⋯⊰ ❅ 𝟱 𝗜𝗻 𝗦𝘁𝗲𝗶𝗻 𝗴𝗲𝗺𝗲𝗶ß𝗲𝗹𝘁 ❅ ⊱⋯

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Am nächsten Morgen fühlte sich Taehyung wie überfahren. Sein Körper war mindestens genauso schwach wie sein Herz. Seine Glieder schmerzten, obwohl er nichts körperlich anstrengendes getan hatte, doch er wusste ja, weshalb es ihm so schlecht ging. Heute war der 23. Dezember.
Ein Tag vor Heiligabend.

Jungkooks Todestag.

Und wie jedes Jahr würde er sich vornehmen, mit seinen Eltern an das Grab seines verstorbenen Freundes zu gehen, obwohl es nichts schlimmeres für ihn gab, und er bis jetzt jedes Jahr doch wieder einen Rückzieher gemacht hatte.

Taehyungs Mutter, die sehr wohl wusste, dass Jungkooks Tod schwer auf der Seele ihres Sohnes lag, versuchte noch immer, ihm zu helfen.
"Taeschatz. Vielleicht ist es besser, wenn du mitkommst. Jungkook würde sich sicher freuen... und ich glaube, es wird für dich an der Zeit, endlich damit abzuschließen. Ich mache mir Sorgen... wie lange willst du dir noch die Schuld geben?"

Die Worte seiner Mutter erreichten sein Gehör, nicht jedoch sein Herz. Sie verstand einfach nicht, dass er sehr wohl die Schuld daran trug. Aber sie hatte auch nicht alles mitbekommen. Wüsste sie, welche gravierenden Fehler er damals gemacht hatte, so hätte sie es eingesehen.

Trotzdem war er darum bemüht, ihr nicht noch mehr Kummer zu machen. Sie hatte das gewiss nicht verdient. Er hatte den Menschen um sich herum schon lange genug Kummer bereitet. Schwerfällig richtete er sich deshalb auf und konnte nur so gerade eben unterdrücken, erneut loszuweinen. Ein dicker Kloß hielt seine Stimmbänder davon ab, ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen. Taehyung nickte lediglich schweigend.

Endlich raffte der junge Mann sich auf, zwang sich dazu, am Frühstück teilzunehmen. Etwas zu Essen bekam er trotzdem nicht runter, so sehr er es auch versuchte. Der dicke Kloß in seinem Hals machte es beinahe unmöglich, etwas zu schlucken. Als er dennoch einen kleinen Bissen wagte, protestierte sein Magen umgehend. Daher schob er seinen Teller mit einen angewiderten Blick beiseite. Seine Familie kommentierte es nicht. Nicht einmal seine ältere Schwester sagte dazu etwas. Dabei ließ sie sich für gewöhnlich keine Chance entehen, ihren jüngeren Bruder zu necken. Aber selbst sie hatte mittlerweile gemerkt, wie sehr Jungkooks Tod an Taehyung zerrte. Besonders in der kalten Jahreszeit war ihr Bruder empfindlich und zerbrechlich, deswegen hatte sie schon vor einiger Zeit aufgehört, ihn zu ärgern. Stattdessen hatte sie sich ein Herz gefasst und ihm angeboten, immer zu ihr kommen zu können, wenn er jemanden zum Reden brauchte.

Taehyung war dankbar, dass seine Familie so viel Verständnis für ihn aufbrachte. Er war dankbar, dass sie ihn zu nichts zwangen. Und doch entging ihm der besorgte Blick seiner Eltern nicht. Er machte ihnen Kummer, trieb sie in die Verzweiflung, genauso wie er es damals bei Jungkook getan hatte.

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"Taeschatz, wir sind bei dir, ok? Du musst da nicht alleine durch, hörst du? Wir sind da...", redete Mrs. Kim sanft auf ihren Sohn ein, als sie spürte, wie sehr er mit jedem weiteren Schritt zu kämpfen hatte. Sie nahm zögerlich seine Hand, eine Geste, die ihr Sohn diesmal nicht ablehnte. Fest klammerte er sich an die etwas zierlichere Hand seiner Mutter, die, zusammen mit seinem Vater und seiner Schwester, die einzige Stütze in seinem Leben war.

Der Friedhof sah friedlich aus. Der viele Schnee hatte sich auch hier wie eine schützende Decke über die letzten Ruhestätte der Verstorbenen gelegt. Taehyung fand es absurd, dass ein solcher Ort so friedlich wirken konnte, wo es für ihn doch seine eigene, persönliche Hölle darstellte, aus der es kein Entrinnen gab.

Wie in Zeitlupe ließen sie die schmalen Wege hinter sich, bis sie ihrem Ziel näher kamen. Etwas weiter hinten, unter einer schneebedeckten Trauerweide, lag es.

Taehyung wusste ganz genau, wo es sich befand, auch wenn er noch nicht oft hier gewesen war. Doch das Bild des Grabes, zusammen mit der Weide, die ihre Äste beinahe mitfühlend runter hängen ließ, hatte sich in Taehyungs Gedächtnis eingebrannt wie ein Brandmal. Dabei hatte er es in den vergangenen Jahren erst zweimal geschafft, sich dem Grab überhaupt so weit zu nähern, dass er dies sehen konnte. Viel zu oft hatte er bereits schon vorher wieder die Flucht ergriffen. Seine Mutter hatte ihn auch da gewähren lassen und ihrem Mann immer wieder gesagt, dass es mit der Zeit besser werden würde.

Aber es wurde nicht besser.

Taehyungs Herz blutete. Er wollte nicht sehen, dass Jungkook wirklich tot war. Es war so endgültig, es mit eigenen Augen zu sehen, obwohl er auch so wusste, dass es nicht mehr abzuwenden war. Jungkook würde nicht wiederkommen und Taehyung würde es auch in 20 Jahren nicht schaffen, es länger als zwei Atemzüge an dem Grab auszuhalten.

"M-mama... ich... ich kann das nicht", wisperte Taehyung verzweifelt, als sie noch einige Schritte auf Jungkooks letzte Ruhestätte zugegangen waren, und er nun schon den Stein erkennen konnte, auf dem der Name seines Freundes unwiderruflich eingemeiselt war.

Er sollte nicht tot sein.

Nicht Jungkook...

"Ach, Taehyung...", entkam es traurig von der liebevollen, aber verzweifelten Mutter. Taehyungs Vater wusste, dass er wieder einen Rückzieher machen würde, dabei wusste er, dass sein Sohn endlich loslassen musste. "Mein Sohn, versuch es bitte. Wir sind doch bei dir. Deine Mutter hat Recht, du musst das nicht alleine machen."

Womit hatte er nur solch liebevollen, geduldigen Eltern verdient? Die ihn beidseitig an die Hand nahmen, obwohl er in seinem Alter längst alleine damit klar kommen sollte?

"Ich... nein...", stieß Taehyung unter Tränen hervor, als sich plötzlich einige neue Schneeflocken aus dem Himmel wagten. Es schneite. Und das war zu viel für den tottraurigen Taehyung. Die aufkommenden Bilder der Erinnerung, wenn Jungkook sich über die weißen Flocken freute, während er an dessen Grab stand, war zu viel. Zu grausam. Es ging einfach nicht. Er schaffte es nicht, den Namen Jeon Jungkook zu lesen, während Schneeflocken sich auf dem Stein niederließen. Taehyungs Gefühle brachen erneut über ihm zusammen wie eine riesige Welle von Schuld. Er schaffte es einfach nicht, sich dem zu stellen. Er würde es niemals schaffen.

Er spürte, wie schnell sein Herz zu schlagen begann. Unnatürlich schnell. Die liebevollen Hände seiner Eltern fühlten sich auf einmal an wie Ketten, die sich um seine Handgelenke legten. Er musste weg! Er schaffte es nicht, gegen den Fluchtreflex seines Körpers anzukämpfen.

Panisch riss er sich aus den Händen seiner Eltern los und rannte weg. Von Panik getrieben flüchtete er nicht nur von seinen Eltern, sondern auch von Jungkooks Grab und der schuldbesetzten Trauer, die er in sich trug. Er hörte nur entfernt, wie seine Mutter ihren Ehemann mit den Worten "Lass ihn", aufhielt, ihm zu folgen.

Er wollte allein sein - musste allein sein.

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