XVI. Ein Jahrzehnt der Stille

Erziraphael hatte Crowley seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr gesehen. Es war nicht ungewöhnlich, dass sein Freund von Zeit zu Zeit eine unangekündigte Auszeit nahm, aber etwas über seine Abwesenheit war beunruhigend. Und nicht aus den üblichen Gründen.

Er erinnerte sich an das Jahrhundert, welches Crowley verschlafen hatte, und fragte sich, ob es wieder so sein könnte. Vielleicht war sein Freund nach dem ganzen Armageddon, welches nie wirklich stattfand, müde geworden.
Aber warum würde er nichts sagen?
Nach ihrem Besuch in dem neuen Restaurant, hatte er nie wieder von Crowley gehört. Nicht einmal ein Anruf ... Nicht einmal ein „Hey, Engel, wässere meine Pflanzen für mich, danke."

Diese Pflanzen sind schon vor Jahren verfault und die Wohnung blieb unberührt, als hätte Crowley genug Geld beiseite gelegt, um sie in seinem Namen zu behalten.

Er fühlte sich aufgrund der Abwesenheit des Dämon's auf eine Weise beleidigt und unwichtig. Überall um ihn herum gab es Wörterbücher und Romane, die voller Beschreibungen und Definitionen für schreckliche Gefühle waren, aber keines von ihnen beschrieb genau, wie schrecklich es sich jeden Tag anfühlte.

,,Vielleicht bist du wirklich schlecht", sagte Erziraphael zum letzten Mal auf Crowley's Anrufbeantworter - fünf Jahre nach seiner Abwesenheit. „Vielleicht war ich ein Dummkopf zu glauben, dass du möglicherweise einen mitfühlenden Kern in deinem Körper haben könntest. Ich war naiv genug, zu glauben, dass du mich als deinen besten Freund bezeichnest. Es ist nur allzu offensichtlich, dass ich nichts für dich bin." Er musste Tränen schlucken - echte Tränen! -, bevor er weiterreden konnte. ,,Auf Wiedersehen, Crowley."

Er versuchte Ablenkungen zu finden, aber es gab nicht genug. Die Welt fühlte sich anders an. Er hatte weder den Allmächtigen über, noch die Hölle unter sich, um die er sich sorgen musste. Er hatte Adam Young, nach dem er ab und zu sah, aber selbst das bereitete ihm gewisse Schmerzen.

Erziraphael war zum ersten nennenswertem Mal in seinen sechstausend Jahren einsam. Nichts konnte ihm Trost schenken.
Eines Nachts legte sich der Engel nieder und schlief monatelang. Als er aufwachte, fühlte er sich nicht besser als zuvor. Wahrscheinlich wäre er noch ein oder zwei Jahrhunderte im Bett geblieben, wenn er nicht von einem lauten Knall unten in seinem Geschäft geweckt worden wäre.

Es hörte sich an, als wäre ein ganzes Regal zusammengebrochen und Erziraphael konnte den Gedanken nicht ertragen, dass seine Bücher durch einen Eindringling oder einen Unfall beschädigt worden sind.

Er warf die Decke beiseite und rannte die Treppe hinunter, rutschte fast auf herumliegenden Büchern aus und stöhnte ängstlich, als er durch die Tür in sein Geschäft stürmte. All seine Regale standen noch und alles schien unverändert.

Und dann war da dieses leise, von Schmerzen verzerrte Keuchen. Crowley!

Nach zehn Jahren war er endlich wieder da und lag mitten in seinem Buchladen.
So viele Gefühle und Fragen stürzten auf den Engel ein, doch diese waren erst einmal Nebensache, denn sein bester Freund war verletzt.

Als der Engel sich traute, langsam heranzutreten, hörte er das schwache Wimmern von Crowley's Lippen.
Seine Flügel ... Oh Gott, Crowley's Flügel waren zerschmettert und einer schlug immer noch nutzlos gegen den Boden, als würde er noch immer fallen. Der andere aber ...
Erziraphael schluckte schwer und spürte, wie sich Tränen in seinen Augen sammelten.
Sein anderer Flügel war nicht einmal mehr ein Teil von ihm; er lag neben ihm, in alle möglichen Richtungen gebrochen. Blut überzog alles, drang in die Fasern des Teppichs ein und wurde mit jedem Schlag von Crowleys schwarzen Federn auf alles in Reichweite gespritzt.
Crowley's Gesicht ... Blut, überall war Blut! Und seine beiden Hände sahen aus, als würde er einen Gegner abwehren wollen.

Erziraphael stand unter Schock und wusste nicht auf Anhieb, was er tun sollte oder was er sogar sagen konnte, um zu helfen, aber herumzustehen und nichts zu tun, war mit Sicherheit falsch.
,,Crowley?" Seine Stimme zitterte und brach, als er sich an die Seite seines Freundes kniete. ,,Crowley, ich bin es - Erziraphael. Kannst du mich hören?"

Alles, was er als Antwort erhielt, war ein unmenschlicher, grässlicher Schrei, als er versuchte, seine Hand auf Crowley's Schulter zu legen.
„Crowley - Crowley, bitte. Ich bin es nur! Lass mich dir helfen, Crowley. Bitte, bitte!"

Der Engel hatte nicht gemerkt, wie er anfing zu weinen. Der Dämon vor ihm schlug weiter um sich - schlug mit dem Kopf so oft auf den Boden wie mit seinem gebrochenen Flügel -, bis der ganze Kampf auf einmal ein Ende hatte. Er ließ sich in die Pfütze seines eigenen Blutes auf den Teppich fallen und stieß einen letzten, erstickten Schrei aus wie ein Tier, das einer Drahtschlinge erlag.

„Crowley?", versuchte er es erneut. Er hatte Angst, dass sein Freund gerade vor seinen Augen gestorben sein könnte, denn er rührte sich keinen Zentimeter, atmete nicht einmal, obwohl er dies sowieso nicht musste.
Erziraphael rückte noch näher und untersuchte die Wunden an Crowley's rechten Flügel. Es war, als hätte ein Monster einen Hammer gegen die zerbrechlichen Knochen geschlagen und Erziraphael's eigene Flügel schmerzten bei dieser Vorstellung.

Crowley's Fingernägel waren gebrochen und rissig - zwei fehlten, als wären sie abgerissen worden. Er hatte einen tiefen Schnitt auf der Stirn, aber ansonsten schien sein Gesicht ohne ein paar blaue Flecken unversehrt zu sein. Seine schwarzen Klamotten waren zerfetzt, blasse Haut und dunkles Blut quoll heraus.
,,Was haben sie dir angetan, Crowley?", hauchte er und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, während er versuchte, seine Sinne zu sammeln. Er wusste nicht einmal, wer daran schuld war.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top