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Ein weitetes Mal wurde Taehyung so stark von dem grellen Licht geblendet, dass er die Augen fest zusammenpressen musste. Als er sich traute, sie wieder zu öffnen, bereute er es sogleich. Er stand seinem 17jährigen Ich gegenüber. Es war der Tag, der alles verändert hatte. Es war der Tag, an dem er Jungkook ohne Vorwarnung oder einer nachfolgenden Erklärung geküsst hatte.
Wieder schlug Taehyung seine Hand vor den Mund. Zu sehen, wie sie im Schnee rumtollten, als wären sie Kleinkinder, war ein schmerzlicher Anblick. Er erinnerte sich genau an diesen Tag. Nahezu jedes winzige Detail hatte er abgespeichert, es war fest in seinen Erinnerungen verankert.
Taehyungs jüngeres Ebenbild stand neben ihm, griff nach der Hand des Erwachsenen und betrachtete mit ihm zusammen die Szene, die sich vor ihnen abspielte.
Taehyung wendete seinen Blick ab, als er sah, wie sie kurz davor waren, den größten Fehler ihres Lebens zu begehen.
"Warum guckst du weg?", fragte der Jüngere. In seiner Frage war weder ein Vorwurf zu hören, noch wirkliche Verwunderung. Taehyung schluckte leer, während seine Gedanken sich zu einem unlösbaren Knoten verstrickten. "Der Kuss war eine Scheiß Idee... das weiß ich jetzt... unsere Freundschaft ging daran kaputt. Und... das war der Moment, in dem ich alles zerstört habe", stellte er fest, denn auch Jahre später bereute er es, das getan zu haben. Er hätte einfach aufstehen und mit ihm weiter im Schnee tollen sollen. Dann wäre Kookie jetzt noch bei ihm und er müsste nicht mit dem Gewissen leben, seinen besten Freund in den Tod getrieben zu haben.
"Der Kuss war nicht das Problem, Taehyung", konterte der Junge mit traurig belegter Stimme.
"Was? Wie meinst du das? Natürlich war das das Problem. Hätte ich ihn nicht geküsst, dann wäre das alles nicht passiert. Dann... dann wären wir niemals im Streit auseinander gegangen und Kookie... wäre jetzt noch hier."
Es dauerte einen Moment, bis der Junge nach einem frustrierten Seufzen endlich zur Antwort ansetzte. "Du tust es schon wieder. Du bereust, ja. Aber du verkriechst dich in deinem Selbstmitleid und wirst blind für das Entscheidende. Denk doch mal nach, Taehyung. Hast du aus den Fehlern damals wirklich etwas gelernt? Ich glaube nicht."
Taehyung fühlte sich auf seltsame Art und Weise ertappt. Die Worte des Jungen trafen ihn mit abscheulicher Sicherheit. Dieser verdammte Junge hielt ihm vor Augen, dass er die letzten Jahre genauso weiter gemacht hatte, wie zuvor. Dass er sich wirklich in seinem Selbstmitleid verkrochen hatte, aber niemals den Mut aufbringen konnte, etwas zu verändern. Er hatte immer versucht vor seinen elendigen Schuldgefühlen zu flüchten, hatte sich gewünscht, alles rückgängig zu machen. Aber dabei hatte er übersehen, dass er die selben Fehler machte, wie Jahre zuvor schon bei Jungkook. Am deutlichsten wurde ihm das, als er an seine Eltern dachte.
Seit fünf Jahren trieb er sie in die Verzweiflung, nicht absichtlich, und doch tat er es. Er ruhte sich in seinem Leid aus, statt endlich mal wach zu werden und seinen Eltern zu danken, was sie alles für ihn taten.
Taehyungs Atmung stockte, als er an den alten Mann zurück dachte. Hatte er das damit gemeint, als er sagte, Menschen wären manchmal ziemlich blind und ungeschickt? Was hatte er nochmal ganz genau gesagt? Achja.
Manchmal werden Menschen blind und sehen nur noch das Schlechte um sie herum, obwohl es immer noch Menschen gibt, die einen lieben. Leider sind wir Menschen in dem Punkt ziemlich ungeschickt.
"Jetzt versteh ich es, glaub ich. Ich... ich bin wirklich ganz schön blind. Ich hab es immer bereut, Jungkook als selbstverständlich anzusehen, dabei hab ich mich da kein bisschen verändert. Ich sehe meine Eltern und meine Schwester doch auch als selbstverständlich an, obwohl sie es nicht sind. Es ist nicht selbstverständlich, dass sie da sind. Ich... ich hab ihnen niemals gedankt dafür, was sie alles für mich tun. Ich hab ihnen nie gesagt, wie froh ich bin, dass sie da sind." Taehyungs Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern. "Ich bin so ein Idiot... ich bin noch genauso egoistisch wie damals."
Das jüngere Ebenbild Taehyungs grinste den größeren zufrieden an. "Endlich scheinst du zu begreifen, Taehyung."
Der Angesprochene konnte jedoch nicht darauf antworten, denn in dem Moment sah er, wie Jungkook neben seinem 17jährigen Ich saß, kurz davor, die Flucht zu ergreifen. "Ich... sollte dann mal nach Hause", hörte er Jungkook die Worte von damals sagen.
Taehyung bemerkte erst jetzt, dass Jungkook ihn mehrfach angesehen und zu reden angesetzt hatte. Auch das hatte er damals nicht mitbekommen. Genauso wenig, wie das nervöse Kauen auf seiner Unterlippe, kurz bevor er aufstand und die Flucht ergriff.
Taehyung hätte am liebsten sofort in die Szene eingegriffen, aber er wusste, dass es nur Bilder der Vergangenheit waren und sie ihn weder sehen noch hören konnten. Es war also sinnlos, seinem damaligen Ich zu sagen, wie er stattdessen hätte reagieren sollen. Nun war Taehyung es, der unruhig auf seiner Unterlippe rumkaute, während die kindliche Stimme neben ihm sanft fragte: "Willst du wissen, warum Kookie dieser Kuss so durcheinander gebracht hat?"
Taehyung überlegte angestrengt. Wenn er ehrlich war, nein. Er wollte nicht sehen, wie Kookie unter seinem Egoismus litt und was er ihm angetan hatte. Dennoch wusste er, dass es wichtig war. Der Junge hatte Recht. Natürlich konnte es Jungkook nicht mehr lebendig machen, aber zumindest könnte er daraus lernen und sich endlich ändern. Wenigstens das war er Jungkook schuldig und sicher würde es ihn freuen, wenn sein Tod dadurch ein bisschen weniger sinnlos war.
Taehyung steckte seine Hand zu dem kleinen Jungen aus, als Zeichen, dass er bereit war.
Diesmal war Taeyung auf das grelle Licht vorbereitet, nicht aber darauf, Jungkooks bitteres Weinen zu hören.
Panisch riss Taehyung die Augen auf und erkannte, dass sie in Jungkooks Zimmer standen. Er kannte das Zimmer seines damaligen Freundes gut, immerhin hatten sie dort zusammen sehr viel Zeit verbracht. Schwermut erfüllte ihn, als er die vielen bekannten Dinge von früher sah. Der unordentliche Schreibtisch, die vielen Poster von Idolen an den Wänden und die Spielekonsole, an der sie unzählige Stunden verbacht hatten. Aber das war nichts im Vergleich dazu, seinen Freund zu sehen, der sich auf sein Bett geschmissen hatte und sein Gesicht nun weinend in seinem Kopfkissen vergrub.
Wie gerne wäre er zu ihm gegangen, hätte ihm beruhigend über den Rücken gestreichelt und erklärt, dass er ein totaler Idiot gewesen ist. Seinen Verstand hatte er längst beiseite geschoben, die Worte seines jüngeren Ichs hatte er ausreichend ignoriert und war nun dabei, einige unsichere Schritte auf das Bett zuzugehen. Auf Jungkook zuzugehen. "Kookie... hör auf zu weinen... bitte. Ich bin so ein Idiot gewesen. Wie konnte ich dir das nur antun?", murmelte er traurig, auch wenn Jungkook auf keiner seiner Worte reagierte.
Er streckte seine Hand aus, doch erreichen konnte er Jungkook nicht.
"Hör doch auf, Jungkook. Bitte. Wein nicht wegen so einem Idioten wie mir...", flehte er erneut, doch Jungkook antwortete genauso wenig wie davor.
"Tae, es gibt etwas, was du wissen solltest", erklang die kindliche Stimme erneut, woraufhin Taehyung einen tiefen Atemzug nahm. Sein Blick haftete trotzdem nach wie vor auf Jungkook, auch wenn er seinem Ebenbild zuhörte.
"Die Sache ist die... Kookie hat sich schon vor dem Kuss in dich verliebt. Er wollte es dir eigentlich an dem Tag sagen, aber dann kam der Kuss. Erst hatte er Hoffnung, dass du genauso fühlen würdest wie er. Aber nach deinen Worten brach eine Welt für ihn zusammen. Verstehst du jetzt? Der Kuss war nicht der Auslöser eurer Probleme. Er hat nur das ans Tageslicht gebracht, was viel zu lange verborgen war."
Taehyung drehte seinen Kopf mit fragenden Blick zu dem Jüngeren. "Was? Woher... woher weißt du das alles? Woher weißt du, dass er vorher schon... Gefühle für mich hatte?"
"Auf dem Schreibtisch liegt ein Brief. Jungkook hat ihn damals geschrieben und wollte ihn dir geben. Aber dann hat es angefangen zu schneien. Er hat ihn liegen gelassen, weil er sofort zu dir gelaufen ist..."
Taehyung sah zum Schreibtisch, überlegte, ob er hingehen und ihn lesen sollte, doch er schaffte es nicht. Sattdessen sah er wieder zu Jungkook, der unaufhörlich weiter schluchzte. Taehyung fühlte sich wie erschlagen von den vielen Gefühlen und Gedanken und gleichzeitig war es, als wäre alles taub geworden. Als habe er in den letzten Minuten zu viel gefühlt und gesehen, um überhaupt noch auf etwas reagieren zu können. Er war erschöpft von den vielen Eindrücken. Einen Brief, in dem Jungkook seine Liebe gestand, packte er nicht. Es wäre zu viel gewesen.
Es war schon jetzt zu viel.
Taehyungs Stimme klang gebrochen. "Ich... bitte lass uns wieder zurück gehen. Ich kann nicht mehr. Ich... ich weiß, es klingt egoistisch, aber ich kann nicht noch mehr ertragen. Es reicht. Das ist alles zu viel... Bitte."
Taehyungs kindliches Ebenbild schien Mitleid zu bekommen, denn nachdem er nochmal tief durchgeatmet hatte, stimmte er der Bitte zu.
"Ich glaube, es ist okay, wenn wir eine kurze Pause machen. Du hast viel, worüber du nachdenken musst und vieles gesehen, was dich überfordert. Aber denk dran, eine letzte Reise wartet noch auf uns."
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Ich möchte mich nochmal bei euch entschuldigen, dass die letzten Tage so durcheinander waren und ich erst verspätet uploaden konnte ;_;
Ich hoffe, dass es jetzt wieder besser klappt!
Mich würde interessieren, was ihr von dem Kapitel haltet. Ist es nachvollziehbar? Gibt es Fragen oder Unstimmigkeiten? Wenn ja, dann lasst es mich gerne wissen.
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