Samstag, 02.12.23
❆
Was bin ich froh, dass heute Samstag ist und ich ausschlafen kann. Ich habe die halbe Nacht über Min-jun und seinen Vater nachgedacht. Ich würde den beiden so gerne den Druck rausnehmen. Aber dazu muss ich erst viel mehr über die beiden wissen.
Langsam schäle ich mich aus dem Bett, koche mir einen Kaffee und räume ein bisschen meine Bude auf. Wobei es da nicht viel aufzuräumen gibt - wenn man zur Wohnungstür reinkommt, steht man sofort im einzigen Zimmer, links eine kleine Küchenzeile, rechts die Tür zum Minibad. Aber meine Bude ist hell, gemütlich, hat eine gute Lage - und sie ist meine. Da bin ich schon ein bisschen stolz drauf.
Meine Eltern waren gar nicht einverstanden mit meiner Berufswahl, aber hey - es ist mein Leben. Ich habe Freude an der Arbeit mit Menschen. Ich liebe Kinder. Und das ist mir echt wichtiger als 'mein Haus, mein Auto, mein wasweißich'.
Womit wir wieder beim Thema 'Kinder' wären. Damit ich endlich auf andere Gedanken komme, schnappe ich mir meine Laufschuhe, stecke Portemonnaie und Schlüssel in meine Bauchtasche und jogge eine Runde durch den Stadtpark. Strahlender Sonnenschein und für Dezember ganz angenehme Temperaturen verlocken mich, heute mal 'ne Runde mehr zu laufen. Wie immer sortiere ich dabei im Kopf die vergangene Arbeitswoche, damit ich loslassen kann. Powern hat schon immer geholfen.
Auf dem Rückweg kaufe ich ein paar Lebensmittel und schlendere damit nach Hause. Ein ruhiges Wochenende liegt vor mir. Verabredungen hab ich keine. Weder die Mannschaft der Kleinen noch meine eigene hat ein Punktspiel, ich habe also viiieeel Zeit.
Als mich die ersten Sonnenstrahlen treffen, schrecke ich panisch hoch. Ein hastiger Blick zur Uhr. 7:15 Uhr.
Fuck!
Ich hab verschlafen.
Ohne großartig nachzudenken, springe ich aus dem Bett und suche in Windeseile nach meinen Klamotten, um sie direkt überzuziehen. Während ich noch meine Hose hochziehe, sprinte ich ins Bad, um Zähne zu putzen. Mein Blick fällt dabei auf die Uhr, die auf der Ablage über dem Waschbecken steht, und dann halte ich inne.
Es ist Samstag... mein freier Samstag.
Ein tiefer Seufzer folgt. Das erklärt auch, warum der Wecker nicht geklingelt hat.
Schlecht gelaunt trotte ich in die Küche, mache mir erstmal einen Kaffee und frage mich, ob ein Tag noch schlechter starten kann. Aber wenigstens ein positives hat es. Ich muss mich nicht um eine Samstagsbetreuung kümmern oder zur Arbeit hetzen. Ich habe auch nicht den Stress, meinen Sohn aus dem Bett zu werfen und für den Kindergarten fertig zu machen.
Freie Samstage sind purer Luxus und leider komme ich meistens nur ein Mal im Monat in diesen Genuss. Zustehen würden mir zwei freie Samstage, da ich nicht Vollzeit arbeite. Die Realität ist aber, dass sich dauernd jemand krankmeldet und irgendjemand einspringen muss.
Natürlich könnte ich auch 'nein' sagen, aber ich habe viel zu viel Angst, den Job zu verlieren, also springe ich öfter ein als mir lieb ist.
Heute ist einer dieser seltenen Samstage, an denen ich frei habe und mir mal keine Sorgen machen muss, wo ich Min-jun lasse.
Außerdem bin ich jetzt vor ihm wach und kann mich in Ruhe sortieren.
Wir müssen heute unbedingt einkaufen. Es ist für mich jedes Mal eine Tortur und zögere es immer so lange wie möglich hinaus. Leider haben wir nichts Essbares mehr im Haus, was bedeutet, dass ich da heute nicht drumrum komme. Wenn das Wetter mitspielt, könnten wir vorher vielleicht auf den Spielplatz gehen. Min-jun ist sonst beim Einkaufen nicht zu ertragen. Ich glaube, er hasst es genauso sehr wie ich.
Nach der zweiten Tasse Kaffee höre ich auch schon ein Poltern aus dem Zimmer meines Sohnes. Es scheint so, als wäre er gerade wach geworden. Keine zwei Minuten später steht er vor mir und blinzelt mich verschlafen an.
"Guten Morgen, Minnie. Gut geschlafen?"
"Hm", ist das einzige, was zunächst von ihm kommt, ehe er sich aus dem Schrank einen Becher holt und ihn mit Wasser füllt. Samt Becher tapst er ins Wohnzimmer. Ich folge ihm, nachdem ich mir noch einen Kaffee gemacht habe.
Min-jun hat sich den Fernseher angemacht und starrt auf den flackernden Bildschirm. Ich finde es zwar nicht gut, dass er so viel davor hängt, aber irgendwie braucht er es, um zu entspannten.
"Hast du Lust, heute auf den Spielplatz zu gehen?", frage ich ihn und bekomme sogleich ein Lächeln von ihm geschenkt.
"Au jaaa!", antwortet er sofort und schafft es sogar, seinen Blick vom Fernsehen loszureißen.
"Gut, dann machen wir das. Und danach können wir noch eben einkaufen gehen."
Min-jun sieht nicht begeistert aus und weicht meinem Blick aus. "Ich will nicht einkaufen."
"Ich weiß. Ich auch nicht."
Ich gehe nochmal in Gedanken durch, ob es nicht auch reicht, wenn wir Montag einkaufen gehen. Dann sind wir eh einmal unterwegs und können den heutigen Tag nutzen, um einfach mal Zeit miteinander zu verbringen.
"Also gut. Ich gehe nochmal gucken und verspreche nichts, aber vielleicht reicht es ja, wenn wir Montag einkaufen."
Min-jun sieht mich erwartungsvoll an.
Verschlafen strubbele ich mir durch die Haare, ziehe mir dicke Socken und 'Irgendwas' über und folge dem leisen Klappern von Geschirr. Jetzt mischt sich auch noch der Duft von frisch gebrühtem Kaffee dazu, was meine Lebensgeister erst so richtig weckt. Ich biege in die Küche ab, um meine Frau Anna zu begrüßen. Unter der Woche bin immer ich derjenige, der früh aufsteht, die Kinder fertig macht und sie auf den Weg bringt. Darum hält sie mir am Samstag Morgen die Meute vom Leib und lässt mich ausschlafen.
"Guten Morgen, mein Schatz! Der Kaffee duftet fantastisch! Haben wir an diesem Wochenende irgendwas vor? Ich habe keine Kunden, also viel Zeit."
"Guten Morgen, du Langschläfer! Ja, ich muss heute mit den Kindern in die Stadt. Neri ist mal wieder ein ganzes Stück gewachsen. Also darf ich eine neue Runde drehen. Klamotten, Regensachen, diverse Sorten Schuhe. Und Inhyuk braucht schon wieder neue Hausschuhe für den Kindergarten."
Meine Frau stammt aus Deutschland. Sie hat damals ein studentisches Auslandsjahr gemacht und ist hängengeblieben. Menschen, die Anna nicht kennen, schütteln öfters den Kopf über mich. Durch unsere Beziehung bin ich in vielerlei Hinsicht auffällig unkoreanisch. Seien es die freieren Erziehungsmethoden, sei es die gleichberechtigte Aufteilung der Arbeiten im Haushalt, sei es unsere Gesprächskultur untereinander und mit den Kindern. Die Verbindung zweier Kulturen ist manchmal eine ziemliche Herausforderung, aber im Großen und Ganzen kommen die Kinder mit den unterschiedlichen Sprachen, Traditionen und Festen ganz gut zurecht. Und ich selbst empfinde es als große Bereicherung, als Chance, einen differenzierteren Blick auf die Welt außerhalb meines Kopfes werfen zu können.
Gemeinsam tragen wir unsere üblichen Zutaten für ein gelungenes Samstagsfrühstück ins Esszimmer.
Inhyuk hat gute Ohren. Er hat unser Gespräch gehört und fängt sofort an, aus dem Hintergrund zu protestieren.
"Ich will aber nicht ewig durch die Stadt latschen und immer still sein. Das ist langweilig."
Müslischüssel- und Löffelgeklingel machen sich am Frühstückstisch breit.
"Hm. Kannst du nicht Fußabdrücke von Inhyuk machen? Für Hausschuhe dürfte das doch reichen. Und während ihr euch einen Mädelstag gönnt, machen wir Männer eine Abenteuerreise zum Spielplatz. Das ist gestern ja leider ins Wasser gefallen."
Was sind Menschen doch leicht durchschaubar.
Neri rümpft die Nase und gibt mit einem schiefen Blick zu ihrem Bruder ein trockenes 'guuute Idee' von sich. Meine liebe Frau schafft es nicht, ihre Erleichterung zu verbergen.
Inhyuk stößt abenteuerreisenmäßiges Freudengeschrei aus und fängt dann an zu schlingen, damit er möglichst schnell raus kann. Also bremse ich sofort wieder.
"Aber wir können erst los, wenn wir in Ruhe und gesittet zu Ende gefrühstückt haben und Esstisch und Küche aufgeräumt sind. Kapito?"
Unser Frühstück geht mit fröhlichem Geplauder zu Ende. Gemeinsam decken wir den Tisch ab, füttern die Spülmaschine und starten in den Tag. Ich packe vorsichtshalber meine Outdoorklamotten ein und stecke sie in die Tasche zu den Sandspielsachen.
Wer weiß, auf was für Ideen mein Lieblingssohn nachher kommt.
Auf einmal steht Inhyuk höchst seltsam bekleidet neben mir.
"Du, Papa. Wieso muss ich eigentlich so viel unter der Matschhose anhaben? So geht das doch viel schneller."
Nur mühsam unterdrücke ich einen Lachanfall, denn der schlaue kleine Schlawiner hat zwar den Schlafanzug ausgezogen, aber dann nur eine Unterhose angezogen. Ansonsten ist er splitterfasernackt direkt in Matschhose und Gummistiefel gestiegen und hat sich als Alibi noch seine Pudelmütze auf den Kopf gestülpt. Ich gehe in die Hocke.
"Weil, mein sehr geliebter Lieblingssohn, wir nicht möchten, dass du bis heute Abend erfroren bist und wir dich darum nie wieder sehen werden. Also husch. Anziehen. Vorher gehen wir nicht los. Draußen scheint zwar die Sonne, aber warm ist es deshalb noch lange nicht!"
Schon ist unser Wirbelwind um die Ecke und taucht wenige Minuten später wieder auf. Die Jeans ist auf links gedreht. Das Bild vom Sweatshirt prangt auf seinem Rücken. Er hat zwei verschiedene Socken an und flitzt an mir vorbei zur Haustür. Aber das ist mir egal. Mein Sohn ist glücklich.
"Viel Spaß in der Stadt, die Damen!"
Herz, was willst du mehr?
Min-jun ist die Freude anzusehen, dass wir heute nicht mehr einkaufen gehen müssen. Er ist, kaum dass ich ihm die freudige Nachricht überbracht habe, in sein Zimmer gestiefelt.
Als ich ihm folge, hält er mir schon voller Stolz seinen kleinen Rucksack hin, in dem er alles nötige, wie sein Auto und Sandförmchen, verstaut hat. Das macht er immer, auch wenn ich mich frage, ob es einer intrinsischen Motivation nach Selbstständigkeit zuzuschreiben ist, oder ob er sich das angewöhnt hat, weil ich es so oft nicht auf die Kette kriege. Vielleicht ist es auch nur seine Art, mich zu entlasten, weil er merkt, dass ich am Ende meiner Kraft bin.
Welcher Grund es auch ist, ich hasse es, dass ich ihm nicht das wohlbehütete Leben ermöglichen kann, dass er verdient hat.
"Zieh bitte deine Matschhose noch an", bitte ich ihn, aber er verzieht das Gesicht.
"Aber die ist so laut", jammert er. "Ich will die nicht anziehen, Papa. Ich mach mich auch nicht dreckig, versprochen."
"Wenn du im Sand spielen willst", argumentiere ich, während ich seinen Rücksack öffne und ein Förmchen hochhalte, "und da du dein Sandspielzeug eingepackt hast, gehe ich davon aus, dass du das willst, wirst du deine Matschsachen anziehen müssen. Du kannst nicht den ganzen Tag in nassen Sachen rumlaufen, dann wirst du nur wieder krank und das möchten wir beide nicht."
Min-jun seufzt und verschränkt die Arme vor der Brust. "Dann möchte ich nicht auf den Spielplatz."
"Dein Ernst?", kommt es mir so schnell über die Lippen, dass ich es nicht mehr aufhalten kann. "Warum? Ist es so schlimm für dich, die Hose anzuziehen?"
"Ja!", quetscht er wütend. Ich weiß nicht, ob andere Eltern auch solche Probleme haben, aber wenn, wüsste ich gerne, wie sie damit umgehen. Wir können doch schlecht deswegen Zuhause bleiben. Min-jun hockt schon oft genug drin rum, er muss auch mal raus und ich auch.
"Wenn du spielst, wirst du gar nicht mehr daran denken, glaub mir. Jetzt zieh dich bitte an, damit wir los können." Ich versuche streng zu bleiben und drücke meinem Sohn die die Hose in die Hand.
Er schmeißt sie sofort wieder auf den Boden, und tut so, als wäre sie giftig. "Nein, ich will nicht!"
"Min-jun! Jetzt stell dich nicht so an! Es ist nur eine Hose und ich wollte meinen freien Samstag nicht damit verbringen, mit dir über sowas zu diskutieren!"
Min-jun ist kein Kind, dass schnell ausflippt, aber wenn ihm etwas nicht passt, dann kriegt er richtige Tobsuchtsanfälle.
"NEIN NEIN NEIN", schreit er und schmeißt die Hose quer durchs Zimmer. Ich bin entsetzt, ihn so zu sehen und frage mich, was ihn dazu bringt, so auszurasten. Langsam verliere ich auch die Nerven.
"Es reicht jetzt, Min-jun! Heb die Hose auf und zieh sie endlich an, damit wir los können!"
Verzweifelt schüttelt er den Kopf und hält sich die Ohren zu. "Nein! Bitte nicht! Sie ist laut. Und groß..."
Er zeigt auf seine Beine und versucht mir anscheinend mitzuteilen, dass er es wirklich nicht ertragen kann. Ich erkenne außerdem, dass kleine Tränchen über sein Gesicht laufen und halte inne.
Es ist nicht das erste Mal, dass er sich weigert, die Hose anzuziehen. Bis jetzt war es auch nicht so tragisch, weil es draußen trocken war, aber bei dem Wetter in letzter Zeit wird der halbe Spielplatz überschwemmt sein. Ich kann ihn nicht ohne Matschhose mitnehmen.
Oder?
Es scheint wirklich eine Qual für ihn zu sein, auch wenn ich es nicht ganz nachvollziehen kann.
Ich atme tief durch, während ich mich einmal im Zimmer im Kreis drehe. Min-juns Schluchzen ist deutlich zu hören. So habe ich mir das alles nicht vorgestellt.
"Okay, pass auf", sage ich, weil ich es nicht ertrage, ihn so zu sehen.
"Wir gehen ausnahmsweise nochmal ohne, weil es grad nicht so schüttet. Du wirst aber dann nicht im Sand spielen können UND wir nehmen Wechselsachen mit und du wirst dich sofort umziehen, wenn du durchnässt bist. Deal?"
Min-jun nickt zaghaft, das Schluchzen ebbt ab. Er steht auf, nimmt mir den Rucksack ab, den ich die ganze Zeit krampfhaft festgehalten habe und räumt das Sandspielzeug aus.
Gleichzeitig fängt mein Kopf wieder an zu rotieren. Meine Selbstvorwürfe werden immer stärker und lauter. Min-jun hat einen Vater, beziehungsweise eine Familie verdient, die besser ist als ich. Ich bin unfähig, dieses Kind richtig zu erziehen. Ich bin unfähig. Komme mit meinen eigenen Problemen schon nicht zurecht. Meine Kehle schnürt sich zu. Der Druck in meinem Kopf wird unerträglich.
Ich wollte niemals Vater werden und ich weiß auch wieder, warum.
Nicht, weil ich meinen Sohn nicht liebe. Er bedeutet mir mehr, als alles andere auf dieser Welt. Sondern aus dem Grund, weil ich mit meiner Vaterrolle überfordert bin.
"Papa?", reißt mich seine leise Stimme aus den Gedanken. Er scheint fertig zu sein, steht vor mir und schaut mich fragend an. "Papa? Weinst du?"
Fuck. Ich merke erst jetzt, dass mir eine vereinzelte Träne über die Wange läuft und wische sie schnell weg.
"Können wir los?", lenke ich davon ab und drehe mich von ihm weg.
Kurz darauf spüre ich seine kleine Hand an meiner. Ein Blick zur Seite bestätigt meine Vermutung. Er hat meine Hand genommen, etwas, was für andere vielleicht normal ist, aber bei uns ist es etwas Besonderes. Ich weiß nicht warum, aber wir sind beide nicht so besonders auf Nähe aus.
Er schenkt mir ein Lächeln. Doch statt mich zu freuen, möchte ich direkt wieder losheulen, weil ich mich so unglaublich schlecht fühle. Wäre seine Mutter noch da, würde es ihm sicher besser gehen. Er hat es nicht verdient, so aufwachsen zu müssen.
Da es Wochen her ist, dass mal die Sonne geschienen hat, ist auf dem Spielplatz schon die Hölle los. Fröhliche Kinder, gelangweilte Eltern, Sandkloppereien, Stau an den Schaukeln - meinem Sohn macht das gar nichts aus. Schwupp, ist er im Gewühl verschwunden, und ich habe Mühe, ihn im Blick zu behalten. Ich freue mich, dass grade eine Bank frei wird, hole meinen Kindle raus und fange an zu lesen. Den Lärm kann ich dabei gut ausschalten, und wenn Inhyuk was von mir will, wird er sich melden.
Den ganzen Weg über bin ich in Gedanken versunken. Min-jun scheint es ähnlich zu gehen.
Erst, als wir an einer Fußgängerampel stehen bleiben müssen, traut sich Min-jun wieder das Wort zu ergreifen.
"Warum machen die das?", fragt er mich und im ersten Moment weiß ich nicht, was er meint. Dann erkenne ich, wie zwei jugendliche Burschen die Straße überqueren, obwohl sie eindeutig rot ist.
"Wissen die nicht, dass das gefährlich ist?", fragt er mich.
Ich zucke mit den Schultern. "Ich glaube, die wissen das schon, halten sich aber nicht daran."
"Aber selbst ich weiß, dass es gefährlich ist, bei Rot über die Straße zu gehen und ich bin viel jünger als die!", argumentiert er und entlockt mir tatsächlich ein Schmunzeln. Min-jun hält sich immer an Regeln, sofern er darin einen Sinn sieht. Dass es Menschen gibt, die sich trotzdem nicht daran halten, stößt bei ihm jedes Mal auf Unverständnis. Was ich verstehen kann. Zu oft frage ich mich, wieso manche Menschen so ignorant und dumm sind.
Was es nicht leichter macht, auf Min-juns Frage zu antworten.
"Ich kann es dir nicht erklären, Minnie. Vielleicht ist es ihnen nicht wichtig? Ich hab keine Ahnung, warum sie das tun. Aber Menschen machen sowas andauernd."
"Ich nicht", schießt er direkt los. "Ich werde sowas nie tun."
"Ich weiß", antworte ich, "und ich bin froh, dass du so denkst. Ich hoffe nur, dass du das in 5 oder 10 Jahren auch noch sagst."
Die Ampel schaltet auf Grün und wie auf Knopfdruck setzt mein Sohn sich wieder in Bewegung. Ich folge ihm. Von hier aus ist es auch nicht mehr weit bis zum Spielplatz und nach wenigen Schritten kann ich auch schon das erste schreiende Kind hören. Ich atme tief durch. Ich hasse dieses Geschrei von Kindern. Und bin froh, dass mein Sohn, bis auf wenige Ausnahmen, eher ruhig ist und mir klar mitteilt, wenn ihn etwas stört. Würde er jedes Mal einfach direkt anfangen rumzuschreien, wäre ich wahrscheinlich schon in irgendeiner Psychiatrie eingeliefert worden.
Wir erreichen wenige Minuten später den Spielplatz, aber Min-jun bleibt erst noch bei mir. Er verschafft sich meistens erstmal einen Überblick darüber, welche Kinder da sind, wie die Stimmung ist und plant, wo er als erstes spielen will.
Ich schaue mich ebenfalls um. Die meisten Bänke sind schon voll. Nur auf einer ist noch Platz, weil da ebenfalls nur ein Vater sitzt. Ich wäge ab, ob ich mich zu ihm setzen könnte, oder ob ich lieber irgendwo stehen bleiben soll.
Zögernd gehe ich mit Min-jun auf die Bank zu, auf der der Vater sitzt. Ich erkenne, dass er etwas auf seinem E-Reader zu lesen scheint und möchte ihn eigentlich nicht stören. Aber was bleibt mir anderes übrig? Ich bin erschöpft von dem Vormittag und möchte mich setzen und ausruhen.
"Entschuldigen Sie bitte. Dürfte ich mich zu Ihnen setzen?", frage ich zögerlich. Min-jun versteckt sich derweil hinter mir.
Ui! Ich bekomme Gesellschaft. Und ich glaube, ich kenne diesen Mann. Und seinen scheuen Sohn. Aus dem Kindergarten. Inhyuk ... tja ... mag ihn? Spielt mit ihm? Erzählt von ihm? Passt alles nur so semi ...
Ich packe meinen Reader weg. Unterhalten ist netter.
"Selbstverständlich, gerne. Setzen Sie sich. Ich glaube, wir kennen uns vom Kindergarten. Sind unsere Söhne nicht in der selben Gruppe?"
Natürlich habe ich kein Glück, denn der Fremde spricht mich sofort an und sagt, dass wir uns kennen. Ich kann mich nicht daran erinnern, mich mal mit ihm unterhalten zu haben, was alles noch viel schwieriger macht. Ich bin sowieso schon völlig ausgelaugt und jetzt eine halbwegs vernünftige Konversation zu führen, ist eine enorme Belastung für mich. Ich krame in meinem Gedächtnis nach einer möglichst unverfänglichen Antwort.
"Das kann sein. Es sind viele Kinder in der Gruppe." Ich weiche seinem Blick aus, weil ich seine Reaktion gar nicht sehen will. Stattdessen drehe ich zu meinem Sohn um, der immer noch hinter mir verweilt.
"Minnie, willst du nicht spielen?", frage ich ihn und im selben Moment kommt ein kleiner Junge auf uns zugerannt.
"Da kommt mein Sohn. Schau mal Inhyuk, wer hier ist."
Die Reaktion der beiden Kinder verblüfft mich. Mein Sohn macht eine Vollbremsung und kuckt so unsicher aus der Wäsche, wie ich ihn wirklich noch nie gesehen habe. Der andere sieht aus wie das Kaninchen vor der Schlange und verkriecht sich hinter seinem Vater. Der wiederum sieht aus wie 'wo ist mein Mauseloch'.
Seeehr scheu, alle beide. Keine Ahnung, was hier abgeht. Aber es zwingt uns ja keiner. Wenn es den beiden unangenehm ist, lass ich die natürlich in Ruhe.
"Eieiei, wie siehst du denn schon aus? Gelobt sei der Erfinder der Matschhose. Hast du die Pfützen wenigstens gezählt, in die du gehüpft bist?"
"Neee, Papa. Bei dreiundsiebzehn bin ich durcheinander gekommen. Aber jetzt komm. Ich schaff den untersten Ast nicht alleine."
Ich seufze, nicke dem Mann entschuldigend zu und folge meinem Sohn zu dem riesigen alten Baum, auf dem er so gerne rumklettert.
Der Vater neben mir entschuldigt sich und folgt seinem Sohn zum Kletterbaum. Endlich kann ich durchatmen und mich nochmal sortieren.
Min-jun stellt sich vor mich, vergräbt seine Hände in die Jackentaschen und wartet geduldig. Ich kenne meinen Sohn gut genug, um zu wissen, was er will, selbst wenn er es nicht ausspricht.
"Du kannst auch gerne klettern gehen. Aber pass bitte auf, dass du nicht abrutschst."
Sofort hellt sich sein Gesicht auf, und er sprintet den beiden hinterher. Ich überlege, ob ich ihm folgen soll, entscheide mich aber dagegen. Wenn Min-jun sich ohne mich traut, zu den beiden zu gehen, sollte ich das unterstützen. Immerhin tut er sich sonst sehr schwer, mit anderen in Kontakt zu kommen, und in meinen Augen ist das schon ein großer Schritt in die richtige Richtung.
Außerdem kann ich dann mal fünf Minuten durchatmen, und dagegen wehre ich mich sicherlich nicht.
Irgendwie ist es witzig. Wir leben in einer Kleinstadt. Da ist es gar nicht so einfach, ohne Natur aufzuwachsen. Ich wette, dass JEDER Erwachsene hier als Kind auf Bäumen rumgeturnt ist und in Bächen geplantscht hat. Aber kaum sind sie Eltern, mutieren sie zu Gefängniswärtern für ihre Kinder. Die Erzieherinnen von unseren beiden Kindern haben in Elterngesprächen immer wieder betont, wie gut ihr Gleichgewichtssinn ausgeprägt ist. Mich wunderts nicht.
Inhyuk und ich schlängeln uns durch eine Gruppe von wuselnden Zwergen. Je mehr wir uns dem Baum nähern, desto neidischer werden die Blicke der anderen Kinder. Und desto entsetzter und vorwurfsvoller durchbohren mich die Blicke der Eltern, weil 'dieser unmögliche Mann schooon wieder' ihren Kindern zeigt, was ihnen entgeht. Ich bespreche mit Inhyuk noch mal unsere Kletterregeln und hebe ihn dann auf den untersten Ast. Mein Äffchen ist im Paradies und legt sofort los.
Da steht plötzlich wie aus dem Boden gewachsen eine stumme Gestalt neben mir. Der andere Junge aus dem Kindergarten. Er steht einfach nur da, betrachtet den untersten Ast wie einen Klumpen Gold und rührt sich nicht.
Der will bestimmt auch da rauf. Aber da muss der Vater zustimmen.
Meine Augen wandern zu der Bank, von wo mir der Mann zunickt. Ich nehme das als Ja und gehe zu dem kleinen Mann in die Hocke.
"Möchtest du auch klettern? Ich kann dich auf den ersten Ast heben. Ihr müsst mir nur versprechen, dass ihr gut aufeinander achtet, damit nicht einer den anderen aus Versehen schubst. Okay?"
Der Junge schaut mich nicht an, sondern betrachtet stattdessen weiter den Baum. Er scheint zu überlegen. Schließlich dreht er sich zu mir und zeigt wortlos auf den Ast.
Soll ich das jetzt auch als ein Ja deuten? Der Fratz ist wirklich noch ziemlich klein. Aber der Vater scheint es ihm zuzutrauen. Also los. Ich bin ja in der Nähe.
"Prima. Dann hebe ich dich jetzt hoch. Hab bitte immer eine Hand fest am Baum beim Klettern."
Wie hat der Vater ihn genannt? Minnie ...
Ich fasse Minnie an den Hüften und hebe ihn so weit hoch, dass er auf den untersten Ast krabbeln und sich gut festhalten kann.
"Hast du guten Halt? Dann wünsche ich dir viel Spaß! Inhyuk? Du bekommst Gesellschaft. Seid vorsichtig miteinander."
"Klar, Papa."
Ich trete ein paar Schritte zurück, damit ich die beiden gut im Blick habe, und ignoriere das empörte Getuschel auf den nächsten zwei Bänken. Inhyuk ist schon ein paar Äste weiter oben, aber Minnie holt schnell auf. Es ist faszinierend, dabei sein hochkonzentriertes Gesicht und seine wohl bedachten Bewegungen zu beobachten.
Um den muss ich mir keine Sorgen machen.
Abschalten kann ich natürlich trotzdem nicht. Wie auch? Wenn ich eins in den letzten Jahren gelernt habe, dann, dass mein Sohn ein bisschen anders tickt als andere. Dementsprechend habe ich immer ein Auge auf ihn.
Diesmal ist es auch ganz gut so. Denn der Vater des anderen Jungen schaut fragend zu mir rüber. Ich nicke, in der Hoffnung, dass er nur um meine Zustimmung gefragt hat.
Dann sehe ich, wie sich Min-jun von ihm hochheben lässt. Erstaunlich. Normalerweise mag er es gar nicht, wenn andere ihn anfassen. Bei dem Vater scheint es jedoch okay zu sein.
Min-jun klettert eilig den Baum hoch und scheint sich sogar mit dem anderen Kind zu unterhalten.
Das führt dazu, dass ich auch endlich mal ein bisschen loslassen kann. Entspannter als zuvor lehne ich mich nach hinten.
Wie es wohl wäre, wenn ich diesen Luxus öfter hätte? Wenn meine Frau noch unter uns weilen würde und wir uns die Erziehung unseres Sohnes teilen würden? Wahrscheinlich wäre vieles sehr viel entspannter.
Aber die ganzen Fragen bringen mich letztendlich nicht weiter, also versuche ich an etwas anderes zu denken und den Moment zu genießen.
Ich lehne mich an den nächsten Baum, bereit einzugreifen, und lasse meine Gedanken wandern, während meine Augen den Jungs folgen. Die beiden sind vom Alter her wahrscheinlich gar nicht so weit auseinander. Und so unterschiedlich die auf den ersten Blick wirken - es scheint zu passen.
Vielleicht sollten wir Minnie mal zum Spielen zu uns einladen. Dann lernen wir auch den Vater besser kennen. Seltsam. An das Kind kann ich mich wohl erinnern. Aber den Vater habe ich bisher selten im Kindergarten gesehen. Na, das wird dann wohl meistens seine Frau übernehmen. Es kann sich ja kein Mensch in Stücke teilen.
Plötzlich rieseln mir ein paar alte Blätter auf den Kopf. Schnell blicke ich nach oben. Inzwischen stehen die beiden auf einem langen Ast und bringen den zum Schwingen. Ein paar Mütter folgen meinem Blick und tuscheln wieder lauter.
Ich sollte eingreifen.
Ich rufe nach oben.
"Inhyuk, das ist mir zu gefährlich. Geht bitte zurück zum Stamm, wo ihr euch gut festhalten könnt."
"Aber, Papa. Wir haben einen Ast für die Füße und einen Ast für die Hände. Wir halten uns doch gut fest."
"Das sehe ich, aber ich sehe auch, dass bei dem Gewackel von zwei frechen Jungs auf einem armen Ast ganz schnell einer von euch das Gleichgewicht verlieren kann, zumal die Äste feucht und glitschig vom Regen sind. Tut bitte, was ich sage. Sonst kann ich dich da nicht mehr rauflassen."
Mein Sohn protestiert nicht mehr sondern balanciert zurück zum Stamm. Der zweite läuft gehorsam hinterher, und wieder sehe ich, wie konzentriert und sicher er sich bewegt.
Vorsichtig kommen die beiden nach unten geklettert. Inhyuk setzt sich auf den untersten Ast und lässt sich kichernd in meine ausgestreckten Arme plumpsen. Aber als ich dann meine Hände zu dem zweiten Jungen ausstrecke, gefriert er wieder zur Statue und starrt an meinen Händen vorbei auf den Boden.
"Komm, ich heb dich runter."
Keine Reaktion.
Und jetzt? Ich kann den ja schlecht an seinen Füßen runterzerren.
Als mein Blick erneut zum Baum schweift, sehe ich, dass der andere Junge bereits vom Baum runter ist. Min-jun sitzt noch auf dem untersten Ast, während der andere Vater ihm runter helfen will. Leider scheint mein Sohn sich gerade wieder daran erinnert zu haben, dass er Fremden nicht vertraut.
Mit einem leisen Seufzen stehe ich auf und gehe auf die drei zu. Min-jun sieht mich ängstlich an.
"Na komm", sage ich zu ihm, als ich am Baum angekommen bin. Der Vater hebt entschuldigend die Hände. Was er gar nicht muss. Ich bin ihm schon sehr dankbar, dass er sich überhaupt kurz um ihn gekümmert hat.
Min-jun beugt sich ein Stück zu mir herunter, damit ich ihn erreichen kann. Schnell packe ich ihn an den Hüften und hebe ihn herunter. Min-jun drückt mich ganz fest, als er heil auf dem Boden angekommen ist.
"Erstaunlich, wie sicher Ihr Sohn sich bewegt. Ich bin wirklich beeindruckt. Er scheint noch jünger zu sein als meiner, und schon so umsichtig. Wir könnten die beiden öfter mal zum Spielen verabreden. Was meinen Sie? ... Oh, Entschuldigung! Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Kim. Kim Namjoon."
Ich deute eine Verbeugung an - und warte irritiert auf eine Reaktion.
Eigentlich sollte ich mich freuen, dass der Vater das vorschlägt. Bei mir melden sich aber zuerst Zweifel. Sollte er vorhaben, dass sie sich auch mal bei uns treffen, habe ich ein Problem. Unsere Wohnung ist nicht groß genug für zwei Kinder und viel zum Spielen hat Min-jun auch nicht. Wie formuliere ich das geschickt?
Ich deute auch eine Vorbeugung an und stelle mich ebenfalls vor. Währenddessen lege ich mir Worte zurecht, die einigermaßen okay sind.
"Das würde mich freuen. Wir sind öfters auf dem Spielplatz. Dann könnten sie sich treffen und zusammen spielen."
"Das freut mich. Ich stecke Ihnen dann bei Gelegenheit meine Nummer ins Fach im Kindergarten. Dann können wir was ausmachen."
Allmählich macht mich dieses schreckhafte Reh neugierig.
"Ist gut", antworte ich und deute erneut eine Verbeugung an. Für mich ist die Unterhaltung damit beendet. Ich nehme meinen Sohn an die Hand und teile ihm mit, dass er nochmal eine Runde über den Spielplatz flitzen kann.
Seeeeeeeeeehhhhhhr neugierig. Min Yoongi und Min Minjun. Ich finde beide sympathisch. Ein neuer Spielkamerad für Innie ist auch immer willkommen. Aber wenn der Mann in Ruhe gelassen werden will, bekommt er das. ...
"Inhyuk, dann lass uns mal nach Hause gehen. Du bestimmst, was wir beide kochen, okay?"
"Aujaaaaa! Pizza! Oder ... oder ... Spaghetti oder ..."
Wobei er nicht so wirkt.
"Oderoderoder wir machen Pfannkuchen! Papaaa, hörst du mir überhaupt zu?"
"Äh. ... Gut. Pfannkuchen. Dann komm."
Sein Verhalten ist kein 'lass mich in Ruh'. Das ist eher ... ein ... 'tu mir nicht weh?'
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