5| Zweifel & Aufbruch
~ 812 h
Rücksichtslose Schüler quetschen sich an uns vorbei, steigen vor uns aus dem überfüllten Bus und treten ins gleißende Sonnenlicht. Kaum habe ich einen Fuß auf den asphaltierten Gehweg gesetzt, schließt der Fahrer zischend die Türen und steuert die nächste Haltestelle an. Bevor wir weitergehen, gebe ich Kaden ein Zeichen zu warten und krame das Handy aus meinem Rucksack. Mit fließenden Bewegungen schreibe ich ihm eine Nachricht.
„Bist du dir sicher, dass du mitkommen willst?"
Zweifelnd werfe ich meinem besten Freund einen knappen Blick zu.
„Du musst nicht, das weißt du?"
Ein leises 'Pling' kündigt meine SMS auf seinem Display an. Nachdem er die Zeilen überflogen hat, hebt er den Kopf und winkt mich seufzend zu sich.
„Schon klar, Madame", gibt er mir zu verstehen und läuft voraus. „Aber du brauchst einen Cheerleader bei der Therapie. Sonst wird das nie was."
Schmunzelnd schüttele ich den Kopf, während ich zu ihm aufschließe. Ich hoffe, er ist nicht zu enttäuscht, wenn seine Motivierung keine Wirkung erzielt.
„Sag mal ... wann hast du deinen Termin eigentlich?", werde ich von der Seite gefragt. Ratlos hebe ich die Schultern und werfe einen Blick auf mein Handy, um anschließend eine weitere Nachricht an ihn zu tippen.
„In einer halben Stunde."
Nickend senkt Kaden den Kopf und vergräbt die Hände in den Taschen seiner schwarzen Shorts. Eine Weile sagt niemand etwas. Es ist kein unangenehmes Schweigen, sondern eine bedachte Stille, in der jeder seinen eigenen Gedanken nachhängt. Das Wohnviertel, in dem meine Therapeutin ihre Praxis hat, liegt in der Nähe der Stadtmitte. Viele Menschen sind unterwegs, laufen in Grüppchen durch die Straßen. Einige von ihnen kommen vom Shoppen, wie ich anhand der bunten Plastiktüten ausmachen kann. Ich vermisse die Zeit, in der ich unterwegs war wie sie. Mit Deliar an meiner Seite und einem Lachen im Gesicht.
„Stella", spricht mich Kaden wieder an und erlangt meine Aufmerksamkeit. „Habe ich dir schon die Audios gezeigt, die ich teilweise durch Zufall aufgenommen habe?"
Verneinend schüttele ich den Kopf. Ich schalte das Display meines Handy nochmals an, mich darauf gefasst machend, ein paar SMS am Stück zu verfassen.
„Nein, was hast du denn aufgenommen?"
In Kadens Gesicht steht außer der Euphorie auch Zögern geschrieben. Unweigerlich macht sich Sorge in mir breit.
„Ich glaube, ich weiß, wer Deliar getötet hat", platzt es aus ihm heraus. Vor Schock bleibe ich stehen und vergesse fast, wie man atmet. Es dauert eine Weile, bis ich den Sinn seiner Worte begreife. Unsicher bewege ich meine Finger auf die digitale Tastatur zu. Sie zittern.
„Wie ... meinst du das?"
Einen Moment lang halte ich regungslos still.
„Wurde sie nicht ..."
Ich muss schlucken, traue mich nicht, meinen Satz zu beenden.
„ ... angefahren?"
Der blonde Junge bleibt stehen, um auf mich zu warten, und wiegt den Kopf hin und her.
„Dachte ich auch. Aber neulich wurde etwas im Radio berichtet, das mit ihrem Tod zu tun haben könnte."
Eilig tippe ich eine Frage an ihn.
„Bist du dir sicher? Wenn keine festen Beweise dabei waren, sollten wir nicht blind raten."
Hoffnung und Furcht steigen gleichermaßen in mir auf. Endlich gibt es einen Grund für den Tod meiner besten Freundin ... auch wenn dieser ein solch skrupelloser und angsteinflößender wäre.
„Sicher bin ich mir nicht. Aber ich hatte es versehentlich aufgenommen, weil mein Handy irgendwie angegangen ist. Hör's dir einfach selbst an." Kurzerhand reicht er mir sein Handy. Gespannt öffne ich die Datei, auf die Kaden deutet. Eine fremde Mädchenstimme dringt zu mir durch.
„ ... verdammt nochmal weg! Das ist nicht lustig! Kaden!"
„Schon gut! Ist schon weg, siehst du?"
Das Lachen des Jungen einen Schritt von mir entfernt schallt aus den Lautsprechern. Verwirrt schaue ich auf und halte Kaden das Gerät hin. Entschuldigend hebt er die Hand und drückt auf dem Bildschirm herum, ehe er es mir erneut reicht.
„Halte es dir einfach ans Ohr, jetzt sollte es gehen."
Nickend gebe ich ihm mein Einverständnis. Ich habe das Gefühl, mein Herzklopfen aus dem Handy dröhnen zu hören.
„Jaja ... Hey, dreh mal lauter."
„Wieso? Das sind bestimmt wieder irgendwelche Fake-News ..."
„Trotzdem, ich will es hören."
Ein Seufzen erklingt.
„Also gut."
„... die örtliche Polizei von alten Fällen des vergangenen Jahres. Anscheinend wurde die Ursache der Todesfälle nie richtig erklärt. Nun hat die Polizei eine Spur über MJ gefunden, einem Drogendealer, der eigenartigerweise immer wie vom Erdboden verschluckt ist, wenn die Behörden einen neuen Hinweis finden. Beweise deuten auf einen Kumpanen hin, der laut Gerüchten etwas mit den Todesfällen zu tun hat. Erst neulich, so berichtete die Polizei, hätte ein erneuter Mord stattgefunden. Der Fall wurde zunächst als Suizid gemeldet, konnte jedoch berichtigt werden. Passen Sie in nächster Zeit auf sich auf und melden Sie es sofort, sollte Ihnen etwas verdächtiges auffallen."
„Und jetzt geht es weiter mit einem Lied von ..."
Mit aufgerissenen Augen starre ich Kaden an, der mich prüfend ansieht und auffordernd nickt. Es sind zu viele Informationen, die mein Gehirn erreichen wollen. Genauso wie man auch das abstrakteste Gemälde zerstören kann, wenn man zu viele Farben verwendet. Das nächtliche Poltern an meinem Fenster mischt sich unter meine Gedankenfetzen.
Statt mir die Audio bis zum Ende anzuhören, senke ich vorher den Arm und drücke auf die Stopptaste. Alarmiert sehe ich Kaden an, der sein mobiles Gerät wortlos entgegen nimmt, um eine weitere zu öffnen.
„Die hier", erklärt er mir knapp, „habe ich absichtlich aufgenommen. Mein Onkel arbeitet ja ab und zu beim Kriminalamt, und als er das letzte Mal da war, hat er das hier meinem Vater gezeigt."
Meine Neugierde treibt mich dazu an, auf den kleinen Pfeil zu drücken, wenngleich mir bewusst ist, dass es umso gefährlicher ist, desto mehr man weiß.
„Kommst du voran? - Chill - Kumpel - Erfülle deinen Auftrag, oder sag auf Wiedersehen - jämmerlicher Dealer - Schon gut, du hast - nicht, meinen Namen - immer noch Andelan - klar, Arschloch vom Dienst - sonst fliegen wir auf."
Zwischen den abgehakten Sätzen wird die Leitung immer wieder durch lautem Rauschen unterbrochen und selbst das deutlichste ist nur schwer zu entziffern. Ein Name bleibt vor allem in meinem Gedächtnis hängen: Andelan. Er ist also der angebliche Partner dieses MJ's ...
Drogendealer. Todesfälle des vergangenen Jahres.
Wie ein Blitzeinschlag trifft mich eine weitere Erkenntnis und beinahe hätte ich Kadens Handy fallen lassen. Zögerlich schalte ich mein eigenes an und beginne zu schreiben.
„Ich verstehe nicht ganz, woher du die Gewissheit hat, dieser A-irgendwas wäre der Mörder von diesem erwähnten Mädchen – oder Lia."
Stirnrunzelnd liest Kaden meine Nachricht und schüttelt verständnislos den Kopf.
„Das liegt doch auf der Hand", gibt er zurück. „Im Bericht ist die Rede von Verknüpfungen zu den Todesfällen des letzten Jahres. Dieser MJ kann aber kein Mörder sein, bei seiner Intelligenzquote hätte man ihn schon längst erwischt. Bleibt also nur noch sein Partner."
Nachdenklich nicke ich. Sein Partner ... eine wage Verdächtigung kommt mir in den Sinn. Sie ist allerdings zu absurd, um wie eine Tatsache aufgeschrieben zu werden.
„Alles klar bei dir?", werde ich vom Blonden gefragt. Eilig nicke ich und setze ein Lächelnauf.
„Ja, alles gut. Habe mich nur an etwas erinnert ... "
Fragend zieht Kaden die Brauen zusammen. Es wäre unfair, ihm meine Einfälle zu verheimlichen, nachdem er mir von all seinen Erkenntnissen berichtet hat. Dennoch weiß ich nicht, ob es eine gute Idee ist, wage Hypothesen auszusprechen, dessen Verlässlichkeit noch nicht geprüft wurden. Vor allem, wenn es dabei um Deliar und die damit verbundene Sache geht, bei der ich noch keine Gelegenheit hatte, ihm davon zu erzählen.
„Woran?", hakt er nach. Ich sträube mich ein wenig, ihn an meinen Gedanken teilhaben zulassen. Unter seinem misstrauischen Blick gebe ich mich schließlich geschlagen.
„Ich habe beim letzten Mal, als ich die Smiths besucht habe, zufällig einen Karton in Lias Zimmer gefunden. Darin waren teilweise Todesanzeigen aus dem vergangenen Jahr – vermutlich Fälle, die in dem Radiobericht erwähnt wurden."
Nachdenklich legt er die Stirnin Falten und murmelt: „Fragt sich nur, warum sie die aufgehoben hat ..."
Dieselbe Frage habe ich mir an jenem Abend auch gestellt. Jetzt scheint die Antwort, die ich mir zu diesem Zeitpunkt selbst gegeben hatte, nicht mehr ausreichend zu sein.
Eine Weile bleiben wir stehen und versperren vorbeilaufenden Passanten den Weg, die uns deswegen seltsame Blicke zuwerfen. Dann senkt Kaden die Augen kurz auf das Display seines Handys und schlendert davon. Verdutzt sehe ich ihm hinterher, ehe ich eilige eine Nachricht tippe.
„He, wo gehst du hin? Hast du deine Meinung doch geändert?"
„Was bleibst du noch so stehen?", ruft er mir über die Schultern zu und erleichtert stecke ich das Handy weg. „Komm endlich, außer du willst dort Wurzeln schlagen. Aber wenn du zu spät bist, bin ich nicht schuld!"
Bereitwillig fange ich an zu laufen. Bevor ich mich versehe, entsteht ein Wettrennen bis zur Praxis meiner Therapeutin. Wir zwängen uns zwischen Fußgänger, überqueren die Straße, wobei wir den wenigen Autos nur flüchtig Beachtung schenken, und huschen um Sackgassen herum. Schon bald höre ich nichts mehr außer meinem rasselnden Atem und den ruckelnden Geräuschen, die dabei entstehen, wenn mein Rucksack gegen meinen Rücken prallt. Der Kies auf dem schmalen Weg, der zur Praxis von Mrs. Evans führt, knirscht unter meinen Schritten. Polternd kommen wir vor der Eingangstür an und ich stütze schnaufend meine Arme an den Knien ab.
„Na", zieht mich Kaden atemlos auf, „kannst du schon nicht mehr?"
Das amüsierte Glitzern ist in seine Augen zurückgekehrt. Grinsend schüttele ich den Kopf, während ich die Lider für einen Moment schließe. Ich atme ein paar Mal tief durch und erhebe mich anschließend. Mit einer winkenden Handbewegung fordere ich Kaden dazu auf, mir ins Innere des Gebäudes zu folgen. Das kleine Glockenspiel über der verglasten Tür kündigt unser Ankommen an.
Helles Licht durchflutet den weitläufigen Raum und lässt die weißen Wände unheimlich erscheinen. Die Einrichtung ist kahl und spärlich. Ich mag diese kühle Atmosphäre nicht, den dieser Ort ausstrahlt. Weiße Plastikschalen dienen als Sitzmöglichkeiten, der farblos glänzende Fußboden zeigt mir verschwommen mein Spiegelbild. Der einzige Farbklecks in unserer Umgebung ist die stramm stehende Empfängerin, die hinter ihrer weißen Theke alles mit Argusaugen beobachtet.
„Mann, ist das einfallsreich eingerichtet, hier." Sarkastisch hebt Kaden Daumen zum Lob und dreht sich um sich selbst. Mir bleibt keine Zeit, ihm zu antworten, denn eine ältere Frau kommt auf uns zu, das ergraute Haar zu einem strengen Knoten zurückgebunden.
„Hallo, Estella", begrüßt sie mich und schüttelt mir die Hand. Unsicher lächele ich ihr entgegen. Auf eigenartiger Weise ist mir Mrs. Evans nicht ganz geheuer, obwohl ich weiß, dass sie mir nur mit meinem Stimmverlust helfen will. Psychogene Aphonie, wie sie es nennt.
Prüfend mustert sie meinen besten Freund, der in Gedanken versunken zu sein scheint.
„Wie ich sehe, hast du heute jemanden mitgebracht."
Bestätigend nicke ich und zupfe Kaden am Ärmel. Er blinzelt, bevor er verwirrt aufschaut.
„W-was?"
„Wie ist dein Name, junger Mann?", übernimmt Mrs. Evans das Wort.
„Kaden Parker, Miss." Nun ist es an mir, verwirrt dreinzuschauen. Seine Stimme klingt plötzlich so unsicher, irgendwie traurig. Die Unbekümmertheit wirkt wie vom Erdboden verschluckt. Stirnrunzelnd schüttele ich meine Gedanken ab.
Der kriegt sich schon wieder ein, wiederhole ich gedanklich wie ein Mantra.
„Also dann, ... Kaden. Komm gerne mit." Sie wirft mir einen auffordernden Blick zu, den ich nicht ganz verstehe. „Zuvor würde ich aber noch kurz allein mit Estella sprechen."
„Natürlich, Miss."
Ohne ein weiteres Wort an uns dreht sie sich um und ich weiß, dass ich zu folgen habe. Etwas überfordert werfe ich Kaden einen letzten Blick zu, bevor ich meiner Therapeutin in den Raum folge, aus dem sie soeben gekommen ist. Das Zimmer passt perfekt zum Eingangsbereich. Bis auf ein paar Fotos und einem Schreibtisch sehen beide ziemlich identisch aus.
„Ich weiß, dass wir uns auf deine Aphonie fokussieren sollen, aber ist dein Freund immer so ... hm. Traurig?" Ihre Frage überrascht mich. Sie hätte keinen Grund, das wissen zu wollen, immerhin kennt sie Kaden nicht. Trotzdem beschließe ich, wahrheitsgetreu zu antworten.
Ich setze mich auf den weißen Sessel, der vor dem Schreibtisch steht, und bediene mich am Stifthalter. Dann kritzele ich ein paar Zeilen auf den Block, der immer auf dem Tisch liegt, seit ich zum ersten Mal in diesem Zimmer war.
„Nein, keine Sorge. Er ist meistens ziemlich motiviert, nur ab und zu hat er Stimmungsschwankungen."
Nachdenklich spielt sie mit ihrem mintgrünen Perlenarmband.
„Interessant ..." Beinahe hätte ich ihr Murmeln überhört. Im nächsten Augenblick hebt sie den Blick wieder. „In Ordnung, warte hier. Ich hole deinen Freund."
Nickend sehe ich ihr hinterher, während sie durch die Türschwelle tritt. Ihre Worte schwirren in meinem Kopf herum und wollen sich in keine geordnete Reihe bringen. Mrs. Evans ist niemand, die sich für Dinge interessiert, die ihr keine Vorteile bringen. Vielleicht habe ich mich auch einfach in ihr geirrt. Kopfschüttelnd vertreibe ich die Überlegungen und lege den Stift zurück in die zylinderförmige Box.
Schweigen herrscht in der aufgeräumten Küche, nur das leise Surren irgendwelcher Geräte ist zu vernehmen. Ich kann förmlich die Enttäuschung meiner Eltern mit den Händen fassen.
„Weißt du, Stella", räuspert sich mein Vater, worauf ich den Kopf hebe, den ich zuvor beschämt gesenkt habe. „Du bist ein vernünftiges Mädchen und das wissen wir auch. Aber ... eine Suspension wegen Verticken von Drogen in der Schule, das geht weit über unsere Grenzen."
„Wir sind sehr enttäuscht von dir", pflichtet ihm meine Mutter bei. Ich wage es nicht, ihr in die Augen zu sehen. Aus Angst, darin außer einer Bestätigung noch mehr Vorwürfe zu lesen. Schuldbewusst richte ich den Blick gen Boden und fixiere konzentriert meine Fußspitzen.
„Stella, kannst du uns bitte verraten, warum du das getan hast?", bittet mich mein Vater. „Ich weiß, du hast sicher deine Gründe, aber nichts sollte dich so sehr in die Klemme nehmen, dass du zu solchen Mitteln greifst."
Nickend stimme ich ihm zu. Seiner Aufforderung kann ich allerdings nicht nachkommen, so oft er mich auch anfleht. Zu keinster Zeit habe ich mit Drogen gehandelt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, wie sie in meinen Rucksack gekommen sind. Nur, wer würde mir schon glauben? Die ganze Klasse war Zeuge davon, wie mir die Tütchen aus der Tasche gefallen sind.
Eine Weile sagt niemand etwas. Schließlich seufzt mein Vater ergeben und löst die Arme vor der Brust.
„So kommen wir nicht weiter." Frustriert stößt meine Mutter einen Schwall Luft aus und mustert mich intensiv.
„Estella." Ihr beharrlicher Tonfall zwingt mich dazu, vorsichtig durch die Wimpern zu spähen. Ihren strengen Gesichtsausdruck hätte ich nicht besser erraten können. „Wir können dir nicht helfen, wenn du uns nicht sagst, was Sacheist!"
Tränen sammeln sich in ihren Augen, während sie zittrig Luft holt.
„Ich habe schon ein Kind verloren. Bitte, ich flehe dich an, bring es nicht dazu, dass ich noch ein weiteres verlieren muss."
Es ist, als hätten ihre Worte einen Hebel in mir umgelegt. Emotionen und Erinnerungen wirbeln im Strudel durch meinen Kopf, lassen sich vom tobenden Sturm darin mitreißen. Meine Unterlippe beginnt zu beben, die Sicht vor meinen Augen verschwimmt. Nach einem tiefen Atemzug nehme ich langsam den bereitliegenden Stift zur Hand.
„Es tut mir leid, dass ich es nicht geschafft habe, euch eine bessere Tochter zu sein."
Ruckartig drehe ich mich um und renne aus dem Raum. Es poltert leise, als ich die Treppen hinaufstürze. In meinem Rücken höre ich die Rufe meiner Eltern, doch ich ignoriere sie allesamt. Ich übergehe das schlechte Gewissen, als ich meine Zimmertür abschließe, und lasse mich dagegen sinken. Dass dieser Tag derartig eskalieren würde, hatte ich heute Früh nicht kommen sehen. Morgen wäre der letzte Tag vor dem Wochenende gewesen. Warum muss ich ausgerechnet jetzt eine Suspension bekommen? Was habe ich getan, um so gerächt zu werden?
Schluchzend vergrabe ich das Gesicht in meinen Armen und stütze diese an den Knien ab. In solchen Momenten wünsche ich mir meine Schwester sehnlicher herbei als nirgends sonst. Sie hätte mir beigestanden und unseren Eltern erklärt, dass ich nichts mit den Drogen zu tun habe. Ihr hätten sie sicher geglaubt.
„Estella Peterson! Wenn du nicht inmediatamente wieder runterkommst, hast du für den Rest der Woche Hausarrest!"
Abgehackt atme ich aus, lasse den Tränen freien Lauf. Der niedergeschlagene Anblick meiner Mutter und das geschaffte Seufzen meines Vaters brennen sich wie Brandmarke in mein Gedächtnis.
Vor meinem Inneren Auge sehe ich die erschrockenen Gesichter meiner Klassenkameraden, eingeschlossen meine Freunde, die ungläubig nach Luft geschnappt haben, als sie die Drogen sahen. Die vorwurfsvollen Stimmen prasseln wie dicke Regentropfen auf mich ein, laden eine große Portion Druck auf meinen Schultern ab.
Meine Eltern haben kein Wort dagegengesetzt, als sie dazugekommen sind. Vor allem nicht, nachdem sie einige Tütchen Gras zu Gesicht bekommen haben, Beweise, die angeblich in meinem Spind gefunden wurden.
Was bringt schon die Wahrheit eines stummen Mädchens, wenn alle Mittel gegen sie sprechen?, denke ich verbittert und lehne den Kopf mit geschlossenen Augen gegen die Tür. Eine Weile verharre ich in dieser Position, bis ich die Stille nicht mehr aushalte. Frustriert raufe ich mir die Haare und will am liebsten schreien. Das darf alles einfach nicht wahr sein.
Im Haus herrscht einheitliche Stille. Vögel erheben die Stimmen, trösten mich mit ihrem unbeschwerten Gesang. Wie gerne würde ich mich wie sie in die Lüfte erheben und die ganzen Sorgen hinter mir lassen. Frei sein, statt von einem Käfig in den nächsten gesperrt zu werden. Stumme Tränen verzieren meine Wangen, während meine Gedanken ausnahmsweise wie weggefegt sind. Ich werde niemals gut genug sein, egal wie viel ich nachdenke. Schlussendlich bringt es mir nichts weiter als die Einsicht auf noch mehr Fehler.
Kurzerhand stehe ich auf und laufe zum Fenster, um den Wind hereinzulassen. Seltsamerweise steht sie bereits einen Spalt offen. Ein plötzliches Poltern lässt mich in der Bewegung erstarren, die Hand halb nach dem Griff ausgestreckt.
Da ist jemand an der Feuerleiter ...
Ich traue mich nicht,nachzusehen, und versuche flach zu atmen. Mein Herz klopft viel zu laut in meiner Brust, das Blut rauscht mir in den Ohren. Wenn mich gleich ein Einbrecher überfällt, kann ich nichts tun, um mich zu verteidigen. Meine Hilferufe würden einfach in meinem Hals stecken bleiben. Die Vorstellung jagt mir neue Tränen in die Augen.
Am Rande meines Blickfelds sehe ich einen Schatten vorbei huschen. Die Sonne scheint auf mich herab und blendet mich, der Raum wird kleiner, beginnt langsam, sich in einer Spirale zu drehen. Eine blutrote Beschriftung prangt in der Ecke der Fensterscheibe, so als hätte es jemand in aller Eile hingeschmiert.
„Schuld 1100010010;G. H. F. h-A"
Eine Weile höre ich dem Gesang der Vögel zu, wie sie ihre Lieder im wirren Takt meines Pulses anstimmen. Blinzelnd löse ich mich aus der Schockstarre, hechte auf das Fenster zu und schließe es mit lautem Nachhall. Adrenalin schießt durch meine Venen und schwer atmend hefte ich den Blick auf die verschmierte Schrift. Meine Hand beginnt zu zittern. Langsam ist es nicht mehr lustig.
Vorsichtig hole ich Luft und schließe für einige Sekunden die Augen. Dann stoße ich mich abrupt am Fensterrahmen ab, sperre die Tür auf und spähe angestrengt die Treppe hinunter.
Es scheint niemand mehr da zu sein.
Leise verlasse ich mein Zimmer und laufe in den Flur, während sich die Angst wie ein Klammergriff um mein Herz legt. Sonnenlicht dringt durch den Spalt unter der Haustür herein und taucht meine Zehen in ein warmes Leuchten. Zögernd lege ich eine Hand auf das kühle Metall der Klinke. Normalerweise breche ich keine Regeln, um meinen Eltern keinen Grund zu geben, enttäuscht zu sein. Aber ich muss nachsehen, wer das war – und vor allem, was diese fraglichen Nachrichten bedeuten, die mich seit dem Auftauchen des mysteriösen Schattens erreichen.
Egal, denke ich, zwischen Standhaftigkeit und Unsicherheit schwankend, und umschließe den Griff fester. Sie werden es schließlich nie erfahren.
Damit öffne ich die Tür und trete unter den klaren Sommerhimmel.
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