2| Geheimnisvolle Zeichen

~ 932h

Gespannt beuge mich über die viereckige Öffnung. Im Inneren befinden sich mehrere Blätter und zwei Alben, wie ich auf Anhieb feststelle. Neugierig greife ich nach einem Zeitungsartikel. Er ist mit dem Datum des vergangenen Jahres versehen und das Bild eines bärtigen Mannes ziert die untere Hälfte des Textes.

Todesmeldung – Wachmeister gnadenlos hingerichtet

Private Gäste fanden die Leiche eines Angestellten der Polizeiwache. Völlig entstellt wurde der dreiundvierzigjährige Familienvater in einem Aufzug aufgefunden. Bei der Nachricht war seine Familie am Boden zerstört und gab eine Anzeige auf. Kollegen des Betroffenen suchen vergeblich nach dem Mörder. 'Er hat sauber gearbeitet', gab ein Mitglied der Spurensuche zu. 'Es gibt keinerlei Hinweise. Das Opfer hatte zudem keine nennenswerte Feindschaften.' Der Fall scheint einem Rätsel gleich zu sein. Nähere Informationen stehen unter Schweigepflicht der Polizei.

Der Inhalt schockiert mich und ich frage mich unwillkürlich, warum es Menschen auf dieser Welt gibt, die absichtlich Unheil anrichten. Schluckend lasse ich das Blatt fallen, nehme alle Zeitungsartikeln heraus und überfliege sowohl die Daten als auch die Überschriften.

Tod durch Sauerstoffmangel

5-jähriges Mädchen begeht Selbstmord

Tödlicher Stromschlag trifft jungen Studenten

Sie entstammen alle dem letzten Jahr. Verwirrt starre ich die Zahlen an und versuche zu begreifen, inwiefern sie mit meinem Namen zusammenhängen. Immer wieder lese ich mir vereinzelte Zeilen, die von verschiedensten Sterbefällen berichten, durch und krame in meinem Gedächtnis nach einem Hinweis, bis ich schlussendlich seufzend aufgebe. Außer verschwommene Farben und Muster finde ich nichts, das mir weiter helfen könnte.

Vielleicht ... hat es gar keine weitere Bedeutung? Vielleicht sind die Artikel nur durch Zufall in diesem Karton gelandet?

Ich finde keine plausible Erklärung, dennoch stapele ich alle Blätter wieder zusammen und lege sie neben mich auf den Boden. Wie von selbst luge ich erneut über den Rand des hellbraunen Kartons undgreife nach dem schlicht schwarzen Fotoalbum, das ich an den bunten Ecken, die ringsum herausragen, erkannt habe. Voller Erwartung auf erinnernswerte Ereignisse lege ich das Album auf meinem Schoß ab. Gerade will ich die erste Seite aufschlagen und dem ersten Bild entgegensehen, als etwas anderes meine Aufmerksamkeit erregt. Aus den Augenwinkeln erblicke ich einen kleinen Zettel, der irgendwo herausgefallen sein muss. Er ist ganz zerknittert und sieht aus, als würde er jeden Moment zu Staub zerfallen. Vorsichtig falte ich ihn auseinander, bemüht, ihn nicht aus Versehen zu zerreißen.

Es ist ein weiterer Bericht.

Das dämmrige Licht macht die kleine Schrift kaum kenntlich, zumal der Artikel nicht mehr der Neueste ist und bereits leicht vergilbt. Falten trennen einzelne Buchstaben von ganzen Sätzen und ich kneife bei dem Versuch, die Überschrift zu entziffern, meine Augen zusammen.

Gefangen in Flammen – Brand durch sommerliche Hitze

Irgendwo in meinem Gedächtnis kann ich mich an diese Zeile erinnern, weiß aber nicht mehr genau, weshalb sie mir so bekannt vorkommt. Während ich konzentriert nachdenke, fahre ich mit meiner freien Handüber den Artikel. Es sind keine Bilder abgebildet, selbst der Text scheint ausgeschnitten zu sein. Unbewusst schweift mein Blick ab und bleibt schließlich an meiner Hand hängen. Die Narben darauf wecken mich wie ein Schlag ins Gesicht.

Das Feuer, fällt mir prompt ein, das Feuer vor zwei Jahren.

Dadurch verunsichert, den Inhalt zu kennen und mir trotzdem nicht sicher zu sein, was darin steht, lasse ich das Blatt in meinen Schoß sinken. Verschiedenste Fragen schwirren durch meinen Kopf und wollen sich nicht einfangen lassen. Warum hat Deliar diese Artikel aufgehoben? Sie ist sonst kein Mensch, der unschöne Rückblicke behält. Ich hätte gern den Grund gewusst. Tief durchatmend nehmeich den Artikel wieder zur Hand und fange mit einem eigenartigen Gefühl im Bauch an zu lesen.

Am vergangenen Freitag, dem 29. Juli, wurde ein Brand in der Nähe des River Cams gemeldet. Das Feuer hat beinahe ein Modegeschäft vollständig eingenommen und es gab nur wenige Überlebende, einige davon schwer verletzt. Augenzeugen verraten uns, Rauch gesehen zu haben, das aus einer Ecke des Geschäftes aufstieg. Näheres ist nicht bekannt. Experten vermuten, dass bedeutende Auslöser dabei die langanhaltende Trockenheit und Sonneneinstrahlung gewesen seien. Achten Sie bitte darauf, kein Feuer im Freien zu entfachen, um weitere derartige Vorkommnisse zu vermeiden.

Nachdem ich geendet habe, presse ich die Lippen fest aufeinander und lasse meine vernarbte Hand sinken. Flammen lodern in meinen Gedanken, der Rauch vermischt sich mit Regenwasser. Bis heute verstehe ich nicht, warum dieser Tag so katastrophal enden musste.

Ich kann mich daran erinnern, dass ich mit Deliar und meiner Schwester einkaufen war. Die Sonne hatte geschienen und die Ferien waren bei uns angekommen, weshalb wir beschlossen hatten, etwas gemeinsam zu unternehmen. Das war nicht oft vorgekommen. Deliar und meine Schwester waren keine Feinde, aber ich würde lügen, indem ich sage, dass sie gut miteinander ausgekommen wären. Vielleicht hat es mich deshalb so sehr gefreut, als sie meinem Vorschlag eingewilligt hatten.

Was genau passiert war, weiß ich selbst nicht mehr. Zu viel Zeit ist seither vergangen. Dafür weiß ich, dass Candela Peterson auf Ewig eine unauffüllbare Lücke in unserer Familie hinterlassen wird. Und nachdem mich auch meine beste Freundin verlassen hat, bin ich nichts weiter als eine einsame Enttäuschung meiner Eltern. Manchmal denke ich, dass ich verrückt bin, mir zu wünschen, mit meiner Schwester tauschen zu können. Sie konnte alles besser, ich habe sie immer bewundert und zu ihr aufgesehen. Die Qual der Flammen hat sie nicht verdient.

Eine einzelne Träne rinnt über meine Wange und ich wische sie eilig weg. Wird mein Leben von nun an so bleiben? Voller Erinnerungen der Trauer und ohne jegliche Bedeutung? Meine Eltern lieben mich, das ist mir bewusst. Nur habe ich dennoch das Gefühl, eine Art Ersatz für sie zu sein. Der Ersatz für ihre perfekte erste Tochter.

Rasch blinzele ich, um nicht noch weiter in Melancholie zu verfallen. Verkrampft überlege ich, womit ich meine Gedanken vertreiben könnte, bis mir wieder einfällt, dass ich das Fotoalbum anschauen wollte. Ohne weiter nachzudenken, nehme ich es zur Hand und schlage die erste Seite auf.

Zwei vertraute Gesichter lachen mir entgegen, beide das Haar zerzaust, kleine Federn haben sich darin verfangen. Langsam bildet sich ein Kloß in meinem Hals, während mich die Erkenntnis zum zweiten Mal zu Boden wirft. Das zu sehen, kommt zu plötzlich und zu spät bemerke ich, dass ich dafür noch nicht bereit bin. Der Raum beginnt aufs Neue zu verschwimmen und ich schlucke bei dem Versuch, den Kloß loszuwerden.

Auf dem Foto ... das sind wir. Deliar und ich. Bei unserer letzten Übernachtung in genau diesem Zimmer.

Eine Träne bahnt sich einen Weg über meine Wange. Unaufhaltsam tropft sie auf die farbige Abbildung und hallt verstärkt in meinen Ohren nach. Ich habe das Gefühl, verfolgt zu werden. Die Vergangenheit jagt mich wie tausende unerwünschte Schatten, drängt mich in die dunkelsten Winkel meines Bewusstseins. Egal wie sehr ich dagegen ankämpfe, nicht in Frustration zu versinken, ich komme nicht dagegen an. Diesmal verliere ich gegen sie.

Im Schnelldurchlauf zieht mein Leben vor meinem inneren Auge vorbei, zeigt mir glückliche Erinnerungen und zerstört mich auf ein weiteres Mal, indem ich den Tod der Menschen erneut erlebe, die mir auf der Welt am meisten bedeutet haben.

Als hätte eine Kamera auf scharf gestellt, erinnere ich mich an jedes Detail dieses Tages, an den Tag vor eineinhalb Monaten. Der Regen fiel vom Himmel. Deliar ist tanzend vorausgegangen, hat ihren Freund bei mir zurückgelassen. Unser Gelächter dringt an mein Ohr. Ich kann die Straße sehen, auf der sie ausrutscht und fällt. Kaden rennt, um ihr aufzuhelfen, als lautes Hupen die Luft durchschneidet. Ich bemerke, wie mein Körper erstarrt stehen bleibt, obwohl das Fahrzeug geradewegs auf meine Freundin zusteuert. Schreiend schüttele ich mich selbst, weine verzweifelt und versuche, das Geschehen auszublenden.

Ich will das nicht sehen. Lass mich in Ruhe, ich will es nicht! Verschwinde aus meinem Kopf! Ich will es nicht sehen!

Meine Gedanken drehen sich um sich selbst, irgendwo ertönt ein Aufschrei. Das Quietschen von Reifen begleitet mein Herumwirbeln und ich kann noch rechtzeitig erkennen, wie Deliar durch die Luft wirbelt. Ein Krachen ertönt. Jemand weint. Ich weiß nicht, ob ich es selbst bin oder Kaden, der los sprintet. Blut fließt und füllt die Ritze im Asphalt. Der Regen hüllt die Welt in einen verschwommenen Schleier.

„Nein!" Ein verzerrtes Quäken hallt von den Wänden wider. Meine Augen sind weit aufgerissen und ich versuche verkrampft, mich an die Gegenwart zu klammern. Das Herz klopft mir bis zum Hals, Adrenalin rauscht durch meine Adern und ich halte unwillkürlich die Luft an. Panisch blicke ich um mich und wage es nicht, aufzustehen. Es herrscht Stille.

Atemlos bemühe ich mich darum, tief Luft zu holen, versuche mich selbst zu beruhigen und verdränge die Erinnerung, wenngleich ich weiß, dass es mich wieder aufsuchen wird. Es dauert eine Weile, bis sich meine Atmung einigermaßen normalisiert. Mein Blick fällt auf den offenen Karton und plötzlich ist meiner vorherigen Neugierde Furcht gewichen.

Alles gut, Stella, spreche ich mir selbst Mut zu. Du bist nur paranoid.

Von draußen dringt das Geräusch fahrender Autos ins Zimmer und Straßenlaternen beleuchten das verbliebene Album im Umzugskarton. Mittlerweile ist die Sonne fast vollständig untergegangen und hat dem Himmel vereinzelte, orangerote Kleckse hinterlassen, die sich im Fensterglas spiegeln. Beim Hinaussehen blicke ich meinem verheulten Spiegelbild entgegen. Meine Haare sind zerzaust, die Augen trüber als am Nachmittag. Irgendwie ... mache ich einen hoffnungslosen Eindruck.

Ich verstehe nicht, was meine Schwester und Deliars Tod miteinander zu tun haben oder welche Absicht darin besteht, diese Vergangenheit in mir zu vergegenwärtigen. Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn.

Träume ich etwa? Bestimmt werde ich gleich aufwachen und feststellen, dass sich nichts verändert hat. Ganz sicher.

Das leise Klopfen an der Tür lässt mich aufschrecken und prompt schlage ich das Album in meinen Händen zu.

„Darf ich hereinkommen?" Mrs. Smiths vorsichtige Frage veranlasst mich dazu, mich umzudrehen. Das Licht aus dem Flur umspielt ihre Figur wie ein sanfter Pinselstrich. Zur Antwort nicke ich und räuspere mich kurz. Dumpf hallen ihre leisen Schritte wider, als sie den Türrahmen verlässt, auf mich zukommt und sich neben mir auf den Boden niederlässt.

„Du hast es also gefunden", bemerkt sie nach einem kurzen Blick auf die Beschriftung meines Namens. Mit zusammengepressten Lippen senke ich den Blick und spiele durch aufkommendes Unwohlsein mit meinen Händen.

„Ich weiß, dass es dir nicht leicht fällt", fängt sie an, in dem Versuch, meine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und das Schweigen zu brechen. Ein einsames Hupen dringt von draußen herein. „Aber du musst wissen, dass du nicht allein bist."

Ich öffne den Mund, um Mrs. Smith zu antworten, aber wie zu erwarten kommt kein einziger Ton heraus.

„Stimmt ja", sagt sie und greift in die Innentasche ihrer luftigen Jacke. Ein warmes Lächeln ziert ihre Züge, während sie mir einen Stift und mein Notizbuch reicht, das ich im Wohnzimmer zurückgelassen hatte. „Hier. Tut mir leid, ich hatte glatt vergessen, dass du ..."

Abwinkend greife ich nach dem halbvollen Heft und schlage eine leere Seite auf, bevor ich die Minenspitze auf das Papier setze.

„Macht nichts, es ist schließlich nicht deine Schuld. Und, ich kann dich gut verstehen. Mach dir wegen mir keine Sorgen, Mrs. ..."

„Dagmar."

Sie unterbricht mein Schreiben, indem sie eine Hand auf meine legt.

„Bitte nenne mich Dagmar."

Ich lächele sie kurz ehrlich an und beende dann meinen Satz.

„ ... Dagmar."

Dagmar erwidert mein Lächeln und atmet geräuschvoll durch.

„Ich bin dir dankbar, dass du immer für Lia da warst. Wirklich."

Zur Antwort kritzele ich eifrig eine weitere Notiz. Dabei kratzt der Stift über das Papier, die Spur einer neuen Erinnerung hinterlassend.

„Es war und wird mir immer eine Ehre sein, sie als meine Freundin bezeichnen zu dürfen. Wirklich."

Dawson fängt mich am nächsten Tag auf dem Weg in den Musiksaal ab. Gutgelaunt schlendert er neben mir her, die Hände in den Hosentaschen vergraben, und hält den Gurt seines Rucksacks mit einer Hand fest.

„Ich hab gehört, dass wir heute statt Musik den Unterricht von Mr. Carter haben. Der Englischkurs soll angeblich eine Präsentation am Schuljahresende halten." Aufmerksam höre ich ihm zu, wobei ich konzentriert auf den Boden starre. „Was dabei das genaue Thema ist ... erklärt uns Mr. Carter heute, soweit ich mitbekommen habe."

Langsam nicke ich und folge ihm zum vertretenden Raum, während ich ein schadenfrohes Grinsen unterdrücke. Projekte vortragen hat noch nie zu meinen Stärken gehört, und ohne Stimme scheide ich in der Auswahl aus.

Plötzlich rempelt mich jemand an und bringt mich zum Stolpern. Der Ordner, der sich bis gerade eben in meinen Armen befunden hat, landet auf dem Boden und gibt vereinzelte Blätter frei. Zerstreut liegen sie auf dem hellen Flur und eilig bücke ich mich, um sie einzusammeln.

„Sag mal, kannst du nicht aufpassen?! Bist du jetzt auch noch blind geworden, oder was?"

Das Fauchen ist mir so vertraut, dass ich nicht aufzuschauen brauche, um es Norelle zuordnen zu können. Ich antworte nicht, was auch nicht nötig ist, denn diesen Part übernimmt glücklicherweise Dawson für mich.

„Hast du etwa keine Augen im Kopf? Der Gang ist breit genug und du kannst auch außen herum laufen, statt wie eine Bekloppte in Menschen zu rennen!"

Ein kleiner Teil in mir befürchtet eine Eskalation, während der andere solchen Situationen bereits gewohnt ist. Nachdem ich alle Blätter aufgesammelt habe, erhebe ich mich und stelle mich neben meinen rothaarigen Freund, der in seinem Beschützerinstinkt breitbeinig dasteht und die Arme differenzierend verschränkt hat.

„Wag' es nicht, so mit mir zu reden!", kreischt sie schrill. Ich widerstehe knapp dem Drang, mir die Ohren zuzuhalten, kann jedoch ein Zusammenzucken nicht vermeiden.

„Ich wage es." Provozierend hebt Dawson die Augenbrauen und sieht sie herablassend an. Norelle kneift die Augen zusammen, wodurch diese die Gestalt kleiner, Blitze abfeuernder Schlitze einnehmen. Beim genaueren Hinsehen erkenne ich die verwischte Wimperntusche und die verquollenen Lider, die sie versucht zu verstecken. Überrascht weiten sich meine Augen.

Hat sie etwa geweint?

„Halt einfach die Klappe, du verdammte Missgeburt!" Wütend schreit sie auf und stampft fest mit dem Fuß auf, bevor sie auf dem Absatz kehrtmacht und davon stürmt. Seufzend schüttelt Dawson den Kopf und führt den Weg daraufhin fort, als wäre nichts gewesen. Nach kurzem Schweigen stehen wir vor der verschlossenen Tür des Fachraums. Die ersten Schüler trudeln bereits ein und werfen sich gähnend auf ihre Plätze. Außer Avy und Dawson geht nur noch mein bester Freund in diesen Kurs, die restlichen beiden haben ein anderes Fach gewählt.

Der letzte Gong verklingt und sein Echo hallt durch die Gänge des Schulgebäudes. Der Lehrer am Pult setzt zum Reden an und das Gemurmel in den Bankreihen stellt sich allmählich ein. Aus der Menge sticht Norelles hohe Stimme besonders heraus, die anscheinend vor uns die Klasse betreten hat. Von ihrem verweinten Gesichtsausdruck ist keine Spur mehr. Schwungvoll wirft sie ihr pinkes Haar, an dessen Ansatz man erkennen kann, dass sie mal ockerbraun waren, über die Schultern und setzt sich umständlich hin. Unter Mr. Carters strengem Blick verschließt jedoch auch sie bald kleinlaut den Mund.

„Guten Morgen, liebe Schüler."

„Guten Morgen, Mr. Carter", erwidern sie im Chor, wobei ich stumm bleibe. Mittlerweile haben die Lehrer erkannt, dass ich nicht aus Trotz keine Antwort auf ihre Fragen gebe.

„Einige von euch wissen sicher über die Planung dieses Schuljahres Bescheid, die-"

Er wird unsanft unterbrochen, als die Tür aufgerissen wird und einen atemlosen Kaden zu erkennen gibt.

„Entschuldigen Sie die Verspätung", keucht er und fasst sich an die Seite. „Ich habe den Bus verpasst."

Darauf nickt unser Englischlehrer einmal, wenn auch widerwillig. „Setz dich."

Mit einem leichten Schmunzeln beobachte ich, wie er sich auf den Platz neben mir niederlässt, der seit Deliars Tod sonst leer geblieben wäre und mich der Einsamkeit überlassen hätte. Tief atmet er durch und sieht aus, als könnte er jeden Moment aus dem Stuhl fallen. Vorsichtig schielt er zu mir und legt zeitgleich seine Tasche auf dem Boden ab.

„He, was gibt es da zu lachen?", fragt er mich in einem beleidigten Ton. Wenn ich könnte, würde ich seiner Behauptung Folge leisten. Bedeutend hebe ich eine Augenbraue und nicke ihm leicht zu. Das dunkelblonde Haar, das ihm in alle Richtungen vom Kopf absteht, das zerknitterte, im besten Fall falsch herum angezogene Hemd und der wirre Knoten seiner Krawatte sind Zeugen davon, dass er nicht nur seinen Bus verpasst haben kann.

Ertappt seufzt er und hebt kapitulierend die Hände. Der Lehrer redet im Hintergrund, aber wir hören kaum zu. Bloß den einen oder anderen Satz kann ich aufschnappen.

„Ist schon gut, du hast mich durchschaut."

Ein triumphierendes Lächeln, kaum sichtbar, umspielt meine Lippen, bevor ich mich wieder Mr. Carter zuwende. Dieser spricht gerade das Thema an, von dem Dawson zuvor erzählt hat.

„... diesjährige Vorstellungen durchgeführt."

Kaden tippt mich an der Schulter an, erregt dadurch meine Aufmerksamkeit. Verwirrt blinzelt er mir entgegen.

„Wovon labert der?" Ich hebe die Schultern und schüttele verständnislos den Kopf. Dann nehme ich einen Bleistift zur Hand und kritzele etwas auf den Rand meines Heftes.

„Vermutlich von irgendwelchen Projekten, laut Dawson; ich habe keine Ahnung."

Gespielt enttäuscht sieht er mich an: „Wozu habe ich dich denn sonst?"

Empört will ich ihm gegen den Arm boxen, wobei er geschickt ausweicht. Das Räuspern meines Englischlehrers begleitet sein Glucksen und lässt mich aufhorchen.

„Wie ich sehe, scheint ihr meinen Unterricht äußerst amüsant zu finden." Mr. Carter fixiert uns mit strengem Blick, rückt seine runde Brille zurecht und verschränkt die Arme vor der Brust. „Miss Peterson, Mister Parker, lasst uns doch bitte an eurem Vergnügen teilhaben."

Einige verkneifen sich das Lachen, andere kichern haltlos. Norelles erklingt besonders hoch und falsch in meinen Ohren, während ich nicht verstehe, weshalb sie sich heute mehr aufspielen muss als sonst. Ich murmele eine lautlose Entschuldigung, worauf mich Kaden vorwurfsvoll ansieht. Im Gegenzug schenke ich ihm ein schiefes, angedeutetes Grinsen, wenngleich ich nicht weiß, was ich falsch gemacht habe.

„Entschuldigen Sie, Mr. Carter. Eine weitere Störung wird nicht mehr vorkommen."

Brummend nickt dieser Kadens wenig einfallsreiche Erwiderung ab und fährt damit fort, seinen Vortrag zu halten.

„Nun, das Thema für unseren Kurs lautet „Entwicklung der Literatur". Ich habe Dickens als Künstler ausgewählt, denn wer könnte unser Land in Literaturgeschichte besser vertreten als er?" Mr. Carter erhält kein zustimmendes Gemurmel. Anscheinend hat er dieses auch nicht nötig. Er spricht ungerührt weiter, trotz der schwindenden Aufmerksamkeit und der anschwellenden Lautstärke, die sich in den Schülerreihen ausbreiten.

„Eigentlich wollte ich per Los entscheiden, wer in unserem Namen die Präsentation durchführen darf." Er hält kurz inne, als wolle er eine dramatische Pause einlegen, und ich bemerke, wie Kaden neben mir die Augen betend verschließt. „Aber nach langem Überlegen habe ich mich schließlich auf fünf Personen festgelegt."

Meine Gedanken schweifen ab, als Mr. Carter beginnt, die Namen vorzutragen. Wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht mehr genau, was mich damals veranlasst hat, Englisch in der Kursstufe zu wählen. Kunst klingt im Nachhinein viel vernünftiger, doch womit könnte ich die fortwährende Stille, die wie dichter Nebel mein Zimmer mit Trauer verhüllt, sonst füllen, wenn nicht mit malen und lesen?

„ ... Charlotte Wilkes, ..."

Ich erinnere mich an mein erstes Gemälde auf einer Leinwand, das stolz im Zimmer meiner Eltern hängt. Damals habe ich einfache Kirschblüten in zarten Pastelltönen gemalt, noch nicht sicher mit Farben und Pinsel. Auch wenn dieses Ereignis Jahre zurückliegt, schafft sie es dennoch, mich einen Funken der Friedlichkeit von früher spüren zu lassen. Die zu einer Zeit, in der ich noch glücklich und mein Leben kein Desaster war.

„ ... Norelle Hamilton, ..."

Das sanfte Klopfen an der Glasscheibe neben mir holt mich in die Gegenwart zurück. Es klingt fast so, als würde jemand mit kleinen Steinchen das Fenster bewerfen.

Lang. Pause. Lang. Lang. Lang. Pause. Lang. Kurz, kurz.

Neugierig ich drehe den Kopf zur Seite, um nachzuschauen, wer der Täter ist. Ein dunkler Schatten stürzt sich im selben Moment das Stockwerk hinunter und verschwindet aus meinem Sichtfeld. Zurück bleibt ein verstörter Ausdruck auf meinem Gesicht.

Vor Schock erstarre ich und traue mich kaum zu atmen. Ich glaube, mein Herz würde einen Schlag aussetzen, um anschließend doppelt so schnell weiter zu schlagen. Ein Teil von mir klammert sich an die These, es wäre bloß ein vorbeifliegender Vogel gewesen, als hinge mein Leben davon ab. Die roten Punkte im Fenster machen meine Hoffnungen zunichte.

„ ... Kaden Parker, ..."

Beinahe hätte ich nicht mitbekommen, dass mein Nebensitzer aufgerufen wurde. Panisch lasse ich den Blick zwischen meinen Mitschülern wandern. Ist der Schatten denn niemandem sonst aufgefallen? Ich blinzele ein paar Mal heftig, aber die Färbung ist immer noch da. Diesmal habe ich es mir nicht eingebildet.

„ ... und Estella Peterson."

Ich schaffe es nicht, die Punkte aus meinem Gedächtnis zu schieben, und bleibe regungslos sitzen, die Augen noch immer fest auf das bemalte Glas geheftet. Erst als ich die vielen Augenpaare bemerke, die auf mich gerichtet sind, realisiere ich die Bedeutung hinter dem Aufrufen meines Namens.

Unwichtig. Die unlogische Besetzung zur Aufgabe meines Lehrers ist nichts weiter als ein überflüssiges Detail, das sich schnell verdrängen lässt. Widerspruchslos drehe ich mich zu Kaden, der sich seinerseits kaum das Lachen verkneifen kann. Hilfesuchend starre ich ihn an und deute unauffällig zum Fenster. Mit Gänsehaut auf den Armen kritzele ich eine knappe Botschaft, reiße den Papierfetzen von meinem Heft und werfe sie ihm förmlich ins Gesicht.

„Sieh' zum Fenster."

Ich kann erkennen, wie er mühsam das Lachen hinunterschluckt undeinen ziemlich misslungenen ernsten Blick aufsetzt. Das Amüsement schwindet aus seinen Augen, nachdem er meiner Bitte nachgekommen ist. Stattdessen setzt er eine verwirrte Miene auf.

„Was-" Er unterbricht sich, als Mr. Carter ihm einen warnenden Blick zuwirft, und fährt dann im Flüsterton fort. „Was ist das denn? Hast du aus Langeweile die Scheibe beschmiert?"

Langsam schüttele ich den Kopf und presse die Lippen fest aufeinander, mache mir nicht die Mühe etwas auf die Rückseite des Papiers zu schreiben. Er weiß meinen Blick auch ohne Worte zudeuten.

Ich war das nicht.

Er verstummt ratlos und legt die Stirn in Falten. Bedrücktes Schweigen macht sich zwischen uns breit. Ich fröstle. Vorn am Pult verlangt unser Englischlehrer ausdrücklich und mit strenger Stimme nach Ruhe, wobei ich mich nicht länger auf seine Worte konzentrieren kann. Zusammenhangslose Gedanken schwirren in meinem Kopf herum und lassen sich nicht einfangen.

„Was genau ihr präsentiert, fällt nicht unter meine Verantwortung." Einige Mitschüler reiben sich unter ihrem Pult schadenfroh die Hände. „Aber seid euch bewusst, dass die gesamte Schule zusehen und die Zurschaustellung benotet wird."

„Wir reden später darüber", flüstert mir Kaden zu, anstatt einen genervten Kommentar von sich zu geben. „Vielleicht war das nur ein dummer Streich oder vorher schon da."

Hoffnungsvoll nicke ich. Allerdings wage ich es nicht, seiner Vermutung vollkommen beizupflichten.

„Mr. Carter", säuselt Norelle gerade und hebt gleichzeitig ihre Hand. „Ich will Ihre Entscheidung ja nicht infrage stellen, aber..." Überdeutlich wirft sie uns einen abwertenden Blick zu. „Sind Sie sich sicher, dass ein Trottel und seine behinderte Freundin für eine solche große Aufgabe geeignet sind?"

Es ist eine unüberhörbare Beleidigung und ich würde ihr sogar unwillig zustimmen, wenn sich der Vorfall von gerade nicht immer wieder in mein Gedächtnis drängen würde. Unweigerlich erinnere ich mich an den Schatten im Spiegel. War das nur Hirngespinste oder tatsächlich passiert? Das alles erscheint mir so absurd, dass ich es nicht für wahr halten kann.

Aus kalten Augen scheint Mr. Carter das Mädchen nieder starren zu wollen.

„Führe ich den Unterricht", fragt er sie, „oder du?"

Kleinlaut rutscht Norelle auf ihrem Stuhl herum, wirft unsichere Blicke zu ihren Freundinnen. Diese sehen ihr ahnungslos entgegen.

„Dann sind wir uns wohl einig", schließt unser Lehrer knapp ab und schiebt sich die Brille ein Stück hoch. „Nun denn, fahren wir fort mit dem Unterrichtsstoff. Luke, schlage doch bitte das Buch auf der Seite 176 auf und lies uns den vorgegebenen Text vor ..."

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