10| Ein bestätigendes Gespräch
~ 585 h
Die Flure sind noch leer und machen sich bereit, in einer Stunde gestürmt zu werden, wenn die Schüler nach draußen hetzen. Tapsende Schritte hallen wider, als ich das Klassenzimmer verlasse und das Schulgebäude durchquere. Dabei komme ich an der offen stehenden Tür des Hausmeisterzimmers vorbei. Von drinnen herrschen keine Geräusche, weshalb ich vermute, dass Mr. Hamilton nicht anwesend ist. Ich lasse mich nicht lange aufhalten, sondern steuere weiter auf die Mädchentoiletten zu.
Außer mir ist noch eine weitere dort, wie ich an der verschlossenen Kabine erkenne. Wortlos schließe ich mich in eine Freie ein. Das Neonlicht über mir gibt ein stetiges, leises Summen von sich und erinnert mich unwillkürlich an den Abend, an dem ich dem Schatten begegnet bin.Der Gedanke daran veranlasst mich dazu, schnellstmöglich zu den Waschbecken zu gehen. Mit einem Ruck reiße ich den Wasserhahn auf und bringe das Wasser förmlich zum Explodieren. Lautes Rauschen erfüllt den Raum.
Ich traue mich während des Händewaschens nicht, den Kopf zu heben und meinem Spiegelbild entgegen zu sehen. Fest umklammere ich den Waschbecken mit meinem Blick.
Leise Schritte ertönen hinter mir.
Mit aufgerissenen Augen wirbele ich herum, das Haar peitscht mir ins Gesicht und verdeckt meine Augen. Alarmiert hebe ich die Arme hoch. Ein erschrockenes Quietschen entfährt mir, als ich jemanden berühre.
Eine fremde Stimme schreit auf.
Das Erste, was ich sehe, ist ein blonder Pferdeschwanz, der über eine Lederjacke fällt. Langsam bildet sich aus dem verschwommenen Umriss ein bekanntes Gesicht.
„Dana?", forme ich mit den Lippen und atme gleichzeitig erleichtert auf. Mein Herz stolpert immer noch in meiner Brust.
„Stella, hast du mich erschrocken!" Vorwurf mischt sich in die undefinierbaren Emotionen ihrer Augen. Ich schenke ihr ein schiefes Grinsen, während sich Schuldgefühle in mir ausbreiten. Vielleicht bin ich einfach zu paranoid geworden, sodass ich mich selbst dann erschrecke, wenn meine Freundin hinter mir steht.
Leicht nicke ich mit dem Kopf zur Tür, als Andeutung, dass ich wieder zum Unterricht zurückkehren werde. Zustimmend folgt mir Dana zur Tür.
„Ich komme mit, aber mein Fachraum ist ein Stock höher."
Gemeinsam laufen wir durch das Gebäude, wobei wir ab und zu einigen Schülern oder Lehrern begegnen. Die meisten von ihnen sind mir fremd, Dana hingegen scheint die meisten zu kennen. Kaum hat sie den Einen lächelnd begrüßt, kommt schon der nächste auf sie zu. Dass meine Freundin so bekannt ist, habe ich bis dato überhaupt nicht gewusst.
Ich bin wirklich eine schlechte Freundin, denke ich schuldbewusst. Ich weiß nicht mal, wer ihre Freunde sind.
An der Treppe verabschieden wir uns. Während Dana nach oben schlendert, umrunde ich die Stufen und laufe daran vorbei. Mein Blick schweift beim Gehen über das Hausmeisterzimmer. Es steht immer noch offen. Stirnrunzelnd wende ich mich ab.
Das Sekretariat direkt daneben ist verschlossen, vermutlich macht die Sekretärin eine Pause oder führt Telefonate durch, die unser Direktor nicht annehmen will. Unwillkürlich erinnere ich mich an die beiden Male, bei denen ich mich im selben Zimmer aufgehalten habe wie er. Die inoffiziell anerkannte Regel, dass seine Anwesenheit Pech bringt, scheint wohl wahr zu sein.
Ein kaum hörbares Klicken in der lautlosen Stille lässt mich aufhorchen. Suchend sehe ich mich um und entdecke den Hausmeister. Er steht vor einer Spindreihe, ungefähr in der Richtung, in der sich mein Spind ebenfalls befindet. Neugierig trete ich näher.
Gleich darauf halte ich überrascht inne. Aus meiner Position kann ich seitlich in das offene Fach schauen. Ich habe kaum Zeit, mich über die Unverschämtheit, jemandes Spind aufzubrechen, zu wundern. Das Bild auf der Innenseite des Spinds kommt mir nur zu bekannt vor.
Im nächsten Moment wird die eiserne Tür wieder zugeworfen. Nach dem Abschließen sieht sich Mr. Hamilton zu beiden Seiten um. Eilig verstecke ich mich hinter einer Säule, ich kann spüren, wie sich mein Herzschlag verdächtig erhöht. Erst als ich verlassende Schritte höre, traue ich mich, an den Spind zu treten.
Ohne Zweifel, er gehört mir.
Meine Finger zittern vor Aufregung, als ich am Zahlenschloss drehe. Mühelos lässt sie sich öffnen. Es dauert nicht lange, bis mir ein zusammengefalteter Zettel ins Auge springt. Mein Herz macht einen Satz.
„Wem vertraust du? Wer verrät dich? 1001001001;E. H. E. h-A"
Die abgetippten Buchstaben sehen genauso aus wie die Nachrichten, die ich zuvor erhalten habe. Ein leiser Verdacht steigt in mir auf. Hat vielleicht der Hausmeister etwas damit zu tun? Immerhin weiß er, wie der Stalker, dass Devran das uneheliche Kind seiner Eltern ist. Umso länger ich darüber nachdenke, desto mehr Sinn ergibt es. Verkrampft umschließe ich die Hand um das blütenweiße Papier. Ich muss es Kaden zeigen, schießt es mir durch den Kopf. Entschlossen verschließe ich meinen Spind und drehe mich um. Das hier ist nicht länger ein Spiel ... es geht um mein Leben.
Wie von selbst beschleunigen sich meine Schritte, leises Quietschen ertönt beim Aufeinandertreffen von meinen Schuhsohlen und dem Linoleumboden. Im nächsten Gang bleibe ich vor einer Tür stehen und klopfe anständig. Unruhe lauert in mir, während ich darauf warte, eingelassen zu werden.
Ich nicke meinem Lehrer knapp zu, als er mir öffnet, und eile mit gesenktem Blick an meinen Platz. Weil wir nahezu alle Kurse zusammen belegen, entfalte ich ohne zu zögern den Zettel in meiner Hand und lege ihn auf Kadens aufgeschlagene Heft.
„Was ist das?", fragt er verwirrt und zieht die Augenbrauen zusammen. Vorsichtig hebt er das bedruckte Blatt hoch und liest die abgebildete Zeile.
„Das ist doch so etwas, wie du in dein Notizbuch geklebt hast?", bemerkt er plötzlich. Nickend bestätige ich seine Vermutung. Aufmerksam sieht mich mein bester Freund an. Im Hintergrund höre ich dumpf die Erklärung einer Matheformel, die ich vermutlich für die Hausaufgaben brauchen werde.
„Woher hast du sie, Stella?" In eine Ecke meines Hefts schreibe ich ihm eine Antwort.
„In meinem Spind. Rate, wen ich gesehen habe? Mr. Hamilton! Er war derjenige, der es dort hingelegt hat."
„Mr. Hamilton?", hakt Kaden ungläubig nach. „Bist du dir sicher, dass er es war? Oder vielleicht jemand, der ihm ähnlich sieht?"
Standhaft schüttele ich mit dem Kopf. Ich bin mir absolut sicher. Diesen grauen Overall trägt in der gesamten Schule nur unser Hausmeister. Nachdenklich legt Kaden die Stirn in Falten und stützt sein Kinn auf die Hand.
„Mr. Hamilton schreibt diese Zettel also ... glaubst du, er ist auch derjenige, der Devran und dich verfolgt hat?"
Unschlüssig wiege ich den Kopf. Es sind zu viele Zufälle, zu viele Thesen in meinem Kopf. Ich kann unmöglich einen klaren Gedanken fassen. Kaden gibt ein Seufzen von sich.
„Diese Geschichte wird immer komplizierter, und das förmlich aus dem Nichts. Mann, Stella, dein Leben ist ja ganz schön temporeich geworden."
Mir ist nicht nach Scherzen zumute, weshalb ich mit Schweigen auf seine Worte reagiere. Über die restliche Stunde sprechen wir nicht mehr über den Vorfall und konzentrieren uns stattdessen auf Mathe. Doch ich kann nicht verhindern, weiterhin über diese Sache nachzudenken.
Mein Vater fährt mich in die Stadt, in der ich mit Devran gewesen bin, um diesen im Krankenhaus zu besuchen. Den Ortsnamen kann ich mir weiterhin nicht merken, der anfangs bei mir hinterlassene Eindruck hat sich hingegen grundsätzlich verändert. Von den Straßen, den Gebäuden und selbst den Einwohnern geht nicht länger Harmonie aus. An deren Stelle ist eine lauerndes Gefühl getreten, die mich unwillkürlich verunsichert. Rote Bänke blitzen auf, verschwimmendes Licht zieht a meinen Augen vorbei. Überall glaube ich das Feuer zu sehen, den Rauch zu riechen.
Auf dem ganzen Weg spricht mein Vater nicht mit mir. Ich vermute, dass er noch immer sauer auf mich ist, was mich nicht verwundern sollte. Ich nehme es ihm nicht übel. Stattdessen kann ich nachempfinden, was er von mir denken muss.
Verantwortungslos hat er mich genannt. Dagegen kann ich mich nicht wehren.
„Wir sind da." Das plötzliche Ertönen seiner rauen Stimme lässt mich verwundert aufschauen. Seine Worte kommen erst mit Verspätung bei mir an.
Nickend deute ich ihm, dass ich verstanden habe.
Bald parken wir auf dem Krankenhausgelände und steigen nahezu synchron aus. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie ich Devran gegenübertreten soll. Und wie zu reagieren, wenn er mich für den Vorfall oder seinem jetzigen Zustand schuldig macht, ebenso wenig. Ich schreibe mir selbst Schuld zu, fühle mich verantwortlich für das Ganze. Es wäre nicht passiert, wenn ich nicht mit ihm mitgegangen wäre. Aber alles Denken bringt mich momentan nicht weiter und was geschehen ist, kann ich nicht rückgängig machen. Daher schüttele ich nur kurz mit dem Kopf, als könnte ich dadurch meine kursierenden Gedanken loswerden, und folge meinem Vater ins Innere des Hochgebäudes.
Die Einrichtung erinnert mich wage an die Praxis meiner Therapeutin. Mittig steht eine weiße Rezeption, hinter der niemand steht. Verwirrt suche ich den Raum mit meinen Augen ab. Als ich nicht fündig werde, zupfe ich meinen Vater am Shirtende und bringe ihn damit zum Stillstand.
„Was ist los?" Seit ein paar Stunden ist es das zweite Mal, dass er mit mir spricht. Ich kann förmlich die Enttäuschung aus seiner Stimme heraushören.
Mit dem Kinn deute ich auf die leere Rezeption. Er versteht sofort.
„Vielleicht sind sie beschäftigt. Keine Sorge, ich weiß, in welchem Zimmer er liegt."
Beruhigt lasse ich mich mitziehen. Neugierig lasse ich den Blick schweifen. Abstrakte Gemälde zieren die blassen Wände und verleihen ihnen einen Farbtupfer. Der Geruch nach Desinfektionsmittel und irgendwelcher Medizin liegt stark in der Luft. Unwohl rümpfe ich die Nase. Bemalte Türen reihen sich aneinander, alle mit einer anderen Nummer beschriftet. Ich fühle mich in den Moment zurück versetzt, in dem ich mit Devran unser Gastzimmer betreten habe.
Irgendwann bleiben wir stehen. In dem Labyrinth aus Treppen, Gängen und Türen habe ich vollkommen die Orientierung verloren und wäre hilflos aufgeschmissen, hätte ich meinen Vater nicht an meiner Seite.
Ohne, dass er etwas sagen muss, erahne ich, wer sich hinter dieser Tür befindet. Die Unsicherheit packt mich. Nervös wende ich den Blick ab und spiele mit dem Saum meines Schulrocks.
„Nun geh schon rein." Der sanfte Unterton bringt mich dazu, meinen Begleiter dankbar anzulächeln. Angedeutete Panik windet sich um meine Lippen.
Ich atme tief durch und spreche mir selbst Mut zu. Tausende Bilder tanzen durch meinen Kopf, flüchten aus meinen Händen, wenn ich versuche nach ihnen zu greife. Schlussendlich gebe ich auf und umfasse die kühle Klinke.
„ ... froh, dich dazugewonnen zu haben."
Am liebsten hätte ich die Tür wieder zugeworfen, als ich erkenne, wer sich außer Devran im Zimmer befindet. Die Sonne scheint durch das Zimmer auf ihr helles Haar, das im Licht unnatürlich schimmert.
„Ich bin auch froh", sagt der Junge gerade, der im Bett liegt und dessen Hand gehalten wird. Beide bemerken meine Anwesenheit nicht, und es wäre auch sicher so geblieben, würde sich mein Vater nicht lautstark räuspern. Erschrocken wirbelt Norelle herum. Sie erhebt sich so abrupt, dass sie Devrans Arm fast herumgerissen hätte, und beugt sich noch rechtzeitig in seine Richtung.
„Was machst du den hier?", fährt sie mich an, wird aber von Devran zurückgehalten. Streng sieht er sie an und schüttelt leicht mit dem Kopf. Seine Beatmungsmaske beschlägt, als er ausatmet.
Widerwillig lässt sich meine Mitschülerin zurück auf den Stuhl fallen. Zögerlich trete ich ein, werfe meinem Vater einen fragenden Blick zu. Er schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln und zieht die Tür hinter mir zu. Ich weiß nicht, ob ich ihm dafür dankbar sein soll, denn die Atmosphäre versinkt unleugbar in ein unangenehmes Tief. Regungslos bleibe ich an der Wand stehen, nicht sicher, was ich tun soll. Devran ist es, der das Schweigen schließlich bricht.
„Setz dich doch", fordert er mich freundlich auf. In seinen grünen Augen suche ich vergeblich nach Anschuldigung. Gehorsam gehe ich seiner Aufforderung nach und setze mich brav auf den Stuhl neben Norelle. Den abschätzigen Blick, den sie mir zuwirft, spüre ich deutlich auf mir. Unwohl senke ich den Kopf.
„Ich gehe dann mal", verkündigt Norelle und erhebt sich. Überrascht folge ich ihr mit meinen Augen, als sie zur Tür läuft. „Bis morgen, Devran."
Damit ist sie aus dem Raum verschwunden.
„Und es sind wieder nur wir beide", scherzt mein Nachbar und stößt ein leises Lachen aus. Besorgt sehe ich ihn an und rücke näher. Ich lege einen Finger an meine Lippen, um ihm zu symbolisieren, dass er weniger sprechen soll. Er reagiert mit einem belustigten Schmunzeln.
„Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen." Prüfend ziehe ich die Augenbrauen zusammen, während ich ihn genauer betrachte. Dunkle Ringe haben sich unter seine Augen gegraben, kränkliche Blässe durchzieht sein gesamtes Gesicht. Die Schläuche, die an seinen Armen befestigt wurden, tragen nicht dazu bei, mir die Schuld von den Schultern zu nehmen.
„Ich freue mich, dass du gekommen bist, Elster." Zweifelnd kneife ich die Lippen zusammen, worauf Devran eine Hand hebt und meine damit umschließt. Ich fühle mich verantwortlich, ihn in diese Situation gebracht zu haben, und schuldig, ihn jemals zu verdächtigen. Wie viel Falsches ein Mensch auch getan hat, niemand würde meiner Meinung nach so weit gehen, sein eigenes Leben aufs Spiel zu setzen.
Vorsichtig löse ich mich aus seinem Griff und krame in meinem Rucksack nach meinem Notizbuch und einem Stift. Nachdem beides auf meinem Schoß liegt, kritzele ich eine kurze Botschaft an den freien Seitenrand.
„Bist du mir nicht böse?"
Verwirrung zeichnet sich auf Devrans Miene ab.
„Warum sollte ich?", fragt er zurück und versucht, sich aufzusetzen. Anstatt ihn daran zu hindern, schreibe ich erneut.
„Weil du wegen mir fast ... gestorben wärst."
Ich traue mich nicht, ihn direkt anzusehen. Seine kehlige Stimme gräbt sich in mein Gedächtnis.
„Du kannst doch nichts dafür", entgegnet Devran sanft und stupst mich an die Nase. Blinzelnd weiche ich zurück, während ich mir an die Stelle fasse. Es dauert einige Augenblicke, bis ich es schaffe, zu reagieren.
„Doch, schon. Wenn ich nicht mit dir gegangen wäre, würdest du nicht hier liegen."
„Falsch" widerspricht er prompt. Irritiert starre ich ihn an. Natürlich kann ich etwas dafür, schließlich gibt es einen Grund, weshalb ich überhaupt von zuhause weggelaufen bin.
„Wenn man das so betrachtet, bin ich selber Schuld", entgegnet Devran standhaft, bevor ein Husten aus seiner Kehle bricht. Alarmiert springe ich auf, in der Absicht, eine Krankenschwester zu rufen. Devrans Hand, die mich festhält, durchkreuzt mein Vorhaben.
„Alles gut", meint er krächzend, „bleib hier."
Beunruhigt sitze ich neben ihm und warte, bis sein Hustenanfall nachlässt. Räuspernd klärt er seine Stimme.
„Ich habe dich unbedingt mitnehmen wollen", fährt er fort, als wäre nichts gewesen. „Und überhaupt, wenn jemand Schuld trägt, dann ist es dieser Stalker. Hast du eigentlich herausgefunden, wer dich verfolgt hat?"
Resigniert schüttele ich mit dem Kopf, woraufhin er seufzt.
„Hoffentlich findet die Polizei bald heraus, was Sache ist." Offenkundig stimme ich ihm zu.
Eine Weile ist nur das verstärkte Atmen von Devran zu hören. Vorsichtig setze ich mich an die Bettkante und mustere sein trübes Gesicht. Während der Stille tue ich nichts weiter, als ihn mit meinem Blick einzufangen. Die Vorstellung, ihn beinahe verloren zu haben, packt mich plötzlich und macht mir eine unsagbare Angst. Fest umschließe ich seine Hand.
„Warum folgt er dir?", fragt mich Devran schließlich. In kleinen Kreisen fährt sein Daumen über meine Fingerknöchel. „Du kannst mir alles erzählen."
Ausatmend senke ich den Kopf.
„Ich weiß", hauche ich kaum hörbar. Den Hintergrund des Stalkers würde ich auch gerne wissen, aber Fakt ist, dass ich nicht die geringste Ahnung habe. All die Zettel, das Klopfzeichen ... Botschaften, die mich in Irritation versetzen und mir doch nicht sagen, was mich zum Ziel macht.
Frustration steigt in mir auf.
„Hast du dich in gefährliche Sachen verwickelt, Elster?" Seine vorsichtige Nachfrage macht mir klar, in welche Richtung er gedacht hat. Hastig schüttele ich mit dem Kopf, um seine Theorie zu verwerfen. Eine weitere Notiz erläutert ihm meine Situation.
„Ich weiß nicht, weshalb er mich tot sehen will. Ich weiß noch nicht einmal, ob es wirklich ein Er ist ..."
Das Bild des Hausmeisters taucht vor meinem inneren Auge auf, doch ich verdränge es entschieden. Das Gespräch vor unseren Grundstücken habe ich nicht vergessen, somit auch die Tatsache, dass Mr. Hamilton Devrans leiblicher Vater ist. Ich will ihn nicht dadurch verletzen, seinen Vater zuverdächtigen.
„Moment, was?" Schockiert reißt er die Augen auf und ich kann hören, wie sich seine Atemfrequenz erhöht. „Er will dich tot sehen? War nicht von einem ... normalen Stalker die Rede?"
Unschlüssig darüber, wie ich es ihm erklären soll, hebe ich die Schultern. Devran lässt den Kopf zurück in die Kissen sinken, den er zuvor ein Stück gehoben hat, und macht einen gequälten Gesichtsausdruck.
„Elster, das ist kein Stalker mehr", stößt er aus. „Das ist ein ... ein Mörder."
Unentschlossen setze ich den Stift auf das Papier und überlege, wie ich mich am besten herausreden soll.
„Ich bin mir nicht sicher, ob er das wirklich will. Aber nach all dem, was passiert ist, kann ich diese Möglichkeit nicht ausschließen."
Fassungslos massiert sich Devran die Schläfen und atmet tief durch.
„Also, fassen wir es kurz zusammen: Aus unbekannten Gründen verfolgt dich ein Stalker, der sich als Vielleicht-Killer entpuppt und will dich – möglicherweise – umbringen. Habe ich das so richtig verstanden?"
Vorsichtig nicke ich. Er lässt meine Hand los, um sein Gesicht mit beiden zu bedecken.
„Warum?", klagt er dumpf, der Missfallen ist ihm deutlich anzuhören. „Warum auch noch Elster?"
Ich will ihm gerade besänftigend über den Kopf streichen, als mich der Sinn seiner Worte innehalten lässt. Leicht tippe ich ihn an der Schulter an und übergehe mein eigentliches Vorhaben. Eilig formuliere ich einen schriftlichen Satz, bevor ich ihm das aufgeschlagene Notizbuch vor die Nase halte.
„Was meinst du mit 'auch'?"
Weiß er etwa mehr, als er zugibt? Dass er etwas verheimlichen könnte, wird mir erst in diesem Augenblick klar. Gedanklich bete ich darum, nichts ausgeplaudert zu haben, das ich später bereuen könnte. Devran gibt erneut ein tiefes Seufzen von sich.
„Vor ein paar Tagen war die Polizei hier und hat-" Ein heiseres Husten unterbricht seine Erzählung und bringt mich dazu, eine besorgte Miene aufzusetzen. Abwinkend hebt er eine Hand. Geduldig warte ich, bis er wieder fähig ist zu sprechen.
„Vor ein paar Tagen war die Polizei hier und hat mich zu dem Feuer befragt. Ich gehe mal davon aus, dass du dasselbe hinter dir hast?"
Bekräftigend nicke ich.
„Nun, ich habe gesagt, dass ich keine Ahnung habe, wie es dazukommen konnte, schließlich habe ich in dem Moment geschlafen. Und wenn du mich nicht rechtzeitig gerettet hättest, wäre ich vermutlich am selben Abend gestorben.
Sie haben mir von einem Zettel erzählt, den sie dort angeblich gefunden hätten. Du weißt anscheinend, was das zu bedeuten hat, aber ich habe nichts verstanden. Woher auch, wenn ich nur der Annahme war, dass dich irgendein kranker Psycho stalkt?"
Beschämt vermeide ich seinem Blick. Gerne hätte ich ihm gesagt, dass ich zu dem Zeitpunkt dasselbe gedacht hatte, wie er.
Devran macht keine lange Pause, sondern fährt direkt fort.
„Wie auch immer. Die Polizei hat mir erzählt, dass sie einen ähnlichen Zettel gefunden haben; vor knapp zwei Monaten, damals, beim Unfall meiner ... Schwester."
Unbewusst halte ich die Luft an. Aufregung steigt in mir auf, Hoffnung, eine Bestätigung zu finden. Kadens Behauptung, Deliars Tod wäre kein Unfall gewesen, fällt mir wieder ein.
„Ich weiß nicht mehr genau, was da drauf gestanden haben soll, aber irgendwas mit 'Ein Leben für ein Leben' oder so." Devran schüttelt den Kopf, als würde er das Gesagte selbst für absurd halten. „Aber eine Sache gibt es, die wichtig sein könnte."
Sein Blick wird eindringlich und ich befürchte, eine Nachricht zu erhalten, die ich nicht gutheißen würde.
„Sie mussten den Fall genauer ermitteln, um auf ein neues Ergebnis zu kommen. Das Auto soll direkt nach dem Geschehen verschwunden sein. Außer Kaden und dir gab es sicher noch andere Augenzeugen, aber niemand hat sich das Kennzeichen gemerkt. Eine Videoüberwachung hat anschließend die ungefähre Fahrtrichtung angezeigt."
Gespannt hänge ich an seinen Lippen, darum bemüht, keine einzige Information zu verpassen. Ich ahne, worauf er hinaus will, und kann dennoch nicht aufhören, daran zu zweifeln.
„Der Wagen wurde erst vor ein paar Wochen in London gesichtet. Und, Elster, die Polizei hat festgestellt, dass die Bremsen durchtrennt sind."
Bestürzt schnappe ich nach Luft, als ich das höre. Demnach hat Kaden recht behalten. Devran lässt sich nicht beirren, sondern beendet mit ernster Miene seine Wiedergabe.
„Es sieht zwar so aus, als wären sie irgendwie durchgebrannt, aber Spuren eines menschlichen Handwerks wurden nicht vollkommen vertuscht."
Ganz ehrlich ... ich habe wieder eine Idee, wie ich dieses Buch überarbeiten könnte. Und irgendwie stört es mich, dass ich nie an einer dranbleiben und zu Ende bringen kann.
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