Kapitel 5.2

Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, schlug ich meine Augen auf und starrte unbewegt an die Decke. Ich konnte nicht sagen, wie spät es gerade war, aber vermutlich war der Morgen schon längst angebrochen. Und damit auch der Tag, der uns zum Verhängnis werden konnte.

In Kenzie gibt es mehrere Jugendliche, die Stehlen, aber meist ist es nur eine Kleinigkeit, wie ein Apfel oder ein Stück Brot. Viele von ihnen werden dabei erwischt, weil sie zu unvorsichtig waren oder von Umstehenden beim Raub beobachtet wurden.

Und da kommen wir schon zu dem Punkt, der uns von ihnen unterscheidet: Die Strafe.

Im Gegensatz zu unserer Strafe, ist ihre Strafe harmlos. Das schlimmste, was ihnen passieren könnte, wäre eine Geldstrafe oder ein paar Sozialstunden. Bei uns ist es anders... Egal was wir tun, wir werden immer mit dem Tod bestraft. Selbst die unter uns, die ihre Identität verbergen und sich normal verhalten, werden hingerichtet, sobald sie entlarvt werden.

Ich konnte nicht voraussagen, wie der heutige Tag verlaufen würde, aber ich hoffe sehr, dass alles gut gehen würde. Alles andere wollte ich mir gar nicht vorstellen.

Langsam richtete ich mich auf und sah mich um. Neben mir, zusammengerollt auf einer Matratze, lag Liv. Ich konnte sehen, wie sich ihr Körper hob und senkte, während sie ruhig schlief. Wir beide hatten uns dazu entschieden im Untergrund der Höhle zu schlafen, um nicht im Weg zu liegen, falls Daphne und 67, die auch hier unten schliefen, vor uns aufwachten und raufgehen wollten. 

Eine Weile lang sah ich Liv an, wie sie ruhig schlief. Ihre Haare bewegten sich beim Atmen jedesmal leicht auf und ab. Am Ansatz waren ihre Haare blond, dass war mir bis jetzt noch gar nicht aufgefallen! Waren ihre Haare durch die Mutation weiß geworden? Oder hatte sie sie sich gefärbt? Ich vermutete mal ersteres…

Genau in dem Moment schlug sie die Augen auf und sah mich an. 

,,Guten Morgen”, gähnte sie und rieb sich die Augen, als sie sich ebenfalls aufsetzte. Ich grüßte zurück und stand auf. Mein Weg führte mich ein paar Meter nach rechts, wo ein Spiegel stand. Er war nicht der neuste, Kratzer, Sprünge und etwas Dreck, zierten seine sonst glatte Oberfläche. Ich richtete mir mit meinen Händen ein wenig die Haare und fragte mich dabei ein weiteres Mal, wie diese Höhle hier entstanden war. Sie mit der Hand zu graben, würde vermutlich Jahre dauern. Und dann auch noch die Möbel hier runter zu bekommen, musste fast unmöglich gewesen sein! 

Liv trat neben mich und ich ging ein bisschen zur Seite, sodass auch sie sich im Spiegel betrachten konnte. 

,,Schon komisch oder? Ich meine, uns so zu sehen.”, Flüsterte sie leise und ich verstand, was sie meinte. Es war schon komisch. Ich hatte mich zwar mit meinem Aussehen und meinen neuen Fähigkeiten abgefunden, aber in manchen Momenten fragte ich mich dann, wie ich heute leben würde, wenn ich damals nicht entführt worden wäre?

Wahrscheinlich würde ich so Leben, wie alle anderen normalen Mädchen in meinem Alter auch. Wir würden uns zu Ausflügen in der Stadt treffen und würden Abends auch mal etwas zusammen essen oder feiern gehen. Ich könnte ins Schwimmbad gehen, an den Strand… Ohne Angst, einfach frei sein und mein Leben genießen.

Doch eigentlich brachten mir die Gedanken gar nichts. Sie machten mich nur verrückt. Ich lebte im hier und jetzt, damit musste ich Leben, ob ich wollte oder nicht. Eine Mutation, die sich verstecken musste, die gejagt wurde, das war ich. Seit Jahren schon, war ich kein normales Mädchen mehr. Und würde es vermutlich auch niemals wieder sein.

,,Ja”, hauchte ich zurück und blickte meinem Spiegelbild tief in die Augen. Irgendwo, tief in mir drin, verbarg sich noch mein anderes ich. Doch das wurde von mir, meinem neuen Ich blockiert und würde niemals wieder an die Oberfläche kommen können. Genau genommen hatte ich drei Persönlichkeiten…

Als erstes gäbe es mein junges ich. Das Mädchen, dass lebte, bevor dies alles geschehen war. Das Ich, das unbeschwert und sorglos gelebt hatte, von seinen Eltern und seinem Bruder geliebt wurde. 

Dann gab es das Ich, das ich bis vor kurzem noch war. Eine Teenagerin mit großem Geheimnis. Ein Mädchen, dass ihr Leben in vollen Zügen genoss, obwohl es eingeschränkt war, eine Freundin hatte, auf eigenen Beinen stand. Doch das war vorbei. 

Das was ich jetzt war, war eine Abwandlung meines zweiten Ichs. Ich war immernoch ein Mädchen, eine Teenagerin mit einem Geheimnis. Doch mein Leben konnte ich nicht mehr genießen, weil man nach mir suchte, um mich zu fangen und mich zu töten. Mein Leben war geprägt von Ängsten, aber auch von Liebe, die ich verspürte, wenn ich mir Kim, Daphne, 67 und Liv ins Gedächtnis rief. Sie alle waren immer für mich da und halfen mir, wo es ging. 

Kim half mir damals, als ich neu an die Schule kam und brachte mir das Lesen bei, wobei sie sich wunderte, warum ich es nicht konnte. Von meiner Vergangenheit, erzählte ich ihr jedoch nichts. Zum einen deshalb, weil ich Angst hatte, sie könnte mich verstoßen. Zum anderen aber auch, weil ich sie schützen wollte. Das Wissen, was sie über mich haben würde, könnte ihr gefährlich werden.

Sie hatte mich in Schutz genommen, als ich früher gemobbt worden war, weil ich nicht gerade viel wusste und konnte. Immerhin war ich jahrelang nicht zur Schule gegangen und konnte dementsprechend weder Lesen, Schreiben noch Rechnen lernen. Für meinen Mangel an Wissen, hatten sie mich gemobbt, mich beleidigt und mir dauernd schwere Aufgaben gestellt, die ich nicht konnte und deshalb bloß gestellt wurde.
In dieser Zeit, war Kim mir nicht ein einziges Mal von der Seite gewichen. Selbst dann nicht, als sie selber eine Zeit lang zur Zielscheibe wurde, weil sie zu mir hielt.

Einen ganz besonderen Moment in dieser Zeit, würde ich wohl nie vergessen. Denn ab diesem Zeitpunkt, ging alles bergauf...

,,Hallo, jemand Zuhause?"
,,Pah! Die hat das Gehirn von einem Baby, falls sie überhaupt eines besitzt!"
,,Sie ist ein hoffnungsloser Fall, guck sie dir doch mal an!"

Kim und ich gingen gerade zusammen durch einen der vielen, langen Flure unsere Schule. Rechts und links waren Spinde in den verschiedensten Farben aufgestellt. Alles war bunt, genau so, wie es in unserer Stadt üblich war. Nichts war nur weiß, schwarz und grau. Alles war hell und farbenfroh.

Verzweifelt versuchte ich, die Sprüche der Jungs zu verdrängen, sie auszublenden. Doch es funktionierte nicht.

Inzwischen hatten sich auch einige Schüler zu den brüllenden Jugendlichen umgedreht und betrachteten sie Szene, die sich ihnen bot. Eine Gruppe von Jungs, die zwei Mädchen hänselten. Ganz vorne an der Spitze, stand Ethan, der Anführer. Ich verstand einfach nicht, was ihn für diese Rolle geeignet machen sollte. Waren es seine teuren Schuhe, die Goldkette, die Art, wie er ging oder war es die Pilotenbrille mit den verspiegelten Gläsern? Das sah doch vollkommen lächerlich aus! Und besonders schlau war er auch nicht gerade... Was also?!

Ich senkte meinen Kopf und umklammerte mein Notizheft, dass ich immer bei mir trug. Niemand durfte es haben, niemand durfte hineinsehen. Das wusste Kim und ich war ihr sehr dankbar, dass sie nicht darauf bestand, dass ich ihr zeigte, was sich dort drin verbarg.

Auf den weißen Seiten, verborgen von einem schönen dunkelblauen Einband mit einem Verlauf ins helle, verbargen sich Zeichnungen von mir. Sie alle zeigten mich, mein Verändertes ich, die Labore und auch Sachen, die ich liebte. Es waren Bilder von einer Hand mit Schwimmhäuten und Schuppen, von Meerestieren und Zellen. Auch Kim hatte ich einige Male gezeichnet. Mal, wie sie ein Eis in der Hand hielt, ein anderes Mal, wie sie den Fluss betrachtete und dabei am Geländer der großen Kenzie-Brücke stand. Das Zeichnen war eines der Dinge, die ich konnte und liebte. Es half mir, mich zu beruhigen und mich zu entspannen.

Nicht alle Bilder waren so schön wie die, die mir gerade dich den Kopf gingen. In meinem Buch befanden sich auch Bilder von Gitterstäben, die von zwei Händen umfasst wurden, von einem leeren Raum mit dicker Tür, von Nadeln. Und ganz oft war er darauf abgebildet. Doktor Marlon Clay. Sein Gesicht hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt und wollte einfach nicht vergessen werden, egal, wie sehr ich es versuchte. Deshalb zeichnete ich ihn, um das verarbeiten zu können.

Vor lauter Gedanken, hatte ich gar nicht gemerkt, dass Kim gar nicht mehr neben mir lief. Verwirrt drehte ich mich um und riss die Augen weit auf, als ich sah, was sie tat. Kim stand mit geballten Fäusten vor Ethan und starrte ihn mit einem Blick an, der töten konnte. Ethan stand nur rum und blickte sie höhnisch an. Breitbeinig und mit verschränkten Armen, stand er vor Kim und blickte etwas auf sie herab, da er größer war als sie. Seine Brille hatte er sich in seine blonden Haare gesteckt, sodass man seine eisblauen Augen sah, die Kim musterten, bevor er anfing dämlich zu lachen.

,,Was wird das, Kim?" Höhnte er und breitete seine Arme aus, um seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen.
Ich sah, wie Kim vor Wut zitterte, als sie ihren Arm hob und auf ihn zeigte.

,,Du lässt Xenia in Ruhe, verstanden?!", brüllte sie ihm entgegen. Ich war fassungslos. Noch nie hatte ich sie so wütend und aufgebracht erlebt. Eigentlich war sie ein Mensch der ruhigeren Sorte, die sich möglichst aus Konflikten raushielt.
Und doch stand sie nun vor Ethan, dem Anführer und schrie ihn vor vielen Schülern einfach an. Wegen mir.

,,Und was, wenn nicht? Was willst du schon ausrichten?", fragte er und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare, während er die andere in seine Seite gestemmt hatte und sich ihr provozierend entgegen beugte.

Und dann tat Kim etwas, womit niemand gerechnet hätte. Innerhalb eines Wimpernschlags, landete ihre rechte Hand mit einem lauten Klatschen auf seiner Wange, wo sie einen roten Abdruck hinterließ.

Im Flur war es vollkommen still geworden. Jeder hatte gesehen, was Kim getan hatte und dann... Dann applaudierten alle.
Jeder fing an zu Klatschen und zu Jubeln, als Ethan sich mit schmerzverzehrtem Gesicht die Wange hielt. Ich verspürte Genugtuung, als ich sah, dass aus seinen Augen etwas feuchtes hinaussickerte. Der ach so tolle Ethan Willers weinte, weil er von einem Mädchen, das einen halben Kopf kleiner war als er, eine verpasst bekommen hatte.

In dem Moment kam ein Lehrer angerannt und stellte sich zwischen Kim und Ethan.
An Kim gerichtet, schrie er:
,,Was sollte das, Kim? So kenne ich dich gar nicht!"  Kim antwortete nichts, sondern sah Ethan weiterhin tödlich an, wärhend er sie mit einem Blick ansah, der wahrscheinlich so viel bedeutete, wie ,,Jetzt bist du dran."

Ein Lächeln zupfte an meinen Mundwinkeln, als ich mich daran zurückerinnerte. Kim hatte zwar gehörig Ärger vom Lehrer bekommen, weil Gewalt an unserer Schule verboten war, aber weitere Strafen blieben aus, da Kim sonst eine sehr gute Schülerin war und jeder wusste, wie provozierend Ethan sein konnte.

Nachdem sie das getan hatte, ging Ethan ihr so gut wie möglich aus dem Weg und auch sein Rang in unserer Stufe dank beachtlich.
Im Nu, war er vom Anführer zu einem ganz normalen Jungen geworden.
Leid tat er mir nicht, er hatte es verdient.

Und bei Kim war es genau andersherum.
Sie wurde für ihre Tat gefeiert, da alle es toll fanden, wie sie mich verteidigt hat. Im darauffolgenden Jahr war sie sogar Schülersprecherin geworden.
Kaum zu glauben, was eine Backpfeife alles bewirken konnte.

,,Kommst du? Wir müssen los!" Liv war inzwischen aus dem Raum getreten und sah mich abwartend an. Ich setzte mich in Bewegung und folgte ihr nach oben, wo wir etwas Brot aßen und anschließend die Höhle verließen, um auf den Markt zu gehen.

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