den Blick. Er seufzt darauf.

„Wie auch immer. Wo kommst du eigentlich unter?"

Zaghaft nicke ich der Bank zu und schüttele darauf den Kopf. Die Antwort kann er sich selbst zusammenreimen.

„Du schläfst auf einer Bank?", entkommt es ihm entsetzt. Ein wenig beleidigt presse ich die Lippen aufeinander, traue mich nicht, ihn anzusehen. „Weißt du eigentlich, wie gefährlich es auf offener Straße sein kann?"

Dankefür die Erinnerung, denke ich düster. Daran habe ich auch schon gedacht. Aber habe ich denn eine Wahl?

Unfähig, ihm eine Erwiderung zu geben, wiederhole ich meine gleichgültige Geste.

„Nein, das kommt nicht infrage. Weißt du was? Ich gehe kurz tanken, dann kommst du mit mir. Egal was du dazu denkst, ich werde sicher nicht zulassen, dass du mitten in der Nacht verloren auf einer Bank übernachtest."

Ein Teil von mir ist ihm dankbar für seinen Vorschlag, ein anderer hingegen wird misstrauisch. Ich will ihn ungern in die Sache hineinziehen, zumal ich nicht die geringste Ahnung habe, wer und wieso mir etwas antun will. Sei es nur, mich mit verschlüsselten Zetteln zu verängstigen. Hastig schüttele ich den Kopf, während ich mir nicht sicher bin, ob ich die richtige Entscheidung treffe.

Geräuschvoll ausatmend neigt Devran den Kopf gen Himmel und den Sternen entgegen. Kurzerhand fischt er eine kleine Schachtel aus der Hosentasche, entnimmt ihr etwas dünnes und zündet es mit einem Feuerzeug an. Erst beim genaueren Hinsehen erkenne ich, dass es eine Zigarette ist. Am liebsten hätte ich sie ihm aus der Hand gerissen und mit Genugtuung auf dem Boden zertreten.

„Warte hier."

Ohne meine Zustimmung steigt er mit der Zigarette im Mundwinkel wieder auf sein Motorrad und fährt mit lautstarkem Brausen davon. Verdattert blicke ich seinem Schatten hinterher.

Er geht einfach ... ich könnte jetzt abhauen und so tun, als ich hätte ich ihn nie gesehen.

Zögernd richte ich meinen Rucksack und zupfe mein Oberteil zurecht. Ich hole noch einmal tief Luft, dann beginne ich zu laufen. In einem gemächlichen Tempo entferne ich mich von meinem Rastplatz. Der bunte Farbstich am Horizont verrät mir, dass der Großteil der Nacht bereits vorübergezogen ist. Folglich muss ich bereits eine Weile geschlafen haben, bis mich mein Nachbar hier aufgefunden hat. Die unvermeidbare Frage nach meiner nächsten Bleibe schleicht sich in meinen Kopf. In ein paar Stunden geht die Sonne wieder auf und zwingt mich dazu, weiterzugehen. Insgeheim wäge ich ab, ob Tag oder Nacht der sicherere Zeitraum ist.

Ich komme nicht weit, vielleicht ein paar hundert Meter in den wenigen Minuten, die ich in Begleitung der schweigenden Dunkelheit verbracht habe, bis mich ein Hupen erreicht. Erschrocken wirbele ich herum, die Schultern eingeschüchtert hochgezogen. Statt wie erwartet den schattenhaften Fremden zu erblicken, blendet mich Devran erneut mit den Scheinwerfern seines Fahrzeugs.

„Du hast es wirklich eilig, Elster."

Ertappt bleibe ich stehen und warte darauf, dass er knapp vor mir anhält. Die Zigarette ist verschwunden, stattdessen ziert ein schiefes Grinsen seine Lippen. Nach einer Weile tritt die Ernsthaftigkeit in seine Miene zurück. „Sicher, dass ich dich nicht mitnehmen soll?"

Langsam schüttele ich den Kopf, nicke darauf und seufze dann. Die Unsicherheit übermannt mich. Der Gedanke an meinen leeren Geldbeutel, den scheinbar endlosen Weg vor mir und die Aussicht auf einen obdachlosen Aufenthalt lässt mich an meiner vorherigen Entschlossenheit zweifeln.

Er gibt mir Zeit und Freiraum, über sein Angebot nachzudenken. Schließlich gebe ich mich geschlagen und gehe mit gesenktem Kopf auf ihn zu. Das schlechte Gewissen nagt an mir, wenn ich darüber denken, in welche Ungewissheit ich uns beide mit dieser Entscheidung stürze.Meine Eltern sind sicher sehr enttäuscht von mir, allein deswegen, weil ich ohne Bescheid zu geben weggelaufen bin. Es stört mich, dass eine weitere Sackgasse der einzige Ausweg aus meiner Situation ist.

„Mach dir keine Sorgen", gibt mir Devran zu verstehen, eintriumphierender Ausdruck schleicht sich in seine Züge. „Mein Ziel liegt nicht weit von hier."

Ergeben steige ich hinter ihm auf das Motorrad und schlinge meine Arme um seinen Torso, nachdem ich mir seinen Helm übergestülpt habe, den er mir auffordernd reicht. Ein kühler Wind pustet mir durch die Haarspitzen und bringt meinen Schulrock zum Fliegen.

Devran hält sein Wort nicht. Erst nach einer langen Weile, in der ich nicht nur einmal fast auf dem Asphalt gelandet wäre, fährt er von der Autobahn ab und ein paar zusätzliche Straßengefügen später in einen kleinen Ort. Der Himmel färbt die Wolken bereits ein und beleuchtet weite Felder in der Ferne. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo wir gelandet sind, seit meinem kopflosen Aufbruch habe ich außer dem Zeitgefühl ebenso völlig den Orientierungssinn verloren. Die Hilflosigkeit bereitet mir Unbehagen.

Menschenleere füllt die Straßen, vereinzelte Lichter fluten die Fenster. Zu dieser Uhrzeit sollten bereits die Ersten aufstehen und den Sonnenaufgang bewundern, während sie mit müden Gesichtern durch die Gassen huschen.

Einige Straßen weiter hält Devran auf einem Parkplatz an und neigt sein Motorrad, um den Ständer aufzustellen. Mit einem Kopfnicken deutet er mir an, abzusteigen. Meine Beine sind vom dauernden Anwinkeln ganz steif, sodass ich mich an den Jungen festhalten muss, bevor ich allein stehe. Unterdessen nimmt er mir den Helm ab und klemmt sie zu seiner Reisetasche, die nun über seiner Schulter hängt.

Wortlos nimmt er mich mit seiner Freien an die Hand und verschränktunsere Finger. Verdutzt sehe ich ihn von der Seite an und will fragen, was das soll. Statt sich mir zuzuwenden richtet er den Blick starr nach vorne und stapft los. Der Gegebenheit unterlegen lasse ich mich seufzend von ihm hinter sich her ziehen.

Das Gebäude vor uns ist in einem eher freundlichen Blauton gestrichen und würde bei einem wolkenlosen Himmel vermutlich mit diesem verschmelzen. Das kupferrote Dach bildet einen runden Kontrast dazu und lässt es aus der Menge herausstechen. Der zentrierten Lage nach zu urteilen müsste das unsere Unterkunft darstellen. Zugegeben, bei unserer zufälligen Begegnung habe ich nicht mit einer solchen gerechnet. Sie ist deutlich vorteilhafter als die Bank, die mir notdürftig als Bett gedient hat.

Gemeinsam treten wir durch die helle Holztür, die Devran aus Mangel an Möglichkeiten mit dem Fuß aufstößt.

„Bitte sehr, die Madame", grinst er und zwinkert mir verstohlen zu. Vorsichtig erwidere ich kopfschüttelnd und folge ihm. Das Wort 'Rezeption' steht in verschnörkelter Schrift auf dem empfangenden Tresen. Lampen verzieren die Decke, Gemälde, die abstrakte Kunst zur Schau tragen, hängen an den Wänden. Einige rot gepolsterte Sessel wurden nebst filigranen Glastischchen aufgestellt. Schwere Vorhänge zieren die großen Fenster. Der Raum sieht aus wie die Vereinigung von altmodisch und modern.

„Guten Tag", begrüßt uns die Dame hinter dem Empfang und lächelt uns freundlich zu. „Wie kann ich euch helfen?"

„Hallo. Ich habe hier ein Zimmer gebucht, auf den Namen Smith." Devran lockert den Griff um meine Finger und steckt sich die Hand in seine Hosentasche.

„Warte einen Moment, ich schaue kurz nach."

Konzentriert schiebt sie sich die Brille auf den Nasenrücken, bevor sich mit einigen Klicks die Buchung wahrnimmt.

„Smith ... tut mir leid, kann ich nochmal deine Buchung sehen?"

„Natürlich." Wie auf Kommando greift Devran in die kleine Außentasche seines Gepäcks und kramt seinen Portemonnaie hervor. Elegant nimmt er ein zusammengefaltetes Blatt zwischen zwei Fingern und reicht ihn der Rezeptionistin.

„Vielen Dank."

Eigentlich sollte es mich nicht wundern, wie er es schafft, so gefasst zu bleiben, und gesetzlich tun wir nicht einmal etwas verbotenes. Immerhin ist der braunhaarige Junge neben mir mit seinen neunzehn Jahren zumindest auf dem Papier bereits erwachsen. Trotzdem erwische ich mich dabei, wie ich nervös von einem Bein auf das andere wippe.

„Ein Einzelzimmer. Für wie viele Nächte hast du es denn gebucht? Hier steht leider nichts dabei."

Verlegen meidet Devran dem fragenden Blick der Rezeptionistin.

„Das ... weiß ich leider selbst nicht genau."

Ich kann die Überraschung, die sich auf dem Gesicht der hochgewachsenen Dame abzeichnet, nachvollziehen, denn ich fühle nichts anderes.

Für wie lange hat er vor, von Zuhause wegzubleiben?, frage ich mich, zweifele langsam am Vorhandensein meines Verstandes. Und was habe ich mir nur dabei gedacht, mit ihm mitzugehen?

Ohne Nachfrage nickt die Empfängerin, während mir eine weitere Information mit Verspätung klar wird. Panisch weiten sich meine Augen und ich zupfe ungeduldig an Devrans Oberteil. Stirnrunzelnd sieht er mich an.

„Was ist los?", fragt er mich verwirrt. Übertrieben nicke ich in die Richtung des Tresens.

„Also, wenn du mal musst, du kannst das gleich erledigen wenn wir im Zimmer ..."

Seine Augen sehen aus wie zwei grüne Vollmonde.

„Scheiße", realisiert er. Die arme Rezeptionistin blick überfordert zwischen uns hin und her. Sofort ergreift Devran das Wort.

„Ist vielleicht noch ein Zimmer mit zwei Betten frei?", erkundigt er sich hoffnungsvoll. „Meine Freundin hat sich spontan dazu entschieden, mich zu begleiten."

Ein unsicherer Blick in meine Richtung folgt.

„Ich werde nachschauen."

„Vielen Dank."

Erleichtert stoße ich die angehaltene Luft aus und übersehe großzügig die Tatsache, dass mich Devran soeben als seine Freundin bezeichnet hat. Vielleicht kommt das tatsächlich glaubwürdiger rüber, als wenn er behauptet hätte, wir wären Geschwister oder in entferntester Weise miteinander verwandt.

„Tut mir leid, wir haben nur noch ein Zimmer mit Doppelbett zur Verfügung." Entschuldigend rückt die Rezeptionistin ihre Brille zurecht. „Der Rest ist erst ab morgen wieder frei."

Sie weiß vermutlich nicht, wie viel Erschütterung sie mit diesem einfachen Satz in mir auslöst. Verzweifelt tausche ich einen Blick mit Devran, der nicht weniger frustriert wirkt. Ausatmend fährt er sich mit der Hand durch die Haare.

„Wir nehmen das Einzelzimmer", sagt er schließlich. „Wäre es dann möglich, uns noch ein Bett dazu zu stellen? Das gibt uns ... ähm ... ein bisschen mehr Freiraum."

Für diese Aussage wäre ich ihm am liebsten um den Hals gefallen.

„Selbstverständlich."

Während sich die Empfängerin umdreht, um uns den Zimmerschlüssel zu übergeben, führe ich ein kleines Freudentänzchen auf der Stelle auf. Devran beobachtet mich amüsiert, beklagt sich jedoch nicht. Vielleicht wird das alles doch nicht so schlimm, wie ich befürchtet hatte.

„Hier, bitte. Dritter Stock, linker Trakt. Das vierte Zimmer gehört euch. Ich wünsche euch einen schönen Aufenthalt."

„Danke", lächelt Devran und und nimmt den Schlüssel entgegen. Ich stimme ein, indem ich ihr freundlich zunicke.

„So", wendet sich mir mein Nachbar zu. „Wer als erstes oben ist!"

Ohne mir die Chance zum Protestieren zu geben rennt er los, weswegen ich mich gezwungen sehe, hinterher zu jagen. Polternd stapft er die Treppen hoch, worauf ich lachen muss. Man könnte ihn mit einem Elefanten vergleichen.

Überrascht dreht er sich um.

„Hast du ... hast du gelacht? Kannst du deine Stimme wieder benutzen?"

Verdutzt bleibe ich stehen. Unsicher wiege ich den Kopf, traue mich nicht, einen Versuch zu wagen. Ich habe Angst, enttäuscht zu werden. Enttäuscht von mir selbst und meinem Willen. Ich senke den Blick, die Lippen fest aufeinander gepresst. Von weiter oben erklingt ein Seufzen.

„Wie auch immer. Du wirst bereit sein, wenn du es bist."

Dankbar schaue ich zu ihm auf, ein paar Stufen über mir, ein zuversichtliches Lächeln im Gesicht. In diesem Augenblick sieht er seiner Schwester ähnlicher als jemals zuvor, wenngleich sie sich nur das halbe Blut teilen, wie sich neulich herausgestellt hat.

„Und jetzt komm, es dauert noch ein Stück, bis wir oben sind."

Einverstanden nicke ich und mache mich daran, zu ihm aufzuschließen. Devran wartet auf mich, statt sein Trampeln weiterzuführen. Die Treppen sind aus demselben Holz gebaut wie auch die Eingangstür und der Tresen von der Rezeption. Einzelne Stufen knarzen unter meinen Schritten, wenn ich sie einen Fuß nach den anderen setzend besteige. Ein wenig außer Puste komme ich im finalen Stockwerk an, weil ich es nicht gewohnt bin, so viele Etagen auf einmal zu erklimmen. Devran, der neben mir steht, hat seine Hand lässig um die Schlaufe seiner Reisetasche geschlungen. Im Gegensatz zu mir sieht man ihm nicht mal an, dass er gerade gelaufen ist.

Missmutig werfe ich ihm einen Seitenblick zu.

„Was?", lacht er und biegt, wie die Rezeptionistin beschrieben hat, nach links ab. „Du musst einfach öfter mit zum Basketball-Training kommen."

Vielleicht. Seit dem letzten Mal ist es schon eine Weile her, und für mich gibt es einen triftigen Grund. Basketball ist eine Sportart, die außer meinem Vater auch nahezu die ganze Familie Smith vergöttert. Ich bin früher nur gegangen, um die Geschwister anzufeuern und ab und zu, in der Rolle des Verlierers, gegen sie zu spielen. Seit Deliars Tod habe ich nie wieder einen Basketball in die Hand genommen.

„Hier ist es."

Wir kommen vor einer weiß angestrichenen Tür mit der Beschriftung '3A5' in einem kleinen Rechteck an. Einen Moment stehen wir zögernd davor, bis sich Devran einen Ruck gibt und den Schlüssel ins Schloss steckt. Das folgende Klicken beim Herumdrehen ist kaum zu vernehmen. Lautlos lässt sich die Tür aufstoßen.

Der farbenprächtige Himmel des Sonnenaufgangs entgegnet mir und raubt mir den Atem. Orangene Flammen stechen in die Tiefen der Nacht, verschmelzen mit loderndem Rot und tanzen mit kühlem Violett. Samtgrüne Vorhänge heben das Bild in eine künstlerische Illusion. Der Anblick ist schlichtweg umwerfend.

„Wow", hauche ich tonlos und betrete vor ihm das Zimmer. Bedächtig tritt er nach mir ein, stellt sich nachdenklich an die hohe Fensterfront und ergänzt die gemäldeartige Darstellung mit seiner Silhouette.

„Da haben wir wohl die richtige Entscheidung getroffen."

Kurzerhand wendet er sich ab, um seine Tasche in eine Ecke zu schmeißen, und wirft sich selbst auf das schmale Bett neben dem Fenster. Mit wachsamen Augen hält er mich mit Blicken fest. Tief hole ich Luft, bevor ich mich an die Bettkante setze. Auf ein kleines Abenteuer war ich wirklich nicht vor bereitet, vor allem weil ich nicht weiß, welche Ausrede ich meinen Eltern bei unserer Heimkehr auftischen soll. Aber jetzt, als blinder Passagier einer verlassenen Seele, die ähnliche Probleme hat wie ich, verdränge ich alle Sorgen und genieße einfach den Augenblick von Friedlichkeit.

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