1| Abend der Erinnerungen

~ 936 h

Die Sonne blendet mich, als ich aus dem Haus trete, und ich schirme meine Augen mit einer Hand ab. Vogelgezwitscher erfüllt die Luft und ein warmer Windhauch spielt mit der blonden Strähne, die aus meinem Zopf gefallen ist. Mir wäre es lieber, wenn sich der Himmel verdüstern würde. Es wäre mir ein Trost, dass er mit mir um meine Freundin trauert.

„So, seid ihr bereit?", fragt meine Mutter beschwingt und tritt hinter mir durch die Tür, die Finger mit denen ihres Lebensgefährten verschränkt. Nickend bestärke ich das „Ja" meines Vaters. Direkt neben unserem Haus wohnt die Familie Smith, der meine Freundin angehörte. Ich kann mir gar nicht ausmalen, wie schlimm ihr Tod für ihre Familie sein muss. Allein beim Gedanken an ihre vor Trauer eingefallenen Gesichter zieht sich mein Magen schmerzhaft zusammen.

Meine Eltern gehen vor, während ich folge. Das hellrote Kleid weht mir um die Beine und ich presse mein Notizbuch wie ein Schutzschild gegen meine Brust. Für mich ist dieses mittlerweile zur einzigen Möglichkeit geworden, mit anderen zu kommunizieren, und ich habe mich gezwungenermaßen mit dem Gedanken angefreundet. Viele Menschen laufen an uns vorbei, ohne mir eigenartige Blicke zuzuwerfen. Auf sie muss ich wie ein ganz normales Mädchen wirken, das ihre Nachbarn besuchen geht.

Nach ein paar wenigen Schritten stehen wir vor der holzvertäfelten Tür und klingeln anständig. Ein sanftes Ringen ertönt, bevor Schritte zu hören sind. Sie wird, mit einem leisen Knarzen begleitet, von Deliars Mutter geöffnet.

Sie sieht schrecklich aus. Unter ihren Augen sind dunkle Ringe, die sie vermutlich mit Make-Up zu kaschieren versucht hat. Das Lächeln in ihrem Gesicht wirkt ausgesetzt und schief, neue Tränen scheinen ihre sonst so warmherzigen Augen überfluten zu wollen. Augenblicklich zerreißt mir ihr Anblick das Herz.

„Ihr seid es", begrüßt sie uns heiser und räuspert sich verlegen. „Kommt doch rein."

Meine Eltern tauschen mitleidige Blicke aus und ich bemühe mich, es nicht zu tun. Den Kopf gesenkt folge ich ihnen in den dunklen Flur. Die Vorhänge sind zugezogen, kein Licht dringt hindurch. Meine Augen brauchen eine Weile, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.

Ich habe dieses Haus ganz anders in Erinnerung, nicht so düster und trist. Damals hat Gelächter die Räume erfüllt, erzählende Stimmen, die sich austauschten. Stattdessen herrscht nun eine ohrenbetäubende Stille, sodass mir meine eigenen Schritte wie tonnenschwere Last auf dem zerbrechlichen Boden vorkommen.

Auf dem Tisch im Wohnzimmer steht eine einsame Kerze. Sie spendet gerade genug Licht, um das Foto zu beleuchten. Sofort erkenne ich, dass es sich dabei um meine beste Freundin handelt. Wir kennen uns schon seit Ewigkeiten, sind gemeinsam aufgewachsen und haben alles Mögliche durchgestanden. Ihr Lächeln, das Strahlen in ihren grünen Augen, das lockige Haar – nichts von alldem hat sich über die Jahre hinweg verändert. Sie wiederzusehen, wenn auch in Form eines eingerahmten Bildes, treibt mir die Tränen in die Augen. Meine Kehle ist wie zugeschnürt und ich verspüre den Drang, hemmungslos zu weinen. Ein erstickter Laut entkommt mir leise. 

Unweigerlich erinnere ich mich an den Satz, den sie als Motto anerkannt hatte. Der Sinn hinter dem Leben ist das Schicksal.

„Das was geschehen ist", fängt meine Mutter in sichtlich betrübter Stimmung an, „tut uns wirklich sehr leid." 

Mrs. Smith nickt und sieht sie dankbar an, zwingt sich dazu, tapfer zu lächeln. Die ungeweinten Tränen, die im Kerzenschein in ihren Augenwinkeln glitzern, verraten sie. In diesem Moment bin ich froh, nicht sprechen zu können, denn nie bin ich mir hilfloser vorgekommen. Beruhigend drückt meine Mutter ihre Hand und gibt ihr die nötige Zeit, sich wieder zu sammeln.

„Genug Trübsal geblasen." Ihr Mann kommt dazu und legt ihr einen Arm um die Schultern. Bereitwillig lehnt sich Mrs. Smith an ihn. Er nickt uns allen freundlich und gleichzeitig ernst zu.

„Lescadia, Robert. Estella."

Synchron mit meinen Eltern nicke ich zurück und wische mir verstohlen über die Wange.

„Lasst uns aufbrechen, bevor die Reservierung abgelaufen ist", sagt mein Vater schließlich und versucht unsicher, die Stimmung aufzuheitern. „Wir wollten doch den Abend genießen, richtig?"

Er scheitert kläglich an seinem Vorhaben und dennoch setzen alle eine entspannte Miene auf. Ich bemerke, dass es Mrs. Smith schwerfällt, das Foto ihrer Tochter aus den Augen zu lassen.

„Ich muss noch kurz die Kerze löschen", verkündet sie mit zittriger Stimme. „Uns soll ja das Haus nicht abfackeln." Ihr Lachen klingt erzwungen in meinen Ohren und ich befürchte, jeden Moment in Schluchzen zu verfallen. Langsam läuft sie auf den Tisch zu und murmelt einige unverständliche Worte. Mit bebender Unterlippe blinzele ich aufsteigende Tränen weg, versuche den Kloß in meinem Hals loszuwerden. Ein letztes Mal sehe ich auf das lachende Gesicht meiner vergangenen Freundin, bevor das Kerzenlicht erlischt und der Raum in absolute Dunkelheit getaucht wird.

Zu Fuß brauchen wir nicht lange, um zum Restaurant zu gelangen, das die Erwachsenen für diesen Abend ausgewählt haben. Es ist nicht wirklich ein nobles Gebäude, eines, das nach hohen Preisen schreit. Die Lampen sind kalt, das Tageslicht nimmt ihnen die Arbeit ab. Es macht einen einladenden Eindruck. Viele Menschen passieren da sRestaurant, einige laufen in Richtung des River Cams weiter und andere betreten es unter munterer Begleitung.

„Dann wollen wir mal." Mein Vater schenkt mir ein ermutigendes Lächeln und legt mir für einen Moment die Hand auf die Schulter, um sich daraufhin wieder zu unseren Nachbarn zu gesellen. Das Ehepaar ist ruhig. Viel ruhiger, als ich es gewohnt bin, und ihr Verhalten jagt mir eine undefinierbare Angst ein.

Kaum haben wir das Restaurant betreten, umhüllt mich sofort eine Duftwolke aus exotischen Gewürzen und ein angehauchter Geruch nach Alkohol. Helle Strahler verzieren die Decke, eine Bar ist zu sehen. Viele Gäste haben bereits Platz genommen und unterhalten sich ausgelassen. Die Teller vor ihnen sind mit farbenfrohen Lebensmitteln beladen. Das Klappern von Geschirr erreicht mich nebst Gelächter und zugerufene Anweisungen, wodurch die Einsamkeit in mir langsam verebbt.

Ich hoffe, Mrs. Smith geht es genauso.

Ein Kellner kommt auf uns zu, mit einem überfüllten Tablett und einer schwarzen Fliege an seinem sauberen Hemdkragen ausgestattet. Er fragt uns nach unserer Reservierung, bevor er uns anschließend zu einem der hinteren Tische zu geleiten und unsere Getränkebestellung entgegenzunehmen.

„Stella, was möchtest du gern?", werde ich von meiner Muttergefragt, nachdem sie alle ihre Wünsche geäußert haben. Statt dem jungen Kellner eine Antwort zu geben, der mich sowohl erwartungsvoll als auch etwas atemlos ansieht, schlage ich mein Notizbuch auf und fange an zu schreiben.

„Einfach nur Apfelschorle, bitte."

Meine Mutter nickt verstehend und wiederholt meine Bestellung, worauf der Kellner sichtlich verwirrt dreinschaut. Glücklicherweise fragt er nicht weiter nach, sondern macht sich nickend eine Notiz und verschwindet. Mit einem leisen Seufzen mache ich es mir auf dem gepolsterten Sitz bequem und lausche den Gesprächen der Erwachsenen.

„Wo ist eigentlich Devran?", erkundigt sich mein Vater und neugierig spitze ich die Ohren. „Kommt er heute nicht?"

Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich ihm auch schon eine Weile nicht mehr begegnet. Vielleicht nimmt er sich bewusst eine Auszeit?

„Nein, er wollte nicht, und wir haben ihn auch nicht dazu genötigt. Er macht zur Zeit genug durch." Müde fährt sich Mr. Smith übers Gesicht und seine Frau presst die Lippen resigniert aufeinander. Mein Vater merkt wohl, dass er das falsche Thema angeschnitten hat, und schweigt schuldbewusst, während er seine Finger knetet.

Just in diesem Moment kommt der Kellner von vorhin wieder und ich bemerke, dass ich nicht die einzige bin, die erleichtert aufatmet. Die Stimmung drohte in ein neues Loch zu fallen und ich bin froh, nicht daran erstickt zu sein. Dankend sehe ich den jungen Mann an und schreibe meine Bestellung als weiteren Kommentar auf. Er zuckt nicht länger mit der Wimper.

Der Rest des Abendessens verläuft ruhig und nicht ganz nach der ursprünglichen Planung. Jeder scheint in seine eigenen Gedanken vertieft zu sein und ich fühle mich immer unwohler. Um mich herum lachen die anderen Gäste, amüsieren und unterhalten sich. Ab und zu glaube ich, den Geruch von Regen wahrzunehmen und das Lachen meiner besten Freundin zu hören. Es macht mich verrückt. Kurzerhand lege ich das Besteck klappernd ab, kritzele etwas in mein Heft und tippe meine Mutter an der Schulter an.

„Ich muss mal auf die Toilette."

Mit einem Nicken und einem besorgten Blick lässt sie mich gehen. Entschuldigend lächele ich den Erwachsenen zu, die mich fragend ansehen, ehe ich mich erhebe und der seltsam angespannten Atmosphäre entfliehe.

Kleine, aufgehängte Wegweiser erleichtern mir meine Suche und bewahren mich davor, einen der gehetzten Kellner anzuhalten. Ich schließe mich in eine der Kabinen ein, nachdem ich festgestellt habe, dass der Raum vollkommen leer ist, und lasse mich zu Boden fallen. Mit geschlossenen Augen lehne ich den Kopf gegen die Wand, ziehe die Knie an und versuche, meinen Gedankenchaos zu sortieren. Manchmal weiß ich die Stille zu genießen, denn sie ist seit einer Weile mein stetiger Begleiter. In anderen Situationen wiederum bringt sie mich schier um den Verstand. So wie gerade.

Das leise Surren der Belüftung ist zu hören, eine Deckenlampe flackert unregelmäßig und wirft helle Schatten auf mich. Die lärmenden Gesprächsfetzen der Gäste werden ausgesperrt und erreichen mich nur noch gedämpft. Einige Minuten lang bleibe ich sitzen und verdränge die aufkeimenden Erinnerungen in den hintersten Winkel meines Gehirns. Dann rappele ich mich wieder auf.

Die vielen Spiegel werfen mir das Abbild meiner Selbst entgegen. Ich sehe das schulterlange Haar, die trüben, blauen Augen und die vereinzelten Sommersprossen auf meiner Nase. Aber egal wie lange ich suche oder wie genau ich hinsehe, ich finde mich selbst nicht mehr. Irgendwo verloren in der Vergangenheit liegt das lebensfrohe Ich, das stets ein Lächeln auf den Lippen trägt.

Auf einmal höre ich leise Schritte, die sich mir nähern. Neugierig drehe ich mich um und spähe zur Tür. Es ist niemand zu sehen. Stirnrunzelnd schüttele ich den Kopf und wende mich wieder ab. Ein lautloser Schrei bricht aus meiner Kehle, als ich den Blick hebe.

Eine schwarze Kapuze lugt über meine Schulter, verschwommen und gestochen scharf zugleich. Regungslos steht ein Schatten hinter mir und zieht die Lippen zu einem spöttischen Grinsen. Abrupt reiße ich die Augen weit auf und und spüre deutlich, wie mein Puls in die Höhe schießt. Das Blut rauscht mir in den Ohren und übertönt alle anderen Geräusche, während sich meine Finger um den Waschbeckenrand verkrampfen. Ein kühler Windhauch streift meinen Nacken, der die Härchen zum aufstellen bringt.

Im nächsten Wimpernschlag ist der Schatten verschwunden.

Wie angewurzelt bleibe ich einige Sekunden stehen, bevor ich meine zittrigen Hände langsam löse. Vorsichtig drehe ich mich um und lasse den Blick suchend schweifen. Der hell beleuchtete Raum sieht aus, als hätte es die fremdartige Erscheinung nie gegeben.

Sei nicht albern, beruhige ich mich selbst und atme tief durch. Ich kann die aufkeimende Panik nicht gänzlich vertreiben. Gespenster gibt es nicht.

Hastig schüttele ich mit dem Kopf, so heftig diesmal, dass mir die Strähnen ins Gesicht peitschen, die im Laufe des Nachmittags aus meiner Frisur gefallen sind. Mit einem kaum vernehmbaren Quietschen drehe ich den Wasserhahn auf und schöpfe die kühle Flüssigkeit mit meinen Händen, um sie mir anschließend ins Gesicht zu klatschen. Ich sollte besser wieder von hier verschwinden.

Gerade wollte ich meiner eigenen Anordnung nachgehen, als die Tür plötzlich aufschwingt. Prompt verzehnfacht sich die Lautstärke und ich zucke erschrocken zusammen. Zwei Frauen stehen tratschend an der Schwelle, nicht sicher, ob sie ein- oder austreten sollen. Ich drehe den Wasserfluss ab, um mich an ihnen vorbei aus der Damentoilette zu drücken, als mich ein Satz innehalten lässt.

„Hast du die Zeitung schon gelesen? Gestern Nacht soll sich ein Mädchen das Leben genommen haben."

Regungslos starre ich mein Spiegelbild an. Etwas streift an meinen nackten Beinen entlang. Plötzlich scheint sich das Wasser, das nicht länger durch meine Finger rinnt, wie dickflüssiges Blut anzufühlen. Tropfend perlt es von meiner Hand, fährt der Rundung des Beckens entlang. Tief durchatmend unterdrücke ich die auflehnenden Bilder, unter die sich das Schattenbild gemischt hat, und greife konzentriert nach dem Seifenspender. Unterdessen verfolge ich die Unterhaltung der beiden Frauen, die sich langsam in meine Richtung bewegen, obwohl ich den Gedanken, bald verrückt werden zu müssen, nicht loswerden kann.

„Ja, habe ich", erzählt die andere gerade und fährt sich mit einer Hand durch die blauen Haare. „Aber ich vermute, dass es eher Mord war. Ich meine, warum sollte sich ein junges Mädchen so entstellen, wenn es sterben will?"

„Meinst du?", zweifelt die Frau an, die eine Minitasche gegen ihre überquellende Brust presst. „Davon stand nichts in der Zeitung ... vielleicht sind das auch nur Gerüchte?"

„Eine Freundin von mir war gerade in der Straße, als die Polizei und der Krankenwagen eingetroffen sind. Sie meinte, das Kind wäre voller Blut gewesen und ihm hätten die Augäpfel gefehlt."

Fest beiße ich mir auf die Unterlippe und kämpfe gegen den aufkommenden Würgereiz an, der nicht nur durch die Parfumwolke der beiden entstanden ist. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen und ich beginne leicht fröstelnd, den Schaum abzuwaschen.

„O Gott", äußert sich die rundlichere Dame betroffen, bevor beide die Türen ihrer Kabinen klickend abschließen. Kaum sind sie außer Sicht, halte ich mich mit beiden Händen am Waschbeckenrand fest und versuche, die sich überschlagenden Ereignisse zu verarbeiten. Meine Gedanken fahren Karussell und mir wird beinahe schwindelig. Imaginäre Vorstellungen tauchen in meinem Kopf auf, von aufbrechenden Erinnerungen begleitet. Fest schließe ich die Augenund zwinge mich selbst zur Ruhe. Das eilende Rauschen des Wasser im Hintergrund bewirkt das Gegenteil.

Es wird schon nichts schlimmes passiert sein, denke ich unsicher und greife zum Wasserhahn. Gerüchte sind meistens nicht wahr.

Ich schüttele leicht den Kopf, um meine paranoiden Gedanken zu vertreiben, und steuere auf die Tür zu. Draußen schlägt mir der Lärm in seiner ganzen Lautstärke entgegen, lullt mich ein in Ausgelassenheit. Mit einem mulmigen Gefühl im Magen gehe ich an unseren Tisch zurück und setze mich vorbildlich hin, um das Abendessen mit einem wackeligen Lächeln im Gesicht weiterzuführen.

Die Dunkelheit erschlägt mich nahezu, obwohl ich das Haus erst einige Stunden zuvor betreten habe. Diesmal brennt keine Kerze. Heute Abend scheint noch ein Basketballspiel zu laufen und mein Vater hat beschlossen, sich diesen mit Mr. Smith anzuschauen. Was meine Mutter derweil vorhat, weiß ich nicht einzuschätzen.

Der vertraute Geruch nach gedämpften Blumenparfum und Zitronengras schlägt mir gepaart mit einer kleinen Staubwolke entgegen, als ich mich auf der Couch niederlasse. Im finsteren Zimmer fühle ich mich eingeengt. Alles Licht scheint verschluckt zu sein und ich erkenne meine Eltern nur noch als abgehobene Schatten.

Die rauschende Stimme des Kommentators, der das Spiel mit seinen möglichst neutralen Bemerkungen begleitet, dröhnt aus den Lautsprechern. Die flackernden Bilder tanzen vor meinen Augen, das grelle Leuchten des Fernsehers blendet mich und ich kann kaum die Spieler erkennen, die in der Halle von einem Ende zum anderen rennen. Neben mir nehme ich den süßlichen Duft von Popcorn wahr und bereitwillig greife ich in den Glasbehälter, den mir mein Vater großzügigerweise anbietet. Neben dem harten Aufschlagen des Balls auf dem Hallenboden höre ich das Fluchen von ihm und unserem Nachbarn.

Mit der Zeit stört mich das unüberhörbare Kreischen aus dem Bildschirm, meine Augen beginnen vor Anstrengung zu tränen. Entschlossen tippe ich meinen Vater an und bedeute ihm, dass ich nach oben gehen werde. Ohne eine Zustimmung erhebe ich mich und steuere die schwach belichtete Treppe an. Vermutlich ist er sowieso zu sehr damit beschäftigt, dem Ausruf des Kommentators zuzustimmen, um über mein Bescheid geben nachzudenken. Im Toben der Zuschauer aus dem Fernsehen gehen meine dumpfen Schritte unter. Gemächlich besteige ich die Stufen und halte mich am hölzernen Geländer fest.

Ich fürchte mich davor, erneut Dinge zu sehen, die nicht existieren.

Vom Flur des zweiten Stockwerks scheint Licht auf mich herab. Ein Stechen macht sich hinter meiner Stirn bemerkbar, worauf ich die Augen kurz schließe. Als ich sie das nächste Mal aufschlage, haben sie sich an die warme Beleuchtung gewöhnt.

Aus einem Zimmer, das rechts von mir in einer düsteren Ecke liegt, dröhnt Musik. Der Beat wird durch die dunkle Tür gedämpft und trotzdem erkenne ich auf Anhieb, dass es ein Lied ist, das zu Devrans Lieblingen gehört. Fast augenblicklich empfinde ich Mitleid für den Jungen und die leise Ahnung von Trauer schleicht sich in mein Herz. Er muss sich sicherlich einsam fühlen.

Kurz überlege ich, in sein Zimmer zu gehen, um ihm Gesellschaft zu leisten. Dann denke ich daran, was ich bevorzugt hatte, als ich in ähnlicher Situation war, und entscheide mich letztendlich dagegen. Ausatmend gehe ich stattdessen in die entgegengesetzte Richtung und auf einen anderen Raum zu. Stille würde ihm wahrscheinlich besser tun.

Die Tür schreit förmlich nach verbotenem Zutritt, als ich davor stehe. Kleine Spinnweben verzieren die Ecken und geben ihr etwas mystisches. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann diese Seite der Etage das letzte Mal so verlassen aussah, und schlucke den Kloß hinunter, der sich in meinem Hals bildet. Tapfer blinzele ich und lege eine Hand auf die Türklinke, wobei ich überrascht feststelle, dass sie zittert. Es ist mir gar nicht aufgefallen.

Ich will es unterdrücken, rede mir ein, dass alles gut ist. Mir kann nichts passieren, das weiß ich. Und trotzdem schaffe ich es nicht, das Zittern zu kontrollieren oder das Zimmer meiner besten Freundin zu betreten. Vielleicht fürchte ich mich vor der Dunkelheit, die mich erwartet, vor den Klauen des Verlustes, denen ich nicht entkommen könnte, oder sogar vor mir selbst.

Ich kann es nicht genau sagen.

Tief hole ich Luft und schließe die Augen, während ich das kühle Metall so fest umfasse, dass die Knöchel meiner rechten Hand weiß hervortreten müssen. Quälend langsam drücke ich die Klinke hinunter und öffne die Tür mit einem krächzenden Quietschen. Vorsichtig öffne ich meine Augen nacheinander. Wider Erwarten sind die hellen Gardinen im Raum weit geöffnet, geben freien Blick auf den kleinen Balkon, worauf wir zu zweit oft bis in die längste Nacht geredet haben. Erinnerungen an Lachen und Scherze erreichen mein Bewusstsein. Ich sehe die Federn aus Kissen fliegen, die Tagesdecke zerknüllt auf dem Boden liegen und die bunten Fotos an den Wänden hängen, die Deliar bei jeder Gelegenheit gesammelt hat. An Stelle all dieser Details erwartet mich nebst einem braunen Umzugskarton, der in der Mitte des Raumes steht, gähnende Leere.

Fest presse ich die Lippen zusammen und blinzele erneut. Meine Schritte erklingen viel zu laut in meinen Ohren und jedes Mal, wenn das Echo die Wände emporklettert und sich mit voller Wucht gegen mich wirft, höre ich das Hupen der Autos, bevor ihr Körper gegen den Asphalt prallte und schließlich erschlafft war. Ich spüre den Regen auf meiner Haut, wenn ich die gläserne Tür öffne und den Wind hereinlasse. Er wäscht ihr Blut fort und hinterlässt eine unsichtbare Narbe, die mich für immer an diesen Tag binden wird.

Draußen bricht die Nacht bereits durch den Vorhang des Tages. Sterne malen helle Punkte auf die farblose Leinwand und verzieren den trostlosen Himmel mit einem imaginären Lächeln. Eine Brise umweht mein Haar und zerzaust meine inzwischen ruinierte Frisur. Tief inhaliere ich den Geruch nach Sommer und lehne mich gegen das Geländer. Auf dem Gehweg laufen ab und zu Menschen vorbei, einige allein, manche zu zweit und andere mit einer großen Gruppe, in der sie miteinander lachen. In unmittelbarer Ferne erkenne ich schemenhafte Gestalten, deren Silhouetten sich am River Cam lautlos bewegen.

Den Kopf voll Leere genieße ich die nächtliche Aussicht. Nacheinander gehen die Lichter an, die Menschen regen sich hinter den beleuchteten Fenstern und in der Nähe glaube ich sogar die flimmernden Bilder eines Fernsehers erkennen zu können. Ein letztes Mal atme ich tief durch, lasse den Wind durch mein rotes Kleid fahren. Ich weiß noch, dass es Deliars Lieblingsfarbe war, eine Farbe, die von speisendem Feuer und tiefgründiger Liebe erzählt. Mit einem Blick auf das Lichtermeer drehe ich mich wieder um und verschließe die Balkontür begleitet von einem leisen Klicken.

Mein Körper wirft einen Schatten auf den hellen Teppich, die Finsternis nagt bereits an diesem. Die Schritte werden von ihm gedämpft, als ich das verlassene Zimmer durchquere, und ich senke den Blick auf meine nackten Zehen. Eine kleine Spinne eilt an meinen Füßen vorbei und steuert eine der weißen Wände an. Der ganze Raum scheint Reinheit und Vergänglichkeit auszustrahlen.

Gerade als ich den Karton passiere und die Erinnerungen durch die Tür verlassen will, sticht mir die ordentliche Schrift meiner besten Freundin ins Auge. Verwundert trete ich an das schlichte, braune Quadrat heran, spüre unterdessen, wie die Hoffnung in mir wächst. Hoffnung darauf, dass sie mir etwas hinterlassen hat. Langsam gehe ich in die Hocke und streiche vorsichtig mit dem Finger über meinen Namen. In mir ringen verschiedenste Empfindungen, während ich den Deckel zögerlich hebe.

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