39 | Neue Bekanntschaften
Wir entschieden uns dazu, am späten Nachmittag loszugehen. Nachdem Silas seine Freunde benachrichtigt hatte, kleideten wir uns in unseren Zimmern ein. Er war aber schneller fertig als ich, weshalb er zu mir kam und mich grinsend betrachtete, als ich das weiße Hemd in meine Jeans steckte, welches ich noch von meinem Therapeuten besaß.
"Brauchen wir eine Krawatte oder sowas?"
"Nein, ist nicht nötig." Der Ältere schüttelte seinen Kopf, um seiner Aussage mehr Kraft zu verleihen.
"Wir werden wahrscheinlich nicht mal selbst so feierlich empfangen."
"Oh. Achso", murmelte ich teilnahmslos und fummelte nebenbei am Kragen meines Hemdes herum, bis er endlich perfekt umgeknickt war.
"Mach dir keine Sorgen. Es wird bestimmt alles gut", meinte Silas mit einem ermutigenden Zwinkern seines rechten Auges.
"Na komm. Du musst bestimmt noch ins Bad."
"Eh- warum?"
"Wegen deiner Haare und vielleicht etwas Deo", gab er schulterzuckend von sich und begleitete mich dann aus meinem Zimmer.
"Stimmt. Hätte ich fast vergessen."
Als ich für fünf Minuten in dem Bad verschwand, konnte ich dessen belustigten Blick auf mir spüren, was mich ebenso zum Schmunzeln brachte.
Ich stylte meine schwarzen Haare so gut es ging, doch manche Haarsträhnen wollten sich einfach nicht zu den anderen fügen, sodass sie in verschiedene Richtungen abstanden. Nach einigen Minuten gab ich schließlich seufzend auf und benutzte dann noch irgendein Deodorant von Silas und verließ danach das Badezimmer.
"Hey, los geht's. Das Taxi wartet schon", sagte Silas aufgeregt, als er im Flur sein ledernes Portmonee von der Kommode nahm und in seine Jeanstasche verschwinden ließ. Er zog sich anschließend eine Jacke an und reichte mir meine eigene, in die ich ebenfalls in einer flüssigen Bewegung schlüpfte.
Nachdem wir in das Taxi eingestiegen waren, spürte ich es wieder - diese angespannte Atmosphäre, sobald er zu mir herüberschaute. Gab es denn nichts interessanteres, was er hätte anstarren können?
Ein weiterer vorsichtiger Blick zu ihm, beantwortete meine Frage: Nein, gab es nicht.
Ich rutschte auf meinem Sitz unruhig hin und her, legte ein Bein auf das andere und fuhr mir durch die gerade eben noch gemachten Haare, welche mir sowieso völlig egal waren.
"Nervös?", fragte Silas grinsend, während er dazu noch mit seinen Augenbrauen wackelte. Was für ein Idiot!
"Nein", antwortete ich leise, auch wenn das nicht der Wahrheit entsprach. Natürlich war ich nervös, aber nicht wegen dem, was wir vorhatten oder wen wir gleich treffen würden, sondern wegen ihm.
"Und das soll ich dir glauben?" Nun klang er eine Spur ernster, doch es änderte trotzdem nichts daran, dass er mich anlächelte.
Ich hob zur Antwort aber nur meine Schultern an und ließ sie wieder fallen, weil ich nichts falsches sagen wollte, was mich am Ende noch verraten hätte.
"Hmh", hörte ich Silas nachdenklich, als er aufgab und sich von mir wegdrehte, um aus seinem Fenster zu schauen. Na endlich, kein Gestarre mehr. Weswegen er das überhaupt tat, wusste ich nicht, da es dafür keinen triftigen Grund gab. Es sei denn, ich hatte irgendwas im Gesicht! Automatisch hob ich meine Hand an, um meine Wangen und mein Kinn abzutasten, kam mir nach einer Weile aber ziemlich blöd vor. Bloß gut, dass mich hier kein anderer sehen konnte, außer der Taxifahrer, der wie einer dieser durchgeknallten Hippies aussah. Und natürlich Silas, aber der schien von den Straßenlaternen eh verdammt fasziniert. Grinsend wandte ich mich schließlich auch meiner Fensterseite zu, betrachtete die bunten Farben der verschiedenen Läden und ließ meinen Gedanken freien Lauf.
"Alex, komm! Wir sind da", meinte Silas, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen. "Schon?" Wie lange?
Ich blinzelte einige Male verträumt und schaffte es dann, mich abzuschnallen und aus dem Wagen zu hüpfen. Silas gab dem Taxifahrer sein Geld und folgte mir dann zum Bürgersteig. Er schenkte mir sein typisches breites Grinsen und nickte.
"Ja, natürlich. Du warst ziemlich in Gedanken versunken."
"Oh", stieß ich kurz aus und legte meine Stirn anschließend in Falten.
"Na komm", sprach Silas sanft und legte eine Hand an mein Schulterblatt, was mich schlucken ließ.
"J-ja", stotterte ich, überfordert mit dieser plötzlich unerwarteten Berührung.
Ich ließ meinen Blick von einer Seite des Bürgersteiges zur anderen wandern und erkannte dabei nichts wieder. Denn auch wenn ich vielleicht letztes Mal schon hier vorbeigekommen wäre, konnte ich mich nicht daran erinnern. Dafür lebte ich hier noch nicht lange genug.
Wir traten schließlich in Jule's Bar ein, deren Schriftzug in einem knalligen Pink leuchtete. Doch drinnen sah es ganz anders aus, denn das Erste mit dem man konfrontiert wurde, war der Rauch der Zigaretten, der einem ins Gesicht peitschte. Ziemlich ätzend für einen Nichtraucher, aber das war ich ja zum Glück nicht. Im Gegensatz zu Silas, der seinen Kopf zur Seite drehte und mehrmals kräftig husten musste.
Gedimmtes Licht sorgte für eine gemütliche Stimmung, im Hintergrund lief irgendein Song aus den 70ern oder 80ern. Manche schauten Nachrichten, die die Barkeeperin leise liefen ließ und andere spielten ... Billard.
"Alles ok?", fragte ich Silas, nachdem ich mich gründlich ungesehen hatte.
"Ja, klar", erwiderte er bloß und winkte mich dann in eine bestimmte Richtung, in die er ging.
Wir näherten uns einem Tisch mit vier Personen, drei Männer und eine blonde Frau. Sie unterhielten sich lebhaft und lachten dabei. Doch einer der Kerle hatte bereits mehrere leere Gläser vor sich stehen und ein nächstes in der Hand, auf das er betrübt niederschaute. Als er jedoch Silas erblickte, erhellten sich dessen Gesichtszüge und es schien, als setzte er sich ein völlig neues Gesicht auf. Perfekt, noch jemand der sich hinter einer Fassade versteckte und niemand merkte es. Nicht einmal seine Freunde.
"Uhhh, was ist das denn für ein Sahneschnittchen?", lachte einer der Typen zur Begrüßung.
"Halt die Klappe, Miles", brummte Silas genervt zurück, als er sich zu ihnen an den Tisch gesellte, welcher sich abseits der Bartheke befand.
"Spielverderber", murmelte der Angesprochene beleidigt, als er sich durch seine blonden Haare strich, die sich an den Enden lockten. Ich schätzte ihn jünger als Silas, vielleicht Anfang dreißig.
"Hey, Silas", begrüßte die rothaarige Frau ihn, wobei sie sich zu ihm lehnte, um ihn zu umarmen und einen Kuss auf seine Wange zu drücken.
"Wen hast du denn dort dabei?"
Ich spürte, wie sich mein Körper anspannte, als ich mir das mit ansehen musste. Wahrscheinlich hatten sie mal was miteinander.
"Ja, Silas! Jetzt erzähl' endlich", rief der Typ von gerade eben - Miles, glaube ich.
"Okay, Leute", fing Silas an und drehte sich dabei in meine Richtung. Dabei fiel ihm und mir auf, dass ich immer noch verloren neben deren Tisch stand. Er deutete auf einen der Stühle, damit ich mich setzte, was ich dann auch unsicher tat.
"Das ist Alexander." Silas legte mir grinsend seine warme Hand in den Nacken und schüttelte mich kurz, weshalb ich verlegen nach unten schaute und mein Lächeln zu verstecken versuchte. "Er wurde vor einigen Tagen entlassen."
Ich nahm an, dass seine Kumpels und die Frau von seiner Arbeit wussten. Denn sie reagierten nicht sonderlich überrascht.
"Cool, Mann! Ich bin Miles", stellte der Typ sich vor.
Cool? Ich wollte ja nicht übertreiben, aber würde er das ernsthaft bei jedem Entlassenen sagen, von dem er nicht mal wusste, was dieser getan hat, um dort zu landen, von wo er herkam? Es war absurd und so kam mir dieser Kerl auch vor.
Ich seufzte leise und schenkte meine Aufmerksamkeit den anderen, die sich ebenfalls anfingen vorzustellen.
"Tonio. Aber Freunde nennen mich Tony", meinte der Braunhaarige mit dem Vollbart und den tätowierten Armen. Er machte auf mich einen arroganten Eindruck, vielleicht irrte ich mich auch und interpretierte es falsch, doch so, wie er mich von oben nach unten herablassend betrachtete, ließ mich erschaudern.
"Valentíne", sagte dann schließlich der mit den leeren Gläsern. Er hob dabei seine rechte Hand und machte eine typische Geste, die ich irgendwo schon mal gesehen hatte. Wirklich zuordnen konnte ich es aber nicht. Doch mir fiel etwas anderes auf: Von seinem Handrücken aus verlief eine breite, rötliche Narbe zur Handinnenfläche. Bevor ich aber länger darüber nachdenken konnte, stellte sich zuletzt die Frau mit der extravaganten Frisur und der roten Bluse vor.
"Hi, ich bin Amy", meinte sie lächelnd, als sie ihre Hand mit den dunkelrot lackierten Fingernägeln in meine Richtung ausstreckte. Ich verstand ihre Absicht erst einige Sekunden später, weshalb ich mir wieder merkwürdig vorkam, ergriff dann ein wenig unbeholfen ihre Hand und schüttelte diese.
"Freut mich", murmelte ich vor mich hin. Eigentlich nicht.
"Tony ist Tätowierer - ganz unschwer zu erkennen", scherzte Silas, "Val ist Veteran und sucht zur Zeit nach Arbeit, Miles studiert noch und Amy arbeitet selbstständig als Mediendesignerin."
Ich betrachtete die Menschen vor mir noch einmal genauer und konnte es mir jetzt noch besser vorstellen. Valentíne war also ehemaliger Soldat. Das erklärte auch den Alkohol und die Narbe an seiner Hand. Sicher war das außerdem nicht die einzige, die er besaß.
"Okay", sagte ich leicht nickend, unsicher darüber, was ich mit all diesen Informationen anfangen sollte.
"Hmh, was wollt ihr trinken? Die erste Runde geht auf mich", verkündete Silas lächelnd, dann wandte er sich an mich. "Alex, was möchtest du?"
"Ich weiß nicht", antwortete ich nachdenklich.
"Geil! Ich will ein Bier", teilte Miles mit und stieß anschließend den Tätowierer mit dem Ellenbogen an, der das Gleiche äußerte.
"Val hat eh schon früher angefangen, wie immer. Also ist es nicht mehr wirklich die erste Runde", murmelte der mit dem Bart, dessen Name ich schon wieder vergessen hatte.
"Einen Martini, bitte", kam es von der Frau neben Silas, welche ihn ununterbrochen anlächelte. Bei diesem Anblick wurde mir total schlecht, obwohl ich überhaupt nicht wollte, dass ich so empfand. Schließlich hatte sie mir ja nichts getan.
"Also gut. Wartet einen Moment", meinte Silas, der sich anschließend von seinem Stuhl erhob und zum Tresen schlenderte, wo er anschließend die Getränke bestellte.
Wie wollte er das bitte alles alleine tragen, wenn man ihm kein Tablett gab?
Ich schüttelte den Kopf und stand dann auf, um zu ihm zu gehen. Dabei spürte ich die Blicke der anderen auf uns. Sie brannten sich regelrecht in meinen Rücken und hinterließen ein unwohles Gefühl.
"Hey", machte ich mich bemerkbar, damit er sich nicht erschrak. "Soll ich dir helfen?"
Silas schaute daraufhin zu mir, überrascht darüber, dass ich ihm gefolgt war.
"Eh- ja, kannst du."
Er reichte mir zwei volle Biergläser, die ich ihm abnahm und anschließend zum Tisch brachte. Dort stellte ich dem Tätowierten und Miles jeweils ein Glas vor die Nase und setzte mich dann zurück auf meinen Stuhl, als Silas mit den restlichen Getränken ankam. Er gab der Frau ihr Glas und stellte mir und sich selbst auch ein Bier hin. Dieses hob er anschließend grinsend an und die anderen taten es ihm gleich.
"Auf den Abend und darauf, dass der Kleine hier endlich einen Job hat", sagte er stolz und warf dabei einen Blick zu mir hinüber.
Ich erwiderte diesen jedoch mit einem etwas finsteren, da ich es wirklich nicht leiden konnte, wenn er mich so nannte. Vor allem vor Fremden.
Sie ließen sich davon aber nicht irritieren und nahmen beinahe gleichzeitig einen Schluck ihrer Getränke. Ich wagte es dann auch und probierte zögerlich. Dabei musste ich feststellen, dass das Zeug echt bitter schmeckte, und verzog angewidert mein Gesicht. Vielleicht schmeckte es ja beim nächsten Schluck besser. Aber auch das half nicht. Es war einfach nicht meins, weshalb ich das Glas zurückstellte und mit meinem Handrücken meinen Mund trocken wischte.
Mittlerweile unterhielten sie sich über ihre Jobs, Familien und andere belanglosere Dinge, bei denen ich nicht mitreden konnte, und bestellten sich währenddessen weitere Getränke.
Silas lehnte sich nach einiger Zeit zu mir herüber und dämpfte seine Stimme ein wenig.
"Möchtest du Billard spielen, Alex?"
"Ich ... kann das nicht. Hab es noch nie", gab ich leise zu. Dachte er etwa, dass ich mich langweile und beschäftigt werden musste?
"Das macht nichts, ich bringe es dir bei." Er stand auf, nachdem er sein zweites, halbleer getrunkenes Bier abgestellt hatte, und schaute dann zu mir hinab.
"Komm schon", drängte er mich mit einem leichten Lächeln.
"Von mir aus", murmelte ich dann und schob, während ich aufstand, meinen Stuhl zurück.
Anschließend folgte ich Silas zum Billard, welches soeben frei wurde.
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