Myrte X Ginny || Giftpfeil mitten ins Herz
An einem Tag wie jeder anderer saß die Maulende Myrte schmollend in ihrer Lieblingstoilette. Wirklich wortwörtlich. In der Toilette. Nicht nur in der Kabine. Nein, in der Toilette. Genauer gesagt an dem Platz, wo eine Kurve war und nach dem das Rohr in größere Rohre mündete. Über die vielen Jahre, in denen Myrte tot gewesen war, war dieser Platz zu ihrem absoluten Lieblingsplatz geworden. Hier konnte man ungestört nachdenken. Alle Schüler mieden diese Toilette, weshalb keiner Myrte stören würde
Vor ungefähr fünfzig Jahren war Myrte in diesem Badezimmer getötet worden. Damals hatte sich ein Junge über ihre Brillen lustig gemacht, weshalb sie hier hergekommen war, um zu weinen. Sie hatte in den Spiegel geblickt und war von ihrer Hässlichkeit erschrocken gewesen. Wütend hatte das Mädchen ihre Brille von seinem Gesicht genommen und auf den Boden geschmissen.
Nur wenige Sekunden später war es passiert, dass Myrte in zwei riesige, gelbe Augen geblickt hatte. Und dann war sie gestorben. Einfach so. Ohne irgendwelche Nebenwirkungen. Der „Avada Kedavra" Fluch wäre vermutlich genauso gewesen. Deshalb hatte sich das verstorbene Mädchen dazu entschieden, als Geist hierzubleiben, um den Jungen, weshalb es im Badezimmer gewesen war, alles heimzuzahlen. Doch jener hatte sich nur noch mehr über Myrte lustig gemacht. Ihre Transparenz und blau-weiße Farbe war zu etwas geworden, das der Junge gegen sie verwendete.
Somit war Myrte in ihrer Toilette gelandet, wo sie den Großteil ihres elenden Todes verbrachte. Wer hätte erwartet, dass ihr Tod noch elender sei als ihr schreckliches Leben?
Auf einmal spürte Myrte, wie etwas durch sie fiel. Es tat zwar nicht weh, doch es ging sie total an, dass sich jemand traute, ihre Ruhe zu stören. Empört betrachtete das Mädchen das Objekt, das ihr gerade durch den Kopf geworfen worden war. Es war ein Buch. Ein Tagebuch, um genau zu sein.
Wie konnte jemand es wagen, Myrte zu stören, wenn sie gerade über ihren Tod nachdachte? Das ging zu weit. Das hier war ihre eigene Toilette, keiner hatte hier etwas zu suchen. Schnell flog sie aus dem Klo und erblickte eine rothaarige Erstklässlerin.
„Tut mir so leid, ich wollte dir nicht wehtun", entschuldigte sich eine Gryffindor Erstklässlerin.
„Ein Haufen von Lügen!", schrie Myrte beleidigt, „Du kommst herein und störst mich, indem du ein Buch durch mit wirfst. Wie kannst du nur? Wieso muss jeder immer so gemein zu mir sein?"
„Nein, wirklich, das war keine Absicht", wiederholte das Mädchen, „Ich wusste wirklich nicht, dass du hier bist." Sprach sie die Wahrheit? Hatte diese Gryffindor wirklich nichts gegen Myrte? War sie nicht eine von denen, die sich einen Spaß daraus machten, Myrte zu beleidigen?
Nun, dass sie sich etwas beruhigt hatte, sah sich Myrte das Mädchen genauer an. Es besaß lange, feuerrote Haare und ein hübsches, süßes Gesicht, das von vielen Sommersprossen geschmückt wurde. Die Gryffindor war relativ normalgroß für ihr Alter. Ihre Figur war schlank und wunderschön. Generell war sie ohne Zweifel die schönste Person, die Myrte je zu Auge bekommen hatte.
„Oh", stotterte Myrte verlegen, „Ich ... wusste das nicht. Ich dachte, du wärst so wie alle anderen. Sie machen sich auch immer über mich lustig." Nein, verdammt! Wieso sagte Myrte dies? Das kam doch so rüber, als wäre sie eine Heulsuse. Vielleicht war Myrte das ja, aber dieses Mädchen sollte keinen schlechten Eindruck bekommen. Peinlich berührt starrte sie auf den Boden.
„Das tut mir leid", wurde Myrte von dem Mädchen bemitleidet, „Kann ich dir irgendwie helfen?"
„Nein, passt schon", versuchte Myrte, cool zu klingen. „Ich bin übrigens Myrte."
„Ginny, Ginny Weasley", erwiderte die Gryffindor. Ginny. Schöner Name. Vermutlich ein Spitzname für ... hmm... Virginia? Ginevra? Gina?
„Schöner Name", machte Myrte Ginny ein Kompliment. Es war für sie sehr ungewohnt, ein normales Gespräch mit jemandem zu führen, in dem sie nicht anfing zu heulen. Aber Ginny war anders. Irgendetwas an ihr ließ etwas in Myrtes Bauch kribbeln. Was war das?
„Danke, deiner auch", meinte Ginny. Das leichte Kribbeln wurde zu etwas größerem. Es fühlte sich an, wie Schmetterlinge, die in Myrtes Bauch herumflatterten. Wo waren sie hergekommen? Konnte ein Geist überhaupt solche Sachen spüren? Und was bedeutete es überhaupt?
„D- danke", stotterte Myrte, „Ähm- willst du mal hier bleiben? Mich kommt selten jemand besuchen." Was machte sie? Kam das nicht komisch rüber?
„Ja, gerne", antwortete Ginny schulterzuckend.
„Okay, setzen wir uns mal vor die Waschbecken, da ist das Licht schöner", schlug Myrte vor. Es war ungewohnt für sie, normal mit jemandem zu reden. Eigentlich hatte sie keine Ahnung mehr, wie man ein Gespräch mit jemandem überhaupt führte. Wann lachte man? Wann stieß man ein „Oh" und wann ein „Aha" aus? Wann sagte man „Mhm" oder „Verstehe ich"?
„Sehr gerne", willigte Ginny ein. Hoffentlich tat sie dies, da sie es wirklich wollte und nicht nur, weil sie Myrte nicht beleidigen wollte. Das täte Myrte nämlich leid.
Als Ginny anfing, zu den großen Waschbecken zu gehen, glaubte Myrte ihren Augen nicht. Jeder einzige Schritt von Ginny verzauberte sie. So elegant, aber zugleich fröhlich. So ... lebendig. Und Myrte? Myrte glitt in ihrer Geistform nur über die altmodischen Fließen des Badezimmers. Ihre Transparenz passte überhaupt nicht zu den hellen, steinernen Wänden.
Plötzlich ging es Myrte ein, wieso sie in Ginnys Gegenwart so anders war. Es war doch so auffällig! Sie hatte sich in das hübsche, rothaarige Mädchen verliebt. Aber wie würde Ginny Myrtes Gefühle jemals erwidern? Erstens war Myrte tot und nur noch hier, da sie ihren Tod nicht verarbeitete hatte. Zweitens sah sie einfach hässlich aus – mit ihrer Brille, ihren Haaren, ihrem Gesicht und schlussendlich auch ihrer hellblau-transparenten Farbe.
Jedoch war es einen Versuch wert, oder nicht? Vielleicht mochte die Chance, dass Ginny sich auch in Myrte verlieben würde, 0,00001 Prozent sein, aber Myrte konnte es trotzdem versuchen. Immerhin hatte sie noch eine 0,00001-prozentige Chance. Die würde sie ausnützen.
„Wieso hast du eigentlich versucht, dein Tagebuch das Klo hinunterzuspülen?", versuchte Myrte, ihre Gegenüber in ein Gespräch zu verwickeln, nachdem sich die zwei gegenübereinander hingesetzt hatten.
„Oh, ähm...", zögerte Ginny, „Es ist gar nicht mein Tagebuch. Es gehört jemand anderem. Mich haben die Sachen gestört, die darin standen."
„Ach so, ich verstehe", meinte Myrte mit einem Nicken. Passte hier ein Nicken überhaupt? Auch das richtige Anwenden von einem Nicken hatte Myrte über die Jahre verlernt.
„Ja. Und was hast du in dem Klo gemacht?", stellte Ginny eine Gegenfrage.
„Ich habe", stotterte die Angesprochene. Sollte sie hier ehrlich antworten? „Ich habe über meinen Tod nachgedacht, um ehrlich zu sein." Es hieß doch, dass die Wahrheit stets die beste Möglichkeit war.
„Das tut mir leid", sagte Ginny. Laut ihrem mitfühlenden Blick in ihren braunen Augen meinte sie dies sogar ernst. „Also, dass du gestorben bist."
In Gedanken versunken seufzte Myrte. Sie hatte ihren Tod nie wirklich verarbeitet – selbst nicht in den fünfzig Jahren, die sie in diesem Zustand verbracht hatte. Wie hätte sie dies auch tun sollen? Keiner hatte sich je um sie gekümmert. Mit niemandem hatte sie reden können.
Und jetzt war da Ginny. Die erste Person, mit der Myrte seit jenem Tag, an dem sie in diese gelben Augen gesehen hatte, ein wirkliches Gespräch führte. Wäre es nicht wunderschön, all ihre Erfahrungen mit der Weasley zu teilen? Dann hätten die zwei wenigstens ein Gesprächsthema. Dies war Myrte wichtig, immerhin wollte sie keinesfalls, dass Ginny sich langweilte. Selbst der Gedanke daran, dass die Gryffindor das Badezimmer verließ, ließ einen kalten Schauer über Myrtes Rücken hinunterlaufen.
„Ist alles okay?", fragte Ginny besorgt.
„Ja, ich", stotterte Myrte. Erneut flossen die Wörter unkontrolliert aus ihrem Mund. „Ich habe nur noch niemanden wie dich kennengelernt. Du bist wirklich besonders." War das zu auffällig? Würde Ginny diese Wörter komisch finden?
„Freut mich, dass ich dich nicht störe", antwortete Ginny bloß. Sie war so nett. So süß.
„Nein, ich meine es nicht ganz so. Ich ... habe mich in dich verliebt." Verdammt! Scheiße! Kacke! Wieso hatte Myrte keine Kontrolle mehr über das, was ihre Lippen verließ? So etwas konnte sie doch nicht sagen! Das kam ja total komisch rüber! Wie... wie konnten solche Wörter ihre Lippen bloß überqueren?
„Was?", erwiderte Ginny geschockt. „Tut mir leid, aber ich habe um ehrlich zu sein keine Gefühle für dich. Verstehe es bitte nicht falsch! Du bist nett und ich wäre gerne mit dir befreundet. Aber so... nein, es tut mir so leid!"
Nach diesen Wörtern zerbrach Myrtes gesamte Welt zu tausenden kleinen Stücken, welche man nie wieder zusammenkleben konnte. Ihr Herz – wenn sie als Geist überhaupt noch eines hatte – wurde zu winzigen Sandkörnern zerkleinert. Und ihre Seele – ihre Seele wurde einfach vollkommen zerstört. Wenn Myrte nicht schon tot sei, wäre sie jetzt wohl gestorben. Ihr Herz schmerzte so sehr.
Die erste Träne rann langsam über Myrtes blasse Wange. Dann eine weitere. Und noch eine. Schließlich entwickelten sich die einzelnen Tränen zu einem salzigen Wasserfall.
„Es tut mir so leid. Aber", wiederholte Ginny, „Du weißt, es ist alles, was du jemals sein wirst. Eine Freundin. Aber solche Gefühle habe ich nicht. Tut mir so leid."
Langsam nickte Myrte. Dabei biss sie sich so hart auf die Lippen, dass sie, wäre in ihrem Körper noch Blut gewesen, vermutlich Blut geschmeckt hätte. Am liebsten würde sie hier und jetzt nochmal sterben. Wieso war sie nicht einfach in den Himmel hochgefahren? Oder in die Hölle? Selbst die wäre besser als das hier.
„Ich gehe jetzt", flüsterte Ginny, ehe sie aus der Tür verschwand. Sie würde bestimmt nie wieder kommen.
Es war Myrte nicht bewusst, wie lange sie auf dem kalten, steinernen Boden verweilte. Minuten vergingen wie Stunden. Stunden hätten Tage sein können. Oder Jahre. Aus Wut drehte die ehemalige Ravenclaw alle Wasserhähne auf. Am besten ertrank sie. Dann fiel ihr ein, dass sie das überhaupt nicht konnte.
Plötzlich hörte Myrte, wie sich die hölzerne Tür des Badezimmers knarzend öffnete. Jedoch schaffte sie es nicht, sich umzudrehen. Erst als jemand „Was ist los, Myrte" fragte, blickte sie sich zu der Person, die gesprochen hatte, um.
Vor ihr standen Harry Potter und Ronald Weasley. Jene Gryffindors hatten früher in diesem Schuljahr in Myrtes Toilette einen Trank gebraut. Was um Himmels Willen machten sie jetzt schon wieder hier?
Die Wahrheit darüber, wieso sie das Badezimmer geflutet hatte, konnte sie doch nicht sagen. Also entschied sie, nur den Anfang der Geschichte zu erzählen. „Na, seid ihr gekommen, um noch etwas durch mich zu werfen?", heulte Myrte somit.
„Wieso sollte ich etwas durch dich werfen?", erwiderte Harry mit einem Gesichtsausdruck, der Verwirrung spiegelte.
„Frag mich nicht", sagte Myrte trotzig, „Da bin ich, denke über den Tod, als jemand denkt, es wäre lustig, ein Buch durch mich zu werfen." Theoretisch war dies ja passiert, also log Myrte nicht. Sie ließ ja nur aus, wie sich die Geschichte weiterentwickelt hatte. Aber sie brauchte unbedingt jemanden, bei dem sie ihre Wut auslassen konnte. Harry und Ron kamen hier ganz praktisch.
„Aber es kann doch nicht wehtuen, wenn jemand etwas durch dich wirft", meinte Harry, als sei es das normalste der Welt, „Es würde einfach durch dich durchgehen."
Wie konnte dieser freche Junge sich erlauben, so etwas zu sagen? Unglaublich wütend schrie Myrte: „Dann wirft doch alle Bücher durch Myrte! Zehn Punkte, wenn ihr damit ihren Kopf trifft! Fünfzig für ein Treffen ihres Bauches! Einhundert, wenn es direkt durch ihr Herz geht." Dann hätte Ginny schon einhundert Punkte gesammelt. Vielleicht nicht mit einem Buch, aber mit einem schrecklichen Giftpfeil. Noch immer schmerzte ihr Herz davon. „Haha! Was für ein schönes Spiel! Finde ich nicht!"
„Wer hat es überhaupt durch dich geworfen?", wollte Harry wissen.
Au. Die Wunde, die der Giftpfeil verursacht hatte, schien noch mehr zu bluten als zuvor. Egal mit wie viel Mühe, Myrte konnte sich nicht dazu bringen, Ginnys Namen zu sagen. „Ich weiß es nicht", meinte sie stattdessen, „Ich bin einfach in der Toilette gesessen, als es durch meinen Kopf gefallen ist. Es ist da drüben, nimmt es mit."
Tatsächlich nahmen die zwei Jungs das Buch mit. Dies erleichterte Myrte, denn so musste sie es nie wieder sehen. Zum Glück. Sonst würde es sie nur an Ginny erinnern. An das süße, freundliche Lächeln. Die wunderschönen, rehbraunen Augen. Die feuerroten, dichte Haare. Und dann auch an ihre Worte, sie würde Myrtes Gefühle niemals erwidern. Wie ein Echo hallten sie in Myrtes Ohren.
Das Leben war der Horror. Der Tod genauso. Oder noch schlimmer.
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2028 Wörter
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Paper_Eve52 hier ist nun mein Oneshot. Ich hoffe, der passt so.
Ich habe überlegt und entschieden, die Szene, in der sich Ginny und Myrte im Buch treffen könnten, genommen. Denn das hätte theoretisch wirklich passieren können.
Was ich auch extra eingebaut habe, ist, dass Myrte ihre Brille auf den Boden wirft, bevor sie den Basilisk sieht. Theoretisch würde sie sonst nämlich nur versteinert werden, da die Brille reflektiert.
Leider konnte ich kein glückliches Ende schreiben, da es sonst mit der Zusatzaufgabe nicht gegangen wäre. Also war es ein eher bedrückendes Ende.
Ich hoffe, ich bleibe noch im Rennen.
Lg Amy
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