40 | Feindseligkeit

Silas und ich zogen unsere Jacken aus, damit wir uns besser bewegen konnten und legten sie dann über einen Barhocker. Nun sah er sogar noch besser aus, wie er um das Billard herumschlenderte, sich zwei dieser Stöcke nahm und ein Dreieck, das er auf dem Billardtisch platzierte.
"Das sind Queues", erklärte er, als er mir einen der Stöcke reichte. Queue, alles klar.

"Am besten ist es, wenn man eine spezielle Kreide hat, mit der man die Spitze des Queues anspitzen kann. So können die Kugeln schlechter abrutschen und die Zielgenauigkeit beim Anstoß ist dafür umso genauer." Er reichte mir eine solche Kreide. Sie war grün, wie ein Würfel und besaß außerdem eine kleine Kuhle. Ich nahm an, dass dort die Spitze des Queues hineinsollte, weshalb ich die Kreide dort aufsetzte und dann zu drehen begann. Nach einigen Sekunden hörte ich auf und gab sie Silas zurück, der das gleiche bei sich tat. Dann legte er den Queue erstmal zur Seite und holte die Kugeln hervor, die er in das Dreieck legte. Dabei viel mir auf, dass er die Schwarze in die Mitte des Dreiecks legte und eine Weiße gegenüber davon.

"Man stößt immer die weiße Kugel an, mit der man dann die anderen Kugeln in die Löcher befördert. Da gibt es auch nochmal bestimmte Techniken, wie du die bunten Kugeln anspielen kannst, damit sie zum Beispiel nicht genau gerade rollen, sondern ein wenig nach links oder nach rechts. Je nachdem, wo sich halt das Loch befindet."

"Okay", meinte ich mit einem Stirnrunzeln. "Und warum sind da unterschiedliche Kugeln?"

"Ach ja. Gut erkannt", sagte Silas nebenbei, als er das schwarze Dreieck wegnahm und unter das Billard legte, nachdem er die Kugeln in die richtige Position gebracht hatte.
"Du hast entweder die Vollen oder die Halben. Kommt darauf an, welche bei deinem oder meinem Stoß zuerst in das Loch fallen. Also wenn ich jetzt eine Volle einloche, dann hast du die Halben, okay?" Silas warf mir einem prüfenden Blick zu, den ich kurz erwiderte, ehe ich wieder auf das Billard hinabsah.
"Ja, alles verstanden."
"Super", lächelte er leicht. "Willst du anfangen?"

Ich schüttelte den Kopf, da ich keine Ahnung hatte, wie man den Queue überhaupt halten sollte.
"Nein, mach du zuerst."
"Okay, wie du willst." Er zwinkerte und lehnte sich herunter. Anschließend legte er den vorderen Teil des Queues auf seiner Hand ab, zwischen Daumen und Zeigefinger. Die anderen Finger berührten dabei den dunkelgrünen Untergrund und seine zweite Hand befand sich weiter hinten, fast ganz am Ende des Queues. Er bewegte ihn mehrmals vor und zurück, bis er schließlich die weiße Kugel anstieß. Das Geräusch ließ mich zusammenzucken und für den Bruchteil einer Sekunde meine Augen schließen. Und dann hörte ich, wie sie mit den anderen Kugeln kollidierte, sodass sie sich ungleichmäßig verteilten.

Silas schaute gespannt zu und warf seine Arme in die Luft, sobald eine Kugel in die obere Ecke fiel.
"Die Vollen! Yeah! Du hast die Halben, Alex", teilte er mir fröhlich mit, während er sich zu mir wandte.
"Aber ich bin nochmal, bis ich keine mehr von mir einlochen kann. Dann bist du."

Ich nickte leicht und schaute dann dabei zu, wie er es nochmal versuchte und auch schaffte. Doch bei der dritten Kugel scheiterte es dann, weshalb er sich mit einem Schmollmund zu mir herumdrehte.
"Naw, nicht traurig sein", sagte ich amüsiert darüber und begab mich dann in Position, als ich mir die Lage der weißen und halben Kugeln angesehen hatte.
"Bin ich nicht", grinste er zurück, während er mich genau beobachtete.
Bloß nicht wieder nervös werden.

Doch aufgeregt wie ich nun mal war, zitterte ich plötzlich so stark, dass es sogar einem Blinden aufgefallen wäre. So konnte ich doch keine einzige Kugel treffen, dachte ich verzweifelt.

Doch meine kleine Sorge wegen des Billardspiels wurde verdrängt, als ich Silas hinter mir spürte. Er beugte sich hinab, sodass der Stoff seines Hemdes meinen Rücken streifte und berührte dann mit seiner großen Hand meine eigene, die immer noch zitternd den Queue hielt. Mir stockte der Atem und all meine Sicherungen schienen durchzubrennen. Was zur Hölle machte er da bitte?

Mein Zittern verstärkte sich durch den Körperkontakt nur noch mehr und wollte sich auch nicht vermindern lassen.
"Ganz langsam, Alex", sprach er mit seiner rauen Stimme an meinem Ohr, sodass sich meine Nackenhaare aufstellten. Nicht gerade hilfreich!

Ich versuchte es zu ignorieren, war aber völlig durch den Wind und stellte mich wie der erste Mensch an, als ich zum Stoß ansetzte. Frustriert seufzend legte ich den Queue weg, richtete mich auf und wurde plötzlich von Silas weggedrängt, weshalb ich den Körperkontakt zu ihm verlor.

Nachdem ich mich zu der unbekannten Person gedreht hatte, die mich so unsanft berührte, erkannte ich, dass es nicht nur einer, sondern gleich drei fremde Männer und zwei von Silas' angeblichen Freunden waren, die uns missbilligende Blicke zuwarfen.

"Wir haben uns das jetzt eine Weile mit angesehen und haben echt keinen Bock mehr! Schafft eure schwulen Ärsche von hier weg!", bellte ein großer Kerl mit schwarzer Lederjacke, der sich vor mir aufbaute.

Was? "Ich-", setzte ich zum Erklären kann, wurde aber barsch unterbrochen.

"Jaja, deine Ausreden kannst du dir sparen. Verpiss dich jetzt, du Schwuchtel! Einfach nur ekelhaft." Er schüttelte sich absichtlich und kniff dabei seine Augen zusammen, um mir und den anderen zu verdeutlichen, dass er eine ernsthafte Abneigung besaß.

"Ich wette, er besorgt es dir ordentlich von hinten!", rief ein anderer hinein, dessen dreckige Lache mich erschaudern ließ. Er zeigte dabei auf Silas, der genauso geschockt dreinblickte, wie ich.

Kalter Schweiß bildete sich vor Nervosität und Angst auf meiner Stirn und in meinem Nacken. Ich sah keinen Sinn darin, mit diesen Menschen zu diskutieren. Für welchen Preis denn auch? Dass ich am Ende mit einer gebrochenen Nase davonkam?

Kopfschüttelnd trat ich einen Schritt zurück, um einen gewissen Sicherheitsabstand zwischen diesem Bullen von einem Mann und mir herzustellen.

Dabei bemerkte ich noch den dritten Mann, der seinen angewiderten Blick über Silas und mich gleiten ließ, bis es mir einfach zu viel wurde. Ich musste von hier weg - alleine. Und das so schnell wie möglich.

Fest entschlossen, von hier zu fliehen, stürmte ich an dem Mann vorbei und riskierte dabei, eine aufs Licht zu bekommen, was dann aber doch nicht der Fall war. Stattdessen wurde ich von jemand anderen festgehalten und wollte bereits zum Schlag ausholen, um mich zu verteidigen.

Es war aber Silas, der mich anfasste und für einen Moment seine Augen schloss, da er wirklich mit meiner Faust in seinem Gesicht gerechnet hatte. Jedoch ließ ich sie wieder sinken und schluckte schwer. Nein, ihm würde ich nie wieder wehtun.

"W-was? Lass m-mich", stotterte ich überfordert, während ich ihn aufgelöst ansah.
"Bleib hier, Alex." Er lehnte sich zu mir hinunter und passte die Lautstärke seiner Stimme der Situation an, sodass nur ich sie hören konnte. "Wir lassen uns nicht von solchen Idioten verscheuchen, ja?"
"Nein! Selbst deine Freunde haben mich angesehen, als wäre ich irgendein Monster!" Meine Augen brannten und das lag nicht daran, dass ich in letzter Zeit zu wenig Schlaf bekam; sondern an den Tränen, die sich mittlerweile ihren Weg über meine Wangen bahnten. Ich heulte wie ein kleiner Junge, von dem ich dachte, dass ich dieser nie wieder sein würde. Doch ich lag falsch: Ich hörte nie auf, so zu sein.
"Das ist doch Unsinn, Alexander!", beharrte Silas weiter. "Ich bin mir sicher, dass sie es nicht so meinten."
"Nein, lass mich!", schrie ich und riss mich dabei - ohne weiter darauf einzugehen - ungeschickt von ihm los, sodass ich einige Schritte Richtung Ausgang stolperte und mich an einem Stuhl festhalten musste.

Silas hob unschuldig seine Hände in die Luft und schaute mich wieder mit diesem Blick an, den ich zutiefst verabscheute. Verdammtes Mitleid und Besorgnis. Und vielleicht, aber nur vielleicht, erkannte man darin auch etwas Verletztes.

Merkte er denn nicht, dass er sich mit den falschen Menschen abgab? Und was sollte die Aktion beim Billard überhaupt? Ich wusste nicht mehr, was ich denken sollte. Doch das war jetzt sowieso egal. Vielleicht hatten sie eh recht, allesamt. Und vielleicht sollte ich dorthin gehen, wo ich nun mal hingehörte. Und ich hatte auch schon eine Ahnung, wo das sein könnte.

Nachdem ich aus der Bar gestürzt war, stellte ich sicher, dass Silas mir nicht folgen würde. Wenn er das überhaupt tat; es war sowieso egal.

Ich machte mich schließlich auf den Weg, überquerte dabei die Straßenseite und lief einfach einige Blocks den Bürgersteig entlang, bis ich an einer Ampel Halt machen musste, um auf grünes Licht zu warten. Als es mir aber zu lange dauerte, ging ich bei Rot, da sowieso kein Auto in Sicht war. Und wenn eines gekommen wäre, dann ginge mir das auch am Arsch vorbei. Es war schließlich egal. Ich war egal.

Mir wurde mit der Zeit immer kälter, da ich meine Jacke in der Bar liegen gelassen hatte, doch ich dachte nicht daran, etwas dagegen zu tun. Stattdessen kramte ich mit zitternden Händen ein Feuerzeug und meine Zigaretten aus der Hosentasche, die ich mir mitgenommen hatte, als wir noch bei Silas waren.

Ich schob mir eine der Zigaretten zwischen die Lippen und zündete sie dann an, während ich gleichzeitig mehrere Male an ihr sog und meine Hände schützend vor die Flamme hielt, damit sie von der leichten Brise nicht gelöscht werden würde.

Beim ersten kräftigen Zug, musste ich die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger von meinem Mund nehmen und lautstark husten. Der Rauch wirbelte dabei in der Luft herum und löste sich erst nach einiger Zeit auf. Ich war es wohl einfach nicht mehr gewöhnt, dieses Gift einzuatmen. Doch ich brauchte es. Ich brauchte irgendetwas, an das ich mich klammern konnte. Etwas, das dieses schwarze Loch in meiner Brust füllen könnte:

Silas.

Ein Typ, der zu blind war, um zu sehen und sich einzugestehen, was alle anderen bereits wussten.

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