Sonntag, 17.12.23
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Heute Nachmittag bin ich noch mal bei Yoongi. Seltsam, wie glücklich ich darüber bin. Aber, hei, es ist nette Gesellschaft! An der Uni hab ich noch nicht so viele Kontakte. Ich bin einer von ganz wenigen, die nicht in der Stadt wohnen sondern pendeln müssen. Der Knirps ist einfach Zucker. Es macht Spaß, Yoongi und seinen Sohn glücklich zu machen.
Hm. Heute ist dritter Advent. Ich könnte einfach mal Kekse backen und Min-jun ein paar mitbringen. Reicht die Zeit? Reicht!
Ich stürze mich auf meine Miniküche und krempele die Ärmel hoch. Nach zwei Stunden habe ich meine drei Lieblingssorten gebacken und packe davon jeweils ein paar in eine Dose. Dann ziehe ich mich warm an und radele los.
Bei Yoongi gibts das selbe Spiel wie beim ersten Mal - klingeln, Fahrstuhl, abwarten. Die Tür geht auf, Yoongi steht vor mir, und hinter ihm ... steht kein Min-jun. Doch nicht das selbe. Ich grinse Yoongi an.
"Hi, Yoongi. Ist Min-jun so enttäuscht, dass Miryo nicht kommt, dass er mich jetzt mit Nichtachtung bestraft?"
Min-jun schläft heute sehr lang, was ungewöhnlich ist, wenn er früh im Bett war. Gegen 10 Uhr gehe ich in sein Zimmer und sehe, dass er immer noch schläft. Der Tag war zwar anstrengend, aber das kommt mir doch komisch vor. Vorsichtig wecke ich ihn und frage, ob er nicht langsam mal aufstehen möchte. Minnie schüttelt den Kopf und vergräbt sich wieder unter seiner Decke.
Wird er krank? Bei der Aufregung der ganzen letzten Tage wäre das kein Wunder. Außerdem waren sie gestern lange im Schnee. So abwegig ist das nicht. Das wäre jetzt, so kurz vor Weihnachten, wirklich das Letzte, was wir gebrauchen könnten. Vor allem wenn Miryo jetzt länger ausfällt und ich mich dann krankmelden müsste. Jetzt geht's aber erstmal darum, meinen Sohn zu versorgen.
Ich bereite ihm einen Tee zu, hole ein Fieberthermometer und stelle fest, dass er eine erhöhte Temperatur hat. Ich setzte mich auf sein Bett, bitte ihn, etwas zu trinken und warte ab. Es dauert ziemlich lange, bis er soweit ist, dass er aus seinem Bett krabbelt. Er steuert zunächst das Bad an, kuschelt sich anschließend direkt auf die Couch unter eine Decke. Ich lasse ihn seine Serie gucken, ehe ich ein kleines Frühstück zubereite.
In 2 Stunden will Tae hier sein, aber ich weiß noch nicht, ob das heute so einen Sinn hat. Absagen will ich Tae trotzdem nicht, immerhin ist es nicht mehr lange bis Weihnachten und wenn ich nicht mit leeren Händen dastehen will, muss ich heute an der Garage weiterarbeiten. Meine einzige Hoffnung ist, dass es Min-jun gleich ein bisschen besser geht. Ich kenne das ja schon. Morgens und abends ist es immer schlimmer, tagsüber geht es meistens sogar irgendwie.
Minnie ist heute derjenige, der auf Standby-Modus läuft. Ich würde gerne etwas tun, aber Minnie macht deutlich, dass ich ihn einfach in Ruhe lassen soll.
Als Taehyung klingelt, ist Minnie immer noch nicht richtig da, deswegen öffne ich die Tür allein. Bei seiner Begrüßung streckt mir mir eine Dose Plätzchen entgegen, dir ich dankend annehme. Dann muss ich schmunzeln. "Hey Tae. Schön wär's... Minnie ist am Kränkeln und liegt die ganze Zeit nur auf der Couch. Ich hoffe, das ist kein Problem für dich. Ich hatte überlegt, abzusagen, aber naja... wir haben nicht mehr viel Zeit und..."
Tae fällt mir ins Wort.
"Nicht so negativ, bitte. Wir machen doch was Schönes. Lass mich erstmal rein, und dann sehen wir weiter. Das ist unser letztes Wochenende. Wir kriegen das schon hin."
Yoongi ist besorgt, und das kann ich verstehen.
Aber er macht sichs auch nicht leicht. Für ihn sehen irgendwie die Berge immer höher aus, als sie sind.
Wir gehen erstmal ins Wohnzimmer, wo Min-jun dick eingemummelt auf der Couch hängt wie ein Schluck Wasser in der Kurve. Mehr oder weniger apathisch starrt er auf die Glotze, wo eine animierte Kindersendung vor sich hinzappelt. Ich schaffe es nicht, seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
Hm. Ganz toll. Wenn ich an meine kleinen Geschwister denke ... Der ist so weit weg, dass er die Säge nicht hören wird. Aber wenn er Papa braucht, wird er ihn suchen und plötzlich bei uns reinlatschen.
"Yoongi? Fällt dir irgendjemand anderes ein, der sich um ihn kümmern könnte? Ansonsten bleib ich bei ihm, und du hast den Rücken frei, um zu arbeiten. Könnte das gehen?"
Ich bin erstaunt, wie sorglos Tae manchmal wirkt und wie gut er dennoch mitdenkt. Denn er hat Recht. Wir können uns nicht beide verkrümeln, weil einer mal zumindest auf Minnie aufpassen muss. Sein Vorschlag ist gut, aber ich traue mich nicht, die Garage alleine weiterzubauen. Wenn ich die versaue, bekommt Minnie kein Weihnachtsgeschenk...
"Hoseok!", sage ich laut, als ich mögliche Optionen durchgehe. Tae schaut mich fragend an, also erkläre ich: "Das ist mein Nachbar. Sehr nett. Er arbeitet von zuhause aus und hat mir mal gesagt, dass er zeitlich nicht gebunden ist. Ich könnte ihn fragen."
Tae nickt enthusiastisch. "Dann auf! Ich passe solange auf Minnie auf, dann könntest du zu diesem Nachbar gehen und ihn fragen."
Gesagt, getan. Ich sage Minnie noch Bescheid, sehe, dass Tae sich zu ihm setzt und gebannt auf den Fernseher schaut. Ich schätze, dass ich die beiden getrost einen Moment allein lassen kann, auch wenn mein Sohn am kränkeln ist. Ich ziehe schnell noch meine Schuhe an und mache mich auf den Weg zu Hoseok.
Ein bisschen aufgeregt bin ich schon, als ich bei ihm klingele. Es dauert nicht lange, bis er mir die Tür aufmacht und ganz überrascht schaut.
"Yoongi? Hey."
"Ich hoffe, ich störe dich nicht", beginne ich entschuldigend, "aber ich hab ein kleines Problem."
Hoseok macht einen Schritt zur Seite, bittet mich herein und fragt, was los ist.
"Bald ist Weihnachten. Ich habe angefangen mit einem Freund etwas für Min-jun zu bauen. Als Geschenk. Er ist heute aber etwas am kränkeln, und ich möchte ihn ungern allein lassen. Zumal ich Sorge habe, dass er etwas davon mitbekommt und dann weiß, dass es den Weihnachtsmann nicht gibt."
"Und jetzt willst du fragen, ob ich solange ein Auge auf ihn werfen kann?"
"Nur, wenn es keine Umstände macht."
"Hallo? Natürlich macht das keine Umstände. Ich fühle mich sogar geehrt, dass du mir so sehr vertraust. Klar mache ich das."
Hoseok grinst und teilt mir mit, dass er nur noch eben was fertig machen will und dann direkt hoch kommt zu uns.
Ich bedanke mich und kehre zu Minnie und Tae zurück. Mit guten Neuigkeiten. Das war eine gute Idee, denn so bin ich positiv gestimmt, dass Tae und ich die Garage heute noch fertig kriegen.
Hatte ich heute was anderes vor? Keine Ahnung. Kann nicht wichtig gewesen sein. Yoongi scheint es echt schwer zu haben und sich damit auch schwer zu tun. Natürlich springe ich dann ein. Der kleine Fratz soll nicht alleine sein, wenn er krank ist.
Ich frühstücke zu Ende, puste die Kerzen aus, stelle den CD-Player ab und schaue mich suchend um.
Irgendwas ... oh, ich weiß! Ich nehme eine meiner Schneekugeln mit. Damit kann Min-jun sich ganz lange still beschäftigen, wenn ihm danach ist.
Ich greife nach meiner liebsten Kugel, die mit dem winzigen Wald voller winziger Tiere und dem Stern am Himmel. Damit gehe ich die Treppe rauf und mache mich auf alles gefasst.
Im Wohnzimmer sitzen Yoongi und sein junger Bekannter neben Min-jun auf dem Sofa. Der Kleine sieht heute noch kleiner aus, müde, abwesend. Und der Vater sehr besorgt. Ich hocke mich dazu.
"Hallo Min-jun. Mensch, was machst du denn für Sachen? Pass auf. Papa muss jetzt irgendwas Geheimnisvolles tun, und so lange bin ich bei dir, damit du mir sagen kannst, wenn du was brauchst."
Min-jun reagiert nicht auf mich. Aber das wird schon.
Ich reiche dem Fremden die Hand.
"Ich bin Hoseok. Und ich wünsche euch viel Spaß und viel Erfolg bei was auch immer."
Er grinst mich an und antwortet.
"Hi! Ich bin Taehyung. Oder Tae. Danke, dass du einspringst. Komm, Yoongi. Dann lass uns mal zu 'was auch immer' gehen."
Yoongi streichelt seinem Sohn noch mal über den verwuschelten Kopf. Dann verschwinden die beiden nach nebenan. Plötzlich kommt eine kleine Hand aus dem dicken Deckenberg und fängt an zu suchen. Ich reiche ihm meine Hand. Er greift sie fest und starrt weiter auf den Fernseher zu irgendwelchen sprechenden Autos. Ich mache es mir in dieser Position bequem.
Er scheint einfach einen Halt zu brauchen. Seltsam. Diese zierliche Kinderhand in meiner großen Erwachsenenhand. So viel Vertrauen. Das berührt mich tief.
Ich bin wirklich froh, dass Hoseok einspringt. So kann ich mich voll und ganz auf die Garage konzentrieren. Taehyung scheint es kaum erwarten zu können, daran weiterzuarbeiten, aber wie beim letzten Mal auch, ist er sehr bedacht darauf, dass ich möglichst viel selbst mache.
Eine ganze Weile arbeiten wir Hand in Hand, sägen das Holz passend zurecht und verleimen die ersten Teile, ehe wir sie noch mit Nägeln verstärken. Es macht Spaß, ich blende den Rest um mich herum aus und konzentriere mich nur auf die Arbeiten mit dem Holz. Ich merke dadurch gar nicht, wie die Zeit vergeht. Erst, als es später an der Tür klopft, lege ich die Arbeit zur Seite. Schnell eile ich zur Tür, Tae versteckt derweil das stellenweise zusammengesetzte Holz, aber wir machen uns unnötig Sorgen. Es ist nur Hoseok, von Minnie ist nichts zu sehen.
"Er schläft. Tief und fest."
Erleichtert atme ich tief durch. "Sehr gut. Ich hoffe, er kann sich wieder richtig gesund schlafen bis morgen. Ich möchte ihn nicht in den Kindergarten geben, wenn er so platt ist."
Hoseok nickt verstehend, linst dann an mir vorbei ins Schlafzimmer. Min-jun ist wohl nicht der einzige hier, der eine unmenschlich hohe Neugier hat. Ich gehe ein Stück zur Seite und frage, ob er sich mal ansehen will, was wir bis jetzt fabriziert haben.
Wenn du wüsstest, was ich eigentlich hier sehe! In diesem Raum wohnt eine Frau. Im Rest der Wohnung aber nicht!
"Ganz viel Holz! Was wird das denn, wenn es fertig ist? Sieht spannend aus."
Dieser Taehyung hält zwei miteinander verleimte Spanbretter hoch und zeigt auf zwei weitere.
"Das sind die Außenwände einer Parkgarage für Min-juns viele Autos."
Das will ich kapieren. In den drei Monaten hier im Haus habe ich nie eine Frau gesehen, nie eine weibliche Stimme gehört. Yoongi und Minnie reden nicht über eine Frau oder Mutter. Hier ist also keine Frau!
Ich zeige auf zwei runde Spülbürsten, wie sie in Kneipen für die Gläser benutzt werden.
"Und was wird das da?"
Yoongi lächelt.
"Das hab ich mich auch gefragt, als Tae im Baumarkt danach gegriffen hat. Das wird eine kleine Waschstraße, da an der Seite."
Es muss aber eine gegeben haben, sonst würde Min-jun nicht existieren. Es sieht hier nicht so aus, als hätte Yoongi sie nicht geliebt. Das spricht gegen eine Scheidung. Dann hätte der Junge auch Erinnerungen, vielleicht Bilder in seinem Zimmer. Aber wo ist sie? Etwa ... Hoffentlich nicht! Das wäre grausam. Ist aber nicht ganz unwahrscheinlich. Er lebt in diesem Raum wie in einem Mausoleum.
"Soll ich dann nebenan den Fernseher ausmachen, damit Minnie tief schlafen kann? Oder ist dir lieber, dass es bei einem Nickerchen bleibt?"
Wenn ich richtig vermute ... befürchte ... Hat er das Ausräumen einfach vergessen? Hält er allein den Gedanken nicht aus? Hat er niemand, der ihm den Rücken stärkt? Wie erträgt er das?!?
Und was mache ich jetzt? Das kann doch nicht noch dreißig Jahre so bleiben! Das muss kräftezehrend sein ohne Ende. Er MUSS sich lösen, damit er mit und für Min-jun ... und für sich selbst! nach vorne blicken kann. Wenn ich recht habe mit meinem furchtbaren Verdacht.
"Gut, dann gehe ich einfach wieder rüber und lese was."
Ich nicke den beiden zu, gehe rückwärts wieder raus und verschwinde zum schlafenden Min-jun. Ich habe eine Gänsehaut.
Sofort notiere ich mir meinen Gedankenwust.
"Achso, den Fernseher kannst du ruhig anlassen. Wenn du den jetzt ausmachst, würde Minnie sofort wieder wach werden."
Tae stimmt mir aus dem Hintergrund zu und sagt, dass es bei seinen Geschwistern auch immer so ist. Danach scharrt er aber schon wieder mit den Füßen, weil wir gerade an einer Stelle sind, für die wir alle vier Hände brauchen.
Wir werkeln noch eine ganze Weile weiter, bis Hoseok nochmal an der Tür klopft und uns mitteilt, dass da jemand ganz große Sehnsucht nach dem Papa hat. Zum Glück sind wir soweit mit dem Bau fertig. Ich muss die Garage jetzt nur ordentlich durchtrocknen lassen, ein paar Kleinigkeiten anbringen und sie dann anmalen. Das schaffe ich in den letzten Tagen noch, selbst wenn Tae mir nicht mehr helfen kann. Wir beschließen daher, es für heute gut sein zu lassen und trollen uns zu den anderen beiden ins Wohnzimmer. Dort erkenne ich, dass Hoseok Minnie sogar Tee gemacht und einen Apfel aufgeschnitten hat. Gerade ist er aber dabei, eine Schneekugel eingehend zu betrachten.
Meine Gedanken fliegen in Windeseile in mein altmodisches Notizbuch, das ich immer bei mir habe. Ich kann und werde sicher nicht einen Roman über Yoongi schreiben. Aber als Schriftsteller muss ich einfach dieses Schicksal festhalten. Wer weiß, was daraus mal wird.
Ich klappe grade die Kladde zu, da raschelt neben mir die Decke. Min-jun wimmert, wacht auf und sieht sich um.
"Papa? Papa! Wo bist du? Ich will nicht alleine sein!"
Ich setze mich in sein Blickfeld.
"Shhhhht. Alles gut, Minnie. Dein Papa ist nicht weg. Er ist nebenan. Soll ich ihn holen?"
Ich streiche ihm eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn. Der Junge hat Fieber.
"Ich will meinen Papa haben. Mein Bauch tut so weh. Und ich hab Durst. Und ich hab Angst."
"Ich geh sofort, ihn holen. Und dann mache ich dir einen süßen Tee und eine Wärmflasche. Was hältst du davon?"
Min-jun hickst kläglich und nickt.
Ich mache mich auf in die Küche, setze heißes Wasser auf, suche mich durch die Schränke nach Tee, schneide einen Apfel auf. Im Bad finde ich eine Kinderwärmflasche, dann gehe ich nach nebenan zu Yoongi. Er erschrickt und verspricht, gleich zu kommen. Die Garage scheint fast fertig zu sein. Und die sieht toll aus!
Ich gieße den Tee auf, fülle die Wärmflasche und packe alles auf ein Tablett. Minnie blickt mir ängstlich entgegen.
"Papa kommt ganz gleich. Er muss nur noch eine Winzigkeit fertig machen. Dann ist er für dich da."
Ich baue Minnie einen bequemen Sitz aus Kissen, packe ihm die Wärmflasche auf den Bauch, lasse ihn trinken. Die Apfelstückchen stelle ich in seine Nähe und hole dann meine Wunderwaffe aus der Tasche.
"Schau mal. Weißt du, was das ist?"
Er staunt, schüttelt den Kopf.
"Ich sammele solche Schneekugeln, seit ich ein Kind bin. Du musst die nur schütteln. So. Siehst du?"
Min-jun bekommt kugelrunde Augen und greift andächtig nach dem kleinen Schneewunder. Er taucht augenblicklich ab in die watteweiße Waldlandschaft und nimmt nichts anderes mehr wahr. Nicht einmal, dass sein Vater mit Taehyung zur Tür reinkommt.
Armes Würmchen. Der ist echt hinüber. Wenn einer von meinen Kleinen so krank ist, leide ich auch immer mit wie Sau. Hoffentlich geht's ihm bald wieder besser.
"Yoongi, ich glaube, ich mache mich auf den Weg. Wir sind sehr weit gekommen, den Rest schaffst du. Sag Bescheid, wenn Du mich brauchst. Und wie gesagt. Ich würde liebend gerne dabei sein. Mach bitte ein Foto für mich."
Mein neuer Freund steht auf und will mich zur Tür bringen, aber Min-jun hält ihn fest.
"Lass gut sein. Ich finde den Weg raus. Bleib lieber bei Min-jun. Und du, Minnie ruhst dich ganz viel aus. Dann bist du bald wieder gesund."
Mit einem Winken bin ich zur Tür raus.
Ich bedanke mich nochmal bei Tae, ehe er sich auch schon verabschiedet und zur Tür raus ist. Ob er weiß, wie grenzenlos dankbar ich ihm bin? Er hat unser Weihnachtsfest gerettet. Dieses Jahr wird Minnie nicht wieder glauben müssen, dass er weniger geliebt wird als andere Kinder. Und gerade in den letzten Tagen habe ich selbst das Gefühl bekommen, dass es Menschen um mich herum gibt, die mir und meinem Sohn wohlgesinnt sind und die mich unterstützen, wenn sie können. Und dass wir gar nicht so alleine dastehen, wie es auf mich die letzten Jahre gewirkt hat.
Während ich darüber nachdenke und meinem Sohn dabei über den Rücken kraule, schläft er wieder ein. Ich kriege es erst gar nicht mit, aber Hoseok tippt mir an die Schulter und deutet auf Minnie. Die Schneekugel hat er immer noch in der Hand, als wollte er sie selbst im Schlaf nicht hergeben.
Ich seh schon - mein Zauberwald wird bald jemand anderes Lieblingsschneekugel sein. Das bringe ich echt nicht übers Herz, ihm die wieder wegzunehmen. Vielleicht zu Weihnachten? Aber jetzt zu Yoongi. Ich glaube, ich packe den Stier sofort bei den Hörnern.
"Yoongi?"
"Ja?"
WOW, kann der schnell von jetzt auf gleich nervös werden!
"Wir kennen uns noch nicht lange, aber du und dein zauberhafter Sohn, ihr seid mir schon jetzt ans Herz gewachsen. Deshalb möchte ich etwas ansprechen, auch wenn es sehr persönlich zu sein scheint."
Yoongi erstarrt.
Ich warte einen Moment, ob er das ablehnt, dann rede ich weiter.
"Unsere Wohnungen sind deckungsgleich, nur gespiegelt. Deshalb finde ich mich hier auch gut zurecht. Und ... mir ist etwas aufgefallen. Du wohnst mit deinem ungefähr vierjährigen Sohn hier, es ist eindeutig eine Männerwohnung. Nicht zu ordentlich, nicht geleckt wie aus dem Katalog, sondern einladend und gemütlich. Männlich. Wo ist deine Frau? Wo ist Min-juns Mutter?"
Wieder warte ich einen Moment, ob eine Reaktion kommt.
Nichts.
"Dein Schlafzimmer - ... ist der einzige Raum, in dem eine Frau lebt. Hier ist aber keine. Wenns nicht geht, musst du mir gar nichts erzählen. Ich habe nur das Gefühl, ich könnte deine heimliche Last mit Händen greifen. Magst du sie mit mir teilen, damit sie kleiner wird?"
So. Noch mehr Fragen kann ich nicht stellen, ohne wenigstens eine Antwort bekommen zu haben.
Leider bleibt es nicht lange so gemütlich, denn Hoseok spricht ein für mich sehr sensibles Thema an. Meine Frau. Ich bin aber nicht in der Lage zu antworten. Hoseok ist ja nicht der einzige, der dieses Thema in letzter Zeit angesprochen hat und ich fühle ...
Ja. Was genau fühle ich eigentlich? Wut? Trauer? Angst? Keines der mir bekannten Wörter passt so richtig. Im Gegenteil. Je mehr seine Worte auf mich wirken, desto mehr verliere ich den Bezug zu meinen Gefühlen. Ich werde taub. Und leider ist das ein Zustand, den ich sehr gut kenne.
Es ist mir schon schwer gefallen, mit Namjoon darüber zu sprechen. Tae hat es ebenfalls gemerkt. Jetzt Hoseok. Und gerade kriege ich Angst, dass Jimin morgen genau dasselbe Thema ansprechen wird. Wieso wollen die Leute das immer unbedingt wissen? Reicht es nicht, dass wir diese Situation erleben mussten? Muss ich darüber jetzt auch wirklich noch mit anderen sprechen? Ich weiß doch, dass ich noch nicht damit abgeschlossen habe, aber so kurz vor Weihnachten ist wohl der denkbar schlechteste Zeitpunkt, sich damit auseinanderzusetzen.
Obwohl ich immer noch dieses Gefühl der Taubheit habe, merke ich, wie mir Tränen über die Wange laufen, mein Herzschlag stellt neue Rekorde auf und ich fühle mich, als wäre ich nicht länger Teil meines Körpers. Ich will weg. Will nicht über Soo-Ae reden oder darüber, wie es mir mit ihrem Verlust geht.
Nur weg von hier.
Vorsichtig schiebe ich Minnie von meinem Schoß herunter, bekomme einen irritierten Blick von Hoseok zugeworfen und stehe trotzdem auf. Mein Hals ist wie zugeschnürt, ich kriege keine Luft mehr.
Ich winke Hoseoks Versuch einer Entschuldigung ab, flüchte mich ins Bad und schließe die Tür hinter mir. Hoffentlich folgt er mir nicht. Ich muss mich wieder einkriegen. Wieder atmen können. Aber nichts dergleichen passiert. Stattdessen schwindet meine Kraft, meine Maske fällt. Ich breche weinend am Waschbecken zusammen und schaffe es nur so gerade eben, den Wasserhahn anzumachen, damit mein Geschluchze nicht in der ganzen Wohnung zu hören ist. Wie erbärmlich.
Ich weiß doch, dass es nicht richtig ist, was ich tue. Dass ich mich von Soo-Ae verabschieden muss. Dass ihre Sachen aus dem Schlafzimmer aussortiert werden müssen. Aber ich habe dazu nicht die Kraft! Ich hatte so sehr gehofft, dass es irgendwann besser wird, aber es ändert sich nichts. Es ist vier Jahre her und trotzdem fühlt es sich an, als würde man mir das Herz rausreißen, wenn ich gefragt werde, was mit meiner Frau ist.
Wieso kann ich das nicht einfach alles vergessen? Ich habe nicht mehr die Kraft, jeden Tag mit diesem Schmerz zu leben. Vielleicht war es ein Fehler, mich diesen Menschen anzuvertrauen. Sie alle wollen unbedingt, dass ich den Verlust verarbeite, niemand versteht, dass ich nur vergessen will. Es gefällt mir zwar nicht, aber dann muss ich in nächster Zeit wohl wieder alleine klarkommen. Ich habe es all die Jahre ohne sie geschafft, also werde ich das jetzt auch wieder schaffen.
Als die Tränen endlich aufhören und ich aus dem Bad komme, fühle ich mich immer noch taub, aber diesmal passt die Beschreibung Kälte wohl besser. Im Wohnzimmer angekommen, achte ich penibel darauf, Hoseok nicht anzusehen. "Tut mir Leid. Du hast mir sehr geholfen und ich bin sehr dankbar, aber ich glaub, es ist besser, wenn du jetzt gehst."
Mehr sage ich nicht, aber das muss ich scheinbar auch nicht.
Ach, Hoseok. Sind mal wieder die Pferde mit dir durchgegangen. Jetzt sitzt der arme Mann im Bad, heult sich die Seele aus dem Leib und macht den Wasserhahn an in der Hoffnung, dass ich das nicht kapiere.
Das sind die seltenen Momente, in denen ich es hasse, ein gutes Gespür für Menschen und eine blühende Phantasie zu haben. Ich verstehe ja, dass das 'was auch immer' schmerzt, eben weil er es noch nicht abgearbeitet hat sondern diese offene Wunde in sich rumträgt. Aber genau darum muss ihn doch mal jemand so erreichen, dass er durch den Schmerz hindurch gehen und frei davon werden kann. Diese Wunde muss heilen, weil er sie sonst an Min-jun weitergibt.
Ich scheine jedenfalls nicht der richtige dafür zu sein.
Nach einer ganzen Weile kommt Yoongi wieder, sieht mich nicht an, stellt sich weit von mir weg. Kämpft mit sich. Er hat eindeutig geweint, sich dann Wasser ins Gesicht geklatscht, um die Tränenspuren zu verstecken.
Er leidet wie Hund. Und ich Esel habe in der Wunde gebohrt. Da muss ich jetzt durch.
"Es tut mir sehr leid. Natürlich gehe ich. Und ich komme auch wieder, wenn du mich nochmal brauchst. Bitte vergiss das nicht."
Ich stehe auf und gehe Richtung Wohnzimmertür. Plötzlich kommt Leben in meinen verzweifelten Nachbarn. Mit zwei Schritten ist er bei Min-jun, nimmt ihm ganz vorsichtig die Schneekugel aus den kleinen Händen und hält sie mir wortlos hin. Verblüfft greife ich danach, deute eine Verbeugung an und gehe.
Sobald Hoseok weg ist, wird es plötzlich sehr still in der Wohnung. Minnie regt sich langsam wieder. Ich setze mich zu ihm auf die Couch. Mein ganzer Plan ist dahin. Ich wollte Kochen, wollte Hoseok als Dank einladen zum Essen. Jetzt habe ich nicht einmal mehr die Kraft, meinem Sohn einen neuen Tee zu machen. Ich fühle mich ganz elendig, und das mache ich mir selbst zum Vorwurf. Min-jun ist derjenige, dem es heute nicht gut geht. Ich als sein Vater sollte für ihn da sein. Stattdessen beschäftige ich mich nur mit mir selbst und meinem Schmerz. Das hat mein Sohn wirklich nicht verdient!
Leicht desorientiert blickt er sich um.
"Papa? Wo... ist Hobi? Und wo ist die Schüttelkugel?"
"Er ist grad gegangen. Aber das spielt grad keine Rolle. Geht es dir etwas besser jetzt? Hast du noch Fieber?"
Min-jun zuckt mit den Schultern, also lege ich meine Hand auf seine Stirn. Fühlt sich auf jeden Fall schon etwas besser an.
"Das Fieber scheint immerhin runter gegangen zu sein. Hast du schon Hunger? Soll ich uns eben Abendessen machen?"
Minnie zuckt wieder nur mit den Schultern, sieht sich suchend um. Es macht wirklich den Anschein, als würde Minnie nach Hoseok Ausschau halten. Verübeln kann ich es ihm nicht, schließlich hat er sich gut um ihn gekümmert. Er hat nur das falsche Thema angesprochen ...
Der gesamte Abend geht so zäh weiter. Ich versinke immer wieder in Grübeleien, und Minnie schweigt. Das Essen verläuft genauso schweigsam, ebenso das Zubettgehen. Schön ist das nicht, sondern nur frustrierend, anstrengend und kräftezehrend. Ich bin schlecht gelaunt, und das Fernsehprogramm macht es nicht besser. Ich überlege ins Bett zu gehen, aber irgendwas in mir wehrt sich dagegen.
Es läuft darauf hinaus, dass ich auf der Couch einschlafe und mit tierischen Nackenschmerzen wieder wach werde. Es ist mitten in der Nacht, der Fernseher dudelt noch vor sich hin. Ich schalte ihn aus, weil mich die Stimmen nerven, aber bessere Laune beschert mir das trotzdem nicht. Wie ich dieses Gefühl hasse. Ich bin gleichzeitig träge und ruhelos, finde keine bequeme Sitzposition mehr und habe Durst. Genervt schleppe ich mich in die Küche, trinke einen Schluck Wasser und husche dann ins Bad.
Dort angekommen werde ich sofort an meinen Nervenzusammenbruch vorhin erinnert. Wie kann es immer noch so wehtun? Ich vermisse sie so sehr. Ich finde es so ungerecht, dass Minnie ohne Mutter aufwachsen muss. Ich bin sauer auf das Leben, das alles andere als gerecht ist.
Aber wenn ich ehrlich bin, war auch ich nicht gerecht. Nicht zu Hoseok. Er ist ja nicht dumm. Natürlich stellt er Fragen und wahrscheinlich will er mir wirklich nur helfen. Aber kann ich das? Bin ich wirklich bereit dazu, die letzten Erinnerungen an Soo-Ae wegzuschmeißen? Es fühlt sich alles falsch an. Es so zu lassen, ist falsch, es zu ändern, fühlt sich aber ebenso falsch an. Ich bin verwirrt und überfordert, und noch dazu macht sich jetzt ein immer größer werdendes schlechtes Gewissen in mir breit. Wie bei Namjoon und Jimin zuvor.
Wieso stoße ich Menschen, die mir wichtig sind, immer wieder so vor den Kopf? Was treibt mich dazu? Wieso habe ich das nie im Griff? Und vor allem: Wie und wann entschuldige ich mich jetzt bei ihm? Fürs Klingeln ist es zu spät, und schreiben kann ich ihm nicht, weil ich seine Handynummer gar nicht habe. Morgen Nachmittag kommt Jimin und ich weiß noch nicht, wie das Gespräch laufen und wie lange es dauern wird. Bleibt mir wirklich nur, Hoseok einen Brief in den Briefkasten zu werfen?
Ich grübel noch eine ganze Weile darüber nach, drehe mich dabei zehn Mal im Kreis, und komme sowieso nicht mehr in den Schlaf. Daher beginne ich, einen Brief an Hoseok zu schreiben.
Ich entschuldige mich darin für mein Verhalten. Ähnlich wie bei der Nachricht an Jimin. Nur diesmal habe ich nicht das Gefühl, dass das ausreicht. Also erkläre ich, was passiert ist. Dass Soo-Ae bei Minnies Geburt gestorben ist, dass ich es noch nicht übers Herz gebracht habe, ihre Sachen wegzuschmeißen und dass ich immer noch sehr sensibel darauf reagiere, wenn mich jemand darauf anspricht.
Ich weiß nicht, was ich mir davon erhoffe, aber plötzlich fließen nicht nur die Tränen, sondern auch die Wörter aufs Papier. Immer wieder muss ich eine Pause machen, weil ich weinend zusammenbreche, aber es fühlt sich richtig an. Als würde ich nach all den Jahren endlich all die Tränen rauslassen können, die sich über die vier Jahre angestaut haben. So schmerzlich es auch ist - als ich den Brief beende, fühle ich mich zehn Kilo leichter.
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