Sonntag, 03.12.23
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Genüsslich drehe ich mich noch einmal um im Bett. Ich habe mir eine feste Routine fürs Schreiben angewöhnt, damit ich mein Leben ohne Abgabedruck gestalten kann. Dazu gehören feste Zeiten zum Schreiben unter der Woche, ein ausgeklügeltes System zum Sortieren und Festhalten von Inspirationen, jeden Tag Bewegung, frische Luft und vernünftiges, regelmäßiges Essen - und ein freies Wochenende. Samstags putzen, sonntags ganz frei. Ich darf da schreiben, aber ich muss nicht. Alles andere geht vor.
Heute ist der erste Advent. Da möchte ich es schön haben hier. Ich habe gestern schon einiges dafür besorgt Und ich sollte auch endlich meine Antrittsbesuche bei den Nachbarn machen.
Ich wohne schon fast drei Monate hier und habe, glaube ich, immer noch nicht alle wenigstens einmal gesehen. Das werde ich heute mal in Angriff nehmen. Mir muss nur ein gescheites, kleines Mitbringsel einfallen.
Fertig mit nochmal rumdrehen im Bett. Ich stehe auf und beginne meinen Tag. Heute scheint wieder die Sonne. Ein gutes Frühstück ist die richtige Grundlage. Das Haus erwacht zum Leben und motiviert mich weiter. Ja, ich glaube, hier habe ich es ganz gut getroffen.
Die Begegnung mit dem Kleinen vorgestern war echt niedlich. Er scheint scheu zu sein. Und der Vater auch. Aber wir werden schon warm miteinander werden. Und ... das ist eine gute Idee! Heute werde ich die alte Dame im Krankenhaus besuchen.
Heute ist meine Batterie komplett leer. Ich schaffe es nicht aus dem Bett, obwohl ich schon eine ganze Weile wach bin. Eigentlich hatte ich vor, an dem Regal im Wohnzimmer noch die Scharniere anzubringen, damit ich endlich die Türen einbauen kann. Aber ich fühle mich nicht in der Lage dazu, und solange ich von Min-jun nichts höre, kann ich vielleicht einfach liegen bleiben.
Ich hasse es, wenn ich so antriebslos bin. Wie sehr wünschte ich, mehr Energie zu haben, um sonntags die Dinge erledigen, die unter der Woche liegen bleiben.
Aber es geht nicht. Ich fühle mich ausgelaugt und kraftlos.
Sonntag Morgen. Und noch so ein schöner Tag. Ich drehe meine Runden durch den Park und genieße mein Leben. Ich bin zufrieden. Ich habe eine gute Ausbildung, ein schönes Hobby, einen Job, der mich erfüllt. Ein nettes Kollegium und gaaanz viele tolle kleine Menschlein, für die ich da sein darf.
Ich dusche ausgiebig und beschließe, gleich auch noch das Bad zu putzen. Jetzt bin ich eh nass. Ich will grade anfangen zu putzen, als mein Handy die schwungvolle Musik aussetzt und anfängt zu bimmeln. Ich werfe einen Blick aufs Display und freue mich.
"Hallo, Bruderherz. Was verschafft mir die Ehre?"
"Och. Wir machen heute Abend Heimkino, und ich wollte dich fragen, ob du dazukommen magst. Wir haben uns lange nicht gesehen."
"Sehr gute Idee! Was wirds, und wann soll ich da sein?"
"18.00 Uhr kochen, 20.00 Uhr glotzen. Ji-Sub hat einen neuen Film aufgetrieben. 'it's okay to not be okay' - oder so. Musst nix mitbringen. Ist alles da."
"Cool! Danke für die Einladung. Bis nachher!"
It's okay to not be okay. Klingt seltsam. Aber auch interessant. Irgendwie nach Deprizeug. Bin gespannt.
Ich bleibe noch eine ganze Weile liegen und regeneriere mich von der anstrengenden Woche. Gegen 10 Uhr höre ich dann auch das erste Geklapper und Gepolter aus dem Zimmer. Mein Sohn scheint also auch mal wach zu sein.
Ich atme nochmal tief durch und nehme mir für den heutigen Tag vor, nichts zu tun. Gar nichts. Schaffen würde ich eh nichts und bevor ich mir heute Abend wieder unzählige Vorwürfe mache, wie unfähig und antriebslos ich bin, lasse ich es lieber direkt bleiben. Ich brauche dringend Urlaub von meinem Leben, aber da ich das nicht kann, möchte ich wenigstens mal einen Tag Pause haben. Niemanden treffen, mich mit niemanden unterhalten müssen, keine Termine oder sonstige Verpflichtungen (ausgenommen mein Sohn) nachgehen.
Einfach nur mal vor mich hin existieren. Das reicht für heute.
Ich trotte in die Küche, um mir einen Kaffee zu machen und kann kurz darauf auch schon leise Stimmen aus dem Wohnzimmer vernehmen. Min-jun sitzt schon wieder vorm Fernseher und wenn ich es richtig erkenne, läuft seine Lieblingskindersendung. Die mit den sprechenden Autos.
Ich habe mich mittlerweile damit abgefunden. Nur die Tatsache, dass er von der Flimmerkiste wie besessen ist, macht mir zu schaffen. Ich weiß, dass es für Kinder nicht gut ist, wenn sie so viel Zeit damit verbringen, sich davon beschallen zu lassen. Aber erstens habe ich nicht die Kraft, mit ihm zu spielen und zweitens scheint er das irgendwie zu brauchen. Er ist danach wesentlich ausgeglichener als vorher. Er wirkt ruhig und entspannt.
Ob das schon Anzeichen einer Sucht sind? Oder braucht er auch einfach mal ein bisschen Pause von der Realität?
Mit meinem Kaffee in der Hand gehe ich ebenfalls ins Wohnzimmer. Min-jun sitzt, wie erwartet, auf der Couch und starrt ohne wirklichen Gesichtsausdruck zum Fernseher. Es sieht aus, als wäre er auf Stand-by. Gerade möchte ich mich einfach dazu gesellen und ebenfalls auf Energiesparmodus schalten, mich von der Kinderserie berieseln lassen und von der anstrengenden Woche erholen.
Ich spaziere bei dem schönen Wetter durchs Viertel und denke dabei über das Mitbewohnermitbringsel nach. Aber mein erstes Ziel ist die alte Dame Lee aus dem Erdgeschoss. Am Krankenhaus angekommen, kaufe ich im Blumenladen einen netten, kleinen Strauß, frage mich durch und stehe wenig später am Krankenbett der Nachbarin.
Einige 'Nein, wie entzückend' und 'das wäre doch nicht nötig gewesen' später stehen die Blumen in einer Vase auf ihrem Nachttisch, und wir plaudern ein wenig. Ihr Mann ist schon vor einigen Jahren gestorben, die Kinder wohnen weit weg. Aber ihre Lebensfreude hat sie dadurch wohl nicht eingebüßt. Sie bessert ihre Rente auf, indem sie eine Art Hausmeisterfunktion für uns ausübt. Sie fühlt sich augenscheinlich wohl in ihrer selbst gewählten Rolle als Mutti des Hauses.
Auf dem Weg nach draußen komme ich am Kiosk des Krankenhauses vorbei und kaufe spontan zwanzig kleine Schokoladenweihnachtsmänner. Das reicht ja schon, um nicht mit leeren Händen vor den Türen zu stehen. Und so mache ich mich zu Hause auf zu meinem Rundgang.
Viel Glück habe ich aber nicht. Der verschlafene Mann in der Wohnung neben der Hausmeisterin wirkt nicht begeistert. Ich kann ihm nur entlocken, dass er Barkeeper und deshalb grade erst aufgestanden sei. Ich gebe ihm einen Schokoweihnachtsmann, was ihm immerhin ein Lächeln entlockt, und verabschiede mich.
Im ersten Stock wohnt ein 'double income, no kids'-Paar, das eigentlich nie, und also auch heute nicht da ist. Daneben werde ich bei einer quirligen Familie mit drei älteren Kindern kurz reingebeten und mit einem Kaffee bewirtet.
Der Alkoholiker unter mir ist zum Glück überhaupt nicht aufnahmefähig. Er konnte mir nicht mal seinen Namen sagen. Daneben wohnt ein allein stehender Geschäftsmann. Er bittet mich herein, bietet mir den nächsten Kaffee an. Aber er schaut dauernd auf die Uhr, weshalb ich doch bald wieder aufbreche.
Das Pärchen neben meiner Wohnung sieht sehr sportlich aus. Sie wollen sich grade zum Joggen in den Park aufmachen.
Im vierten Stock kann ich leider gar niemand erwischen. Bei beiden Wohnungen macht niemand auf, weder Herr Min noch sein direkter Nachbar sind zu Hause. Also nehme ich die meisten Schokoladen-Weihnachtsmänner wieder mit und hoffe auf eine bessere Gelegenheit.
Schade. Ich hatte mich auf den kleinen Min schon gefreut.
Pünktlich um 18.00 Uhr stehe ich vor der Tür von meinem Bruder Jihyun. Heimkinoabende mit dieser WG sind immer fröhlich, verrückt und unkalkulierbar. Ich klingele, irgendjemand, den ich nicht kenne, macht auf - und schon bin ich mitten im Trubel zwischen acht WG-Bewohnern und Gästen. Ich hänge meine Jacke auf, helfe, den Tisch fertig zu decken, verhindere diplomatisch, dass das Essen bis zur Ungenießbarkeit verwürzt wird, und lasse mich überraschen, was der Abend so bringen wird.
Ich habe keine Ahnung, wo die Zeit geblieben ist, denn als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, bekomme ich einen Schreck. Es ist schon kurz nach 6 Uhr. Ich scheine auf der Couch eingeschlafen zu sein und frage mich, ob es gerade an der Tür geklingelt hat, oder ob ich das vielleicht nur geträumt habe. Wir haben nicht mal etwas zu Mittag gegessen. Mir fällt aber sofort auf, dass Min-jun sich einen Apfel aus der Küche geholt hat, denn die überreste liegen noch auf dem Teller auf dem Wohnzimmertisch. Als richtige Mahlzeit kann das aber nicht bezeichnet werden, also sollte ich gleich schnell was kochen.
Nur mit Mühe und Not kann ich mich aufraffen, in die Küche zu gehen. Ich checke, was wir noch da haben und fange an das Gemüse zu schnibbeln. Min-jun hat sich derweil vom Fernseher losgerissen und spielt in seinem Zimmer.
Nach dem Essen werden wir beide am besten direkt ins Bett gehen. Morgen fängt eine neue, anstrengende Woche an. Und den Schlaf scheine ich definitiv zu brauchen.
Wir sind schon ziemlich eingealbert, als wir uns endlich ins Wohnzimmer knubbeln, um den Film zu kucken. "It's okay to not be okay" ist ein Film von 2020, der eigentlich wie ein klassisches K-Drama aufgebaut ist. Der Psychopfleger und seine Kinderbuchautorin-Patientin - wie kitschig! Und um dem ganzen Schmalz die Krone aufzusetzen, ist sein autistischer Bruder ein begnadeter Zeichner und Graphiker. Ich ahne, was kommen wird. Aber es ist mir egal. Kitsch as Kitsch can passt hervorragend zu unserer Stimmung.
Vor allem die romantischen Szenen werden von uns gnadenlos entzaubert und auf die Schippe genommen. Nach ziemlich viel Herzschmerz und Seelentrösterei gehen der Abend und der Film feuchtfröhlich in die Zielgeraden.
Stutzig werde ich erst, als im Nachspann der Schauspieler dieses autistischen Bruders zitiert wird.
"Als ich am Anfang der Dreharbeiten ein Interview gab, sagte ich, mein Charakter sei eine Figur, die an Autismus leidet. Inzwischen habe ich begriffen, dass dies ein falscher Ausdruck ist. Wenn man sagt, dass man an etwas leidet, bedeutet das, dass man eine Krankheit hat. Autismus ist aber keine Krankheit, sondern etwas, mit dem man geboren wird. Ich habe gelernt, dass es besser ist zu sagen, dass er eine Figur ist, die mit Autismus geboren wurde." Oh Jung-Se
Schlagartig bin ich wieder ... naja ... nüchtern. Ich WEIß nämlich sofort, dass mir das was sagen will. Aber ich weiß leider nicht, was.
Ich helfe noch ein bisschen aufzuräumen und trolle mich dann.
"Machs gut, Brüderchen. Bis zum nächsten Mal. Und nochmal danke für die Einladung."
"Na klar. Ich muss doch meinen Hyung ab und zu mal aus der Kindergarten-Tretmühle locken. Sonst arbeitest du nur noch."
Innerlich aufgewühlt spaziere ich durch die klirrende Kälte nach Hause.
Aus der Tretmühle locken. Mit Autismus wird man geboren. Verflixt! An wen hat mich dieser Bruder erinnert??? Hallo, Groschen. Du bist dran. Du musst jetzt fallen!
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