43 | Erster Arbeitstag

"Alex", flüsterte jemand immer und immer wieder, bis ich nörgelnd wach wurde. Langsam drehte ich meinen Kopf in die Richtung, aus der die bekannte Stimme kam und kniff meine Augen kurz zusammen, bevor ich sie müde öffnete.

Silas lag auf der Seite, stützte seinen Kopf auf seiner rechten Hand ab und beobachtete mich mit einem amüsierten Schmunzeln. Seine Muskeln zuckten an Arm und Brust, als er seine andere Hand hob und diese langsam auf meinen Kopf legte.

"Morgen, du Schlafmütze."

Er lehnte sich zu mir herunter und drückte seine Lippen auf meine Schläfe. In meinem Bauch kribbelte es vor Freude und ich realisierte, dass gestern kein Traum gewesen sein konnte.

"Konntest du nicht schlafen?"
"Nein", antwortete ich nuschelnd und versuchte dabei den Kopf zu schütteln. "Ist es schlimm, dass ich hier bin?"
"Nein, es ist nur überraschend. Hast du Kopfschmerzen?"
"Ein wenig."
"Okay, dann kannst du ja die Tablette nehmen, die ich dir gestern Abend noch gebracht habe."
"Ja, mach ich."
"Gut. Bereit für deinen ersten Arbeitstag?", fragte er dann plötzlich grinsend.
"Ja!", rief ich enthusiastisch und setzte mich schwungvoll auf, weshalb Silas lachen musste.
"Nicht so schnell, sonst wird dir noch schwindelig."
"Jaja", winkte ich dessen Aussage locker ab.
"Alexander", erwiderte er daraufhin in einem gekünstelt drohenden Ton. "Ich glaube, so weit sind wir noch nicht."
"W-was?", stammelte ich verunsichert und spürte, wie mir die Hitze wieder in mein Gesicht trat, als mir einfiel, was das Jaja eigentlich bedeutete.
"Eh ... Ich hab nichts gesagt!", meinte ich dann hastig, stieß die Decke von meinem warmen Körper und sprang aus dem Bett.
"Okay, das lasse ich nochmal gelten. Beim nächsten Mal aber nicht", sagte Silas schmunzelnd, wobei er warnend seinen Zeigefinger hob. Anschließend stieg er auch aus dem kuscheligen Bett aus und streckte sich ausgiebig. Seine Muskeln spannten sich währenddessen ungleichmäßig an Armen, Beinen und Oberkörper an. Dieser verrückte Typ hatte sich ernsthaft irgendwelche Hörner auf den Unterleib tätowieren lassen, die von einem Tierkopf stammten, der in seiner Boxershort verschwand. Sollte mir das vielleicht zu denken geben?

"Du kannst ja schon mal in's Bad gehen und ich bereite das Frühstück vor, so wie letztens, ja?" Silas kramte in seinem Kleiderschrank nach neuen Sachen, die er ordentlich am Ende seines Bettes platzierte.

"Ja, okay." Und dann rannte ich auch schon los, doch bevor ich in das Badezimmer ging, holte ich mir aus meinem Zimmer die neuen Sachen, die Silas mir vor einigen Tagen gekauft hatte und schluckte die Kopfschmerztablette mit etwas Wasser aus der Flasche.

Nachdem ich dann im Bad mit fast allem fertig war, klopfte es aus heiterem Himmel an der Tür. "Alex?"
Ich ging hin und öffnete ihm, er war immer noch halb nackt. War ihm zu warm oder kümmerte es ihn einfach nicht?

"Hey, Alex." Er schnipste vor meinem Gesicht mit seinen Fingern und holte mich somit zurück in das Hier und Jetzt. Ich starrte ihn die ganze Zeit an und bemerkte es nicht einmal. Am liebsten wäre ich gleich im Erdboden versunken.
"Scheiße", fluchte ich aus Versehen, entschuldigte mich aber gleich wieder ."Ja?"

Silas lachte deswegen leise, kriegte sich aber genauso schnell wieder ein. "Ach, alles gut. Ich wollte bloß fragen, ob ich Zähne putzen kann."

"Ja. Ja, kannst du", antwortete ich überrascht und trat zur Seite. "Ich muss das auch noch machen."
"Na dann können wir das ja zusammen tun."

Ich nickte leicht, nachdem ich über dessen Vorschlag nachgedacht hatte. Er hätte mir vermutlich sowieso keine Wahl gelassen.

Silas musste andauernd grinsen, als unsere Münder voll mit Zahnpasta waren. Es war für mich unerklärlich, was er daran so witzig finden konnte. Ich kam mir eher total dämlich vor und wollte so schnell wie möglich fertig werden.

Nach einer weiteren quälend langen Minute der immer gleich bleibenden Armbewegung, spülte ich meinen Mund mit klarem Wasser aus und verließ mit Silas das Badezimmer.

Es herrschte eine unangenehme Stille, als wir an dem beeindruckend gedeckten Tisch saßen und unsere Brötchen aßen. Mein Blick huschte immer mal wieder kurz zu der Stelle in den Flur, wo ich vor einigen Stunden noch heulend saß, nachdem ich versucht hatte, mich an Silas heranzumachen. Das würde mich wohl bis an mein Lebensende verfolgen, so viel stand fest.

"Ich gebe dir für die Busfahrt Geld, okay?", fing er wie aus dem Nichts an, als er schon nach wenigen Minuten mit seinem Frühstück fertig war. "Und nein, du musst mir die paar Dollar von letztens nicht zurückzahlen, als du das erste Mal abgehauen bist. Von dem ich nicht mal weiß, wo du überhaupt warst ..."

"Tu-", setzte ich an, konnte den Satz aber nicht beenden, da mein Gegenüber mir ins Wort fiel.
"Lass gut sein, Alex." Er machte eine wegwerfende Handbewegung, ehe er aufstand und aus dem Flur sein Portmonee holte, dem er eine bestimmte Geldsumme entnahm.
"Du musst außerdem dein Handy mitnehmen, falls mal etwas passieren sollte. Ich habe die Nummer von deinem Therapeuten mit eingespeichert, damit du ihn kontaktieren kannst, wegen der ganzen Termine und sowas."

Ich nickte leicht und bedankte mich wie immer, wenn er etwas tat, wonach ich nicht gebeten hatte. Dann drückte er mir die Dollar in die Hand und brachte mir aus dem Wohnzimmer mein Handy, welches wir dort liegen gelassen hatten, als wir es für mich einstellten.

"Na dann. Viel Spaß, Kleiner." Er grinste und zeigte dabei eine perfekte Reihe weißer Zähne, auf die jeder hätte neidisch werden können.
"Danke, Silas", entgegnete ich und betonte dabei dessen Namen ganz besonders ausdrucksstark. Ein Wink mit dem Zaunpfahl, weil er mich immer noch so nannte, wie er es eben tat. Wenn er für eine Weile so weitermachte, dann würde es mir wohl irgendwann gefallen und das wollte ich um jeden Preis verhindern. Schuld daran war mein sturer Kopf und mein Wille, auch Größe und Präsenz zu beweisen. Doch diesen Kampf würde ich wahrscheinlich immer verlieren, wenn Silas' bestimmende Art mit ins Spiel kam.

"Erde an Alexander Parker, sind Sie noch da?", holte mich Silas zurück in die Realität, sodass ich verwundert zu ihm aufschaute. Auf seinem Gesicht lag ein amüsierter Ausdruck, denn seine Augen zeigten kleine Fältchen auf, die er immer bekam, wenn er sich über etwas freute.
"Was? Ja, na klar", sagte ich und schob meinen Stuhl zurück, sodass ich schell aufstehen konnte. Dabei stieß ich mich aber trotzdem am Tisch, weil ich manchmal wirklich die Tollpatschigkeit in Person war.

Silas leises, kehliges Lachen ließ mich meinen Schmerz vergessen und anfangen zu grinsen.
"Oh, Gott. Ich hoffe, dir passiert sowas nicht auf Arbeit!"
"Wird es schon nicht", versicherte ich ihm, bevor ich in den Flur ging und meine Jacke anzog. Moment mal ... meine Jacke?!

Ein verwirrter Blick zu Silas verriet meine Gedanken, denn dieser setzte schon zum Erklären an.
"Hab sie mitgenommen, als ich die Bar verlassen habe." Er zuckte die Achseln. "Mir fällt eben auf, wann du Kleidung trägst und wann nicht", gab er zwinkernd von sich, weswegen ich errötete.
"Oh."

"Jap", meinte er, als er mit einem schwarzen Rucksack um die Ecke kam und mir diesen hinhielt. "Ich hab dir meine berühmten Sandwiches gemacht und eine Flasche Wasser reingelegt. Nicht, dass du mir auf Arbeit noch wegen Kreislaufproblemen umkippst. Und jetzt los, bevor du noch zu spät kommst", drängte er mich verschmitzt grinsend, weil er genau wusste, was er zuvor von sich gab und was diese Dinge mit mir anstellten.

"Danke, Silas", lächelte ich, als ich ihm den Rucksack abnahm. "Bis nachher."
Ich kniete mich hin, um meine Schuhe anzuziehen. Als das erledigt war, verließ ich das Haus und ging zur Bushaltestelle, an der ich schon einmal war. Dort zündete ich mir eine meiner Zigaretten an und rauchte diese, so lange wie ich auf den Bus wartete.

* * *

Bei dem Buchladen angekommen, wurde ich sofort mit einem warmen Lächeln empfangen.
"Mr. Parker, schön, dass Sie hier sind", sagte Mr. Reed ein wenig zu fröhlich und ich glaubte, dass er nicht damit gerechnet hatte, mich hier wirklich anzutreffen. Übel nahm ich es ihm aber nicht, weil ich mir den Grund für sein Denken selbst ausmalen konnte.

Der Tag verlief gut, auch wenn ich erst einmal nur Bücher in Regale einsortieren und Papierkram ordnen sollte. Nach ein paar Stunden hatte ich das Büro meines Chefs so auf Vordermann gebracht, dass man fremde Menschen wieder hereinbeten konnte. Es lagen keine Bücher mehr auf dem Boden herum, die eine perfekte Stolperfalle waren, und man musste keinen Staub mehr einatmen, der einen jedes Mal husten ließ. Am Nachmittag, kurz bevor ich meine Arbeit beenden durfte, kamen verzweifelte Kunden, die ein bestimmtes Buch suchten, aber schon in mehreren Läden waren. Unser Laden war also ihre letzte Hoffnung und ich musste mir mein Grinsen verkneifen, als ich ihnen das Buch aus einem der von mir neu geordneten und beschrifteten Regale, holte. Sie bedankten sich öfter bei mir; die eine Frau, welche vermutlich die beste Freundin der anderen war, fiel mir sogar um den Hals, weshalb ich wegen dieser unerwarteten Geste zusammenzuckte. Ich beruhigte erst sie und dann mich selbst, nachdem ich mich von dem zierlichen Körper der Dame gelöst habe. Sie liefen mit einem breiten Lächeln auf den Lippen zur Kasse, die Mr. Reed übernahm. Während er das Geld einsteckte, nickte er mir dankbar zu und machte anschließend eine Kopfbewegung Richtung Uhr. Damit wollte er mir sagen, dass für mich Feierabend war und ich gehen konnte. Also holte ich aus dem Büro meines Chefs meine Jacke, die ich anzog und meinen Rucksack, den ich aufsetzte. Ich verabschiedete mich von Mr. Reed, der sich nochmal bei mir bedankte. Doch das schüttelte ich einfach ab; er brauchte mir nicht danken, sondern ich.

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