Montag, 18.12.23



Die restliche Nacht liege ich wach, kann vor lauter Grübeleien nicht mehr schlafen und frage mich, ob es richtig war, den Brief mitten in der Nacht noch in Hoseoks Briefkasten zu werfen. Jetzt ist es aber eh zu spät. Oh Mann. Ich bin völlig durch den Wind.

Der Wecker klingelt. Ich schalte ihn aus. Seufze. Das wird ein anstrengender Tag. Im Augenblick ist die Müdigkeit jedoch so stark, dass sogar die Aufregung vor Hoseoks Reaktion und dem bevorstehenden Gespräch mit Jimin von ihr überdeckt wird. Ich stehe auf, trotte erst in die Küche, dann ins Bad, dann ins Kinderzimmer.

Erleichtert stelle ich fest, dass Minnie schon wach ist und kein Fieber mehr hat. Er ist nicht mehr so blass und schwitzig, was heißt, ich kann ihn in den Kindergarten schicken. 

Wir machen uns heute zusammen im Bad fertig. Minnie gesteht mir, dass er es blöd fand, dass Hoseok und die 'Schüttelkugel' einfach weg waren, als er wach geworden ist. Ich entschuldige mich bei meinem Sohn und versichere ihm, dass Hoseok ganz bestimmt nochmal wiederkommen wird und er sich dann auch von ihm verabschiedet.

Minnie wirkt erleichtert. Zufrieden. Wir schaffen es heute sehr pünktlich, das Haus zu verlassen, wodurch der morgendliche Stress etwas abgemildert wird. Gerädert von der Nacht bin ich trotzdem. Und Ich habe wahnsinnige Angst, Jimin gleich zu begegnen, weil es sein könnte, dass er mich auf nachher anspricht.

Meine Sorge ist nicht unbegründet, denn als ich den Kindergarten betrete, kommt uns der Erzieher schon entgegen. Ich stammele ein "Guten Morgen" vor mich hin, versuche aber so schnell wie möglich wieder aus der unangenehmen Situation wieder herauszukommen.



Eine neue Woche. Und gleich heute ein spannendes Gespräch. Ich habe den ganzen Sonntag damit zugebracht, mich vorzubereiten. Habe Zitate rausgeschrieben, Post its zwischen Buchseiten geklebt, Youtube und Blogs durchsucht. Ich möchte meine Sache gut machen und wirklich eine Hilfe sein.

Ich radele durch die kalte Morgenluft zum Kindergarten. Die Chefin ist schon vor mir gekommen und sitzt im Büro an ihrem Schreibtisch. Ich sage ihr Hallo und mache mich an die Arbeit. Kurz nach mir treffen Herr Min und Min-jun ein. Sie wirken ausgeruht und ohne Eile, haben also den Freitag wohl gut weggesteckt. Oder?

Herr Min berichtet mir, dass Minnie gestern fast nur geschlafen und dabei gefiebert habe, heute aber wieder gesund und wach sei. Ich überlege, ob ich bereits jetzt mit ihm einen genauen Zeitpunkt verabreden soll, aber ich komme gar nicht dazu, so schnell ist er wieder zur Tür raus.

Hm. Bereut er die Zusage? Na, ich werde sehen, wie der Tag mit Min-jun läuft. Der Rest kann bis heute Nachmittag warten.

Ich begrüße Min-jun, begleite ihn zum Ruheraum und knipse ihm den Sternenhimmel im Zelt an. Dann lasse ich ihn wie immer in Ruhe ankommen.


Hoffentlich hoffentlich macht Yoongi jetzt nicht völlig dicht. Hoffentlich glaubt er mir, was ich gesagt habe am Schluss. Hoffentlich ist Min-jun wirklich wieder fit und muss nicht kränkelnd den langen Kindergartentag überstehen. Hoffentlich.

Ich habe die halbe Nacht wach gelegen und nachgedacht, ob ich noch was tun kann. Es ist offensichtlich, dass Yoongi das Tempo bestimmen will und muss.
Ich bin ruhelos durch die Wohnung getigert, bin schließlich an dem Fensterbrett mit meiner Schneekugelsammlung hängengeblieben und habe den Winterwald in die Hand genommen.. Habe mir fest vorgenommen, Minnie diese oder eine andere Schneekugel zu Weihnachten zu schenken. Wenn Yoongi das zulässt.

Bin wieder ins Bett, konnte nicht einschlafen, habe nach Schneekugeln gegoogelt. Hab morgens um 3.00 Uhr oder so den Fahrstuhl rumpeln gehört und beschlossen, dass ich zu müde bin, um noch klar zu denken oder meiner eigenen Wahrnehmung zu trauen. Irgendwann bin ich dann doch noch eingeschlafen und habe geträumt, dass ich mit Min-jun in meiner Schneekugel tanze.

Als ich endlich, ziemlich gerädert, die Augen aufklappe, ist es draußen schon taghell.
Dann hatte ich wohl Nachholbedarf.
Ich bleibe nicht lange liegen, damit mir mein Tagesrhythmus nicht völlig durcheinander kommt. Während ich in der Küche meine erste Tasse Kaffee schlürfe, radelt draußen der Briefträger durch den Schnee.
Sehr gut. Dann kann ich gleich schon die Post hochholen.

Allmählich komme ich wieder in meinen gewohnten Ablauf, ziehe mich an, gehe zum Briefkasten, damit ich nach dem Frühstück Zeitung lesen kann, ...
... komme aber nicht zum Frühstücken, weil aus meinem Briefkasten der Zipfel eines Briefes rauskuckt. Ich ziehe daran. Kein Absender, keine Briefmarke, nur handschriftlich "Jung Hoseok". Ich fahre mit dem Aufzug wieder nach oben, lege die Zeitung achtlos beiseite, mache mir Frühstück und öffne den Brief. Fünf eng beschriebene Seiten - von Yoongi.

Erst entschuldigt er sich für den Rausschmiss. Dann erfahre ich die bittere Wahrheit über seine verstorbene Frau. Und dann schüttet er mir auch alles andere Leid seines Lebens vor die Füße. Das Papier ist an mehreren Stellen wellig, wie feucht geworden. Ich möchte am liebsten mitheulen.

Schonungslos ehrlich breitet er seine tragische Geschichte vor mir aus, schreibt sich ganz viel von der Seele und wirkt am Ende zwischen den Zeilen tatsächlich erleichtert.
Ich staune über sein großes Vertrauen - direkt nach dem Rauswurf.
Dann hat er wohl einfach seine Zeit gebraucht, aber heute Nacht einiges für sich sortiert.

Ich setze mich hin und schreibe Yoongi eine Antwort. Er soll schnell wissen, dass ich ihm nichts nachtrage und gerne weiter für ihn da bin. Den Brief klemme ich ihm dann oben an die Fußmatte.
Jetzt endlich kann ich - reichlich verspätet - in meine Schreibstube und an mein Manuskript gehen.


Der Tag vergeht schnell. Die Kunden sind allerdings wieder der reinste Albtraum. Nörgelnde Kinder, die gar keine Lust haben, in einer Shoppingmall ihre Freizeit zu verbringen, Eltern, die das nicht interessiert und natürlich ist die Sorte 'ich muss heute noch zu einem Meeting, haben Sie nichts besseres?' auch wieder vertreten. Dafür geht mir zumindest ein Mensch nicht auf den Nerv: mein Chef. Der hat nämlich bereits Urlaub, etwas, wovon wir normalen Angestellten nur träumen können.

Als ich nach Feierabend im Auto sitze, habe ich einen neuen Höhepunkt meiner Nervosität erreicht. Ich frage mich, wie das Gespräch laufen wird, aber da ich nicht mal so richtig weiß, worum es geht, gehen meine Gedanken in alle Richtungen. Ich bin gerne vorbereitet, was heute leider so gar nicht möglich ist.

Am Kindergarten angekommen, hole ich nochmal tief Luft, ehe ich in die Gruppe gehe, in der sich mein Sohn nachmittags immer aufhält. Alles wirkt wie immer, Trubel und Durcheinander sind verschwunden. Er sortiert Autos, Jimin sitzt geduldig neben ihm. Ich nehme all meinen Mut zusammen, bevor ich auf die beiden zugehe, und erkundige mich erstmal, ob heute alles in Ordnung war oder Min-jun nochmal auffällig fiebrig war.



Bei der Morgenrunde haben viele Kinder nochmal vom Freitag gesprochen. Manche - wie zum Beispiel Inhyuk - erzählen vom Schnee am Samstag. Min-jun erzählt normalerweise gar nichts. Aber das ist heute anders. Mit Leuchten in den Augen beschreibt er ein "Schütteldings" mit winzig kleinen Bäumen, Rehen und Hasen und echtem Schnee. Da kapiere ich, dass er von einer Schneekugel erzählt. Er hat noch nie so lebhaft und begeistert geschwärmt von etwas, das nicht ein Auto war.

Als ich später zwei Kolleginnen davon erzähle, meint die eine, es sei ganz einfach, die selbst zu basteln. Man bräuchte nur ein gut schließendes Marmeladenglas, destilliertes Wasser, ein paar Tropfen Babyöl und natürlich irgendwelches Minispielzeug. Die Idee finde ich so toll, dass ich sofort einen Aushang an der Vordertür mache, dass wir gut schließende Schraubgläser und sehr kleines Plastikspielzeug suchen. Das wären nämlich ganz wunderbare Weihnachtsgeschenke von den Kindern an die Familie.

Im Laufe des Tages beseitigen wir mit den Kindern die letzten Spuren vom Weihnachtsfest. Es ist witzig zu sehen, dass Min-jun sich mit jedem 'richtig aufgeräumten' Raum mehr entspannt, weil seine Welt Stück für Stück wieder in Ordnung kommt. Nach dem Mittagessen schläft er zusammen mit den Krippenkindern.
Das sind dann wohl die Nachwehen seines gestrigen Fieberschubs.

Ein ganz normaler Kindergartentag - wenn da nicht noch das Gespräch mit Herrn Min wäre. Er ist gradezu ein Nervenbündel, als er seinen Sohn abholt. Also versuche ich, es ihm so einfach wie möglich zu machen. Wir verabreden zügig die Uhrzeit, wann ich dort sein soll.

Mehr Zeit nehme ich mir für Min-jun, denn kleinere Kinder erschrecken oft, wenn sie einen bekannten Menschen plötzlich in einem anderen als dem gewohnten Zusammenhang sehen. Ich hocke mich einfach zu ihm auf die Garderobenbank.

"Weißt du was, Min-jun? Ich bin sooo neugierig auf dein Zimmer und deine Autosammlung, dass ich grade mit deinem Papa gesprochen habe. Ich werde euch nachher bei euch zu Hause besuchen. Wie findest du das?"
Mit großen Augen sieht er mich an.
"Bei uns zu Hause?"
"Ganz genau. Du musst dich gar nicht wundern, wenn es klingelt und ich in der Tür stehe. Ich mag euch einfach so besuchen."
"Dann ... sehen wir uns heute noch mal? Jippiieeeh! Bis nachher."
Winkend geht der kleine Fratz mit seinem Vater zur Tür raus.


Wenigstens weiß ich jetzt, wann Jimin zu uns kommen wird. Eine wichtige Info, an die mich klammere, weil sie das einzige ist, das feststeht. 

Auf dem Weg nach Hause mache ich mir über alles mögliche Gedanken. Sie sind noch unsortierer als sonst, was nicht nur an den Umständen liegen wird, sondern auch am Schlafmangel. Minnie bekommt davon glücklicherweise nicht viel mit. Er ist wieder ganz der alte, freut sich darauf, das Knöpfchen am Aufzug zu drücken, und flitzt über den Flur. Es scheint mal wieder nur diese 'Ein-Tag-Völlig-Krank'- Krankheit gewesen zu sein, denn heute merkt man von seinem gestrigen Zustand nichts mehr. Wenn ich das von mir mal behaupten könnte...

Ich zücke meinen Schlüssel für die Wohnungstür und will grade aufschließen, als mein Sohn mich auf etwas aufmerksam macht. Er zeigt auf die Fußmatte und da erkenne auch ich, dass dort etwas halb versteckt liegt. Ich ziehe es hervor und erkenne, dass es ein Brief ist. 'Min Yoongi' steht da drauf, mehr nicht. Unweigerlich frage ich mich, ob das eine Antwort von Hoseok ist. Wer sonst sollte mir einen Brief schreiben? Und dann noch mit diesem Timing.

Minnie fragt, was es ist, und ich habe keine Ahnung, was ich ihm sagen soll. Das ist etwas, das er nicht erfahren muss. "Das weiß ich selbst noch nicht", erkläre ich, nehme den Brief mit rein und lege ihn ungeöffnet auf den kleinen Schrank im Flur. Min-jun flitzt, wie immer, direkt erstmal ins Bad und als er wiederkommt, sage ich ihm, dass er noch eine Weile in seinem Zimmer spielen kann. Ich habe noch ein bisschen Zeit, bis Jimin zu uns kommt, und die nutze ich, um noch mehr Kaffee zu trinken. Die letzten drei Tassen haben schon nicht mehr viel Wirkung gezeigt, aber ohne weiteres Koffein würde ich wahrscheinlich im Stehen einschlafen.

Ich halte mich mit kleinen Hausarbeiten wach, denn Sitzen wäre jetzt zu gefährlich. Dann klingelt es auch schon. Vor Schreck zucke ich zusammen. Ich muss die Tür öffnen, aber meine Beine wollen mir nicht gehorchen. Wieso kann dieses Gespräch nicht schon vorbei sein?

Min-jun hört das Klingeln ebenfalls und saust zur Tür. "Paaapaaa", höre ich ihn rufen und dadurch kann ich mich endlich wieder bewegen. Wir öffnen die Haustür gemeinsam, erklären Jimin durch die Sprechanlage, in welchen Stock er muss und öffnen bereits die Wohnungstür. Min-jun ist die Aufregung und Freude anzusehen. Ich dagegen bin nur nervös und habe das Gefühl, nicht richtig vorbereitet zu sein. Ich kann ihm nicht mal etwas anbieten. Oder doch? Tae hat doch gestern Plätzchen mitgebracht. Wenn ich die auf einen Teller packe, sieht es vielleicht so aus, als hätte ich mich auf den Besuch vorbereitet. Wieso fällt mir das erst jetzt ein?

Ich höre erst den Aufzug, dann die Schritte. Sie befördern mich sofort wieder ins Hier und Jetzt. Wenig Sekunden später steht auch schon Jimin vor uns. Min-jun und Jimin begrüßen sich herzlich, ich dagegen möchte einfach, dass sich ein Loch im Boden auftut...

"Kommen Sie rein", murmle ich, mache einen Schritt zur Seite und überlasse Minnie den Rest. Dieser macht unaufgefordert eine kleine Führung durch unsere Wohnung und zeigt ihm natürlich auch sein Zimmer. Seine Spielzeugautosammlung breitet er auf dem Boden aus, damit Jimin sich alle ansehen kann.
Ich stehe derweil im Türrahmen und weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist, dass Min-jun das Gespräch hinauszögert.

Oh. Die Plätzchen. Ich könnte sie schnell herrichten. Vielleicht sollte ich Jimin auch mal was zu Trinken anbieten... Das läuft ja super.
"Jimin? Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Einen Kaffee oder Wasser?"


"Gerne Wasser. Danke!"

Die Begrüßung durch Minnie ist echt niedlich. Ich folge ihm in sein Zimmer und bestaune seine Autos. Ich sollte Herrn Min allerdings nicht zu lange auf die Folter spannen. Darum mache ich mich bald auf ins Wohnzimmer.

Herr Min sieht mir nervös entgegen, als würde er gleich zum elektrischen Stuhl gebracht. Darum setze ich mich schnell, nehme dankend ein Glas Wasser an und lege sofort los.
"Ich möchte Ihnen etwas erzählen, was ich vor zwei Wochen erlebt und verstanden habe. Ich hatte meinen Bruder besucht, der sich mit Freunden zum Heimkino verabredet hatte. Es war ein feucht-fröhlicher Abend. Der Film handelte von einem Pärchen - und von einem autistischen Bruder. Ich habe den ganzen Abend überlegt, an wen mich dieser Bruder erinnert. Erst, als ich am nächsten Tag Min-jun dabei zugesehen habe, als er so war, wie er nun mal immer ist, ist bei mir der Groschen gefallen."

Ich beobachte sein Gesicht und seine Haltung genau, während er auf der Sofakante sitzt und nervös mit seinen Fingern spielt.

"Herr Min, ich glaube, dass Ihr Sohn ... ja, ich finde das Wort 'Autismus-Spektrum-Störung' eigentlich zu negativ und zu abwertend. Es ist im medizinischen Sinne keine 'Störung'. Nur ein Anderssein. Ich denke, dass Ihr Sohn mit Autismus geboren wurde. Das macht ihn nicht zu einem schlechten oder falschen Menschen, und es heißt auch nicht, dass er eine furchtbare, unheilbare Krankheit hat. Autismus ist angeboren, und diese Menschen sind schlicht anders als Otto Normalverbraucher. Nicht krank. Nicht falsch.
Diese Menschen nehmen anders wahr, sie verarbeiten das Wahrgenommene anders, und sie reagieren oft auch anders, als Menschen ohne Autismus-Spektrum-Störung es erwarten. Und diese Erwartungen können ihnen das Leben so richtig schwer machen."


Ich merke, dass Jimin seine Worte mit Bedacht wählt, trotzdem trifft mich das Wort Autismus mit voller Wucht.

Es arbeitet in meinem Kopf auf Hochtouren, einen klaren Gedanken zu fassen, ist jedoch schwer. Ebenso, eine Antwort zu formulieren. Lediglich durch ein Nicken versuche ich ihm mitzuteilen, dass ich noch da bin und ihm zuhöre.

Vor meinem inneren Auge ploppen die verschiedensten Situationen auf, in denen ich das Gefühl hatte, dass mein Sohn anders ist. Wie bei einem Puzzle versucht mein Kopf passende Bilder zu Jimins Worte zu finden und sie zusammenzusetzen. Ohne Erfolg. Es herrscht ein heilloses Durcheinander, ich verstehe das alles nicht, ich habe keine Ahnung, wie sich so ein Autismus äußert.

Jimin fährt fort, weiterhin sehr bedacht.


"Ich möchte hier kein 'Urteil' über Sie und Ihren Sohn fällen. Ich bin auch kein Psychologe, ich darf gar keine Diagnose stellen. Aber als der Kindergartenerzieher Ihres Sohnes ist es meine Aufgabe, Ihr Kind durch diese Jahre zu begleiten und in enger Zusammenarbeit mit Ihnen zu fördern. Je jünger ein Mensch diese Diagnose gestellt bekommt, desto besser kann er unterstützt werden und sich später um so sicherer in der Welt bewegen."
Ich sehe keinen Zweifel in seinen Augen. Nur Schmerz, Verunsicherung und Schuldgefühle.

"Ich habe mich jetzt zwei Wochen lang intensiv mit der Thematik befasst, bin also wahrlich kein Experte. Aber ich habe daraufhin mein Verhalten gegenüber Min-jun angepasst. Und das hat ihm durch manche Situation geholfen."

So, jetzt wirds spannend. Hoffentlich schluckt er das!

"Ich sage das alles nicht, um Sie und Ihren Sohn zu erniedrigen. Bitte verstehen Sie mich richtig. Ich sage das, um Ihnen die Selbstvorwürfe, die Versagensängste, die Ablehnung, den Selbsthass von den Schultern zu nehmen. Weil es auf jedes 'warum und wieso' eine Antwort gibt. Weil solche Aussetzer wie am Freitag NICHTS mit Schuld zu tun haben. Weil Sie und Ihr Sohn so sind, wie Sie sind, weil Sie jeden Tag um Würde und Verständnis ringen. Weil es ganz viele Hilfen für Sie gibt, die Ihnen das Leben leichter machen. Wenn Sie das annehmen können."



Die meisten Worte kommen nur gedämpft bei mir an, weil meine eigenen Gedanken so laut sind. Ein Satz höre ich jedoch in aller Deutlichkeit. Jimin erhofft sich scheinbar, mir meine Selbstvorwürfe und die Versagensängste zu nehmen. Er will nicht nur meinem Sohn helfen, sondern auch mir. Und gerade in diesem Moment sind die Selbstvorwürfe besonders hoch. Ich habe Zweifel, dass er sie mir nehmen oder abmildern kann.

Er sagt zwar, dass Autismus angeboren ist, aber ich höre noch etwas anderes. Er weiß damit umzugehen, er weiß mit Min-jun umzugehen, etwas, das ich von mir nicht behaupten kann.

"Und wie...", ich stocke. Vergesse beim Aussprechen der Worte, was ich eigentlich fragen wollte. Worum geht's mir? Ob ich Schuld habe, weil ich nicht richtig mit Min-jun umzugehen weiß? Oder darum, wie es sich äußert, wenn man Autismus hat? Oder eher darum, wie ich Min-jun genauso eine gute Hilfe sein kann, wie Jimin es offenbar ist?

Jimin ist jemand, mit dem man offen sprechen kann, dem man vertrauen kann. Vielleicht wäre es ein erster Schritt, ehrlich zu sein? Und ihm zu sagen, dass ich durchaus bereit bin, mehr darüber zu sprechen, aber nicht sofort?

"Ich bin... ein bisschen überfordert. Ich brauche einen Moment. Okay?"

Wie erwartet versichert er mir, dass ich alle Zeit der Welt habe und ich erstmal in Ruhe meine Gedanken sortieren darf. Und genau das tue ich. Dadurch entsteht eine ganze Weile diese Stille, die zwar nicht unangenehm ist, mich aber trotzdem nervös macht.

Ich schaue zu ihm und versuche herauszufinden, ob es wirklich okay ist, wenn ich schweige. Er lächelt, vorsichtig und abwartend. Es wirkt nicht aufgesetzt oder herablassend und das beruhigt mich.

Einen Augenblick gewährt er mir noch und ich spüre, dass sich meine Gedanken langsam zu ordnen beginnen. Im selben Moment ergreift er wieder das Wort.



Langsam macht sich Erleichterung in mir breit. Er ist nicht sauer, weist nichts von sich, rennt nicht weg. Und er kann sagen, was er braucht.
"Soll ich Ihnen mal ein Beispiel nennen, woran ich das festmache?"
"Ich glaube ja. Vielleicht wäre es ganz gut. Also ja."

"Min-jun hat streng ritualisierte Verhaltensweisen, bei denen man ihn nicht stören darf. Und er hat spezielle Bedürfnisse, was seine Kleidung angeht. Eine Hose, die zu weit ist und dazu noch Geräusche macht - das reicht, um ihn aus der Bahn zu werfen. Das ist um Himmels Willen kein Vorwurf! Solche speziellen Bedürfnisse sind in der Regel von außen nicht verständlich, beeinträchtigen ihn aber erheblich. Möbel umstellen, ein Morgen- oder Abendritual abändern. All das kann außer Kontrolle geraten und zur Katastrophe werden."


Jimin nimmt sich Zeit, mir ein möglichst plausibles Beispiel zu nennen. Und tatsächlich erinnere ich mich noch sehr gut daran. Es tut mir jedes Mal Leid, wenn ich sehe, dass Minnie so reagiert. Ich habe nie verstanden, warum das so ist. Dafür habe ich von so vielen Menschen schon gesagt bekommen, dass ich nur strenger sein muss, damit mein Sohn endlich lernt, dass es nicht immer nur nach ihm gehen kann. Gefallen hat mir das nie, aber wie soll ich wissen, was richtig ist? Ich habe geglaubt, dass die anderen erfahrener sind und schon wissen werden, was man in solchen Momenten tut. Jetzt kommt Jimin und sagt mir, dass ich es eben nicht so machen soll, wie die breite Masse es für richtig empfindet.

"Ich wusste nicht, dass das... wirklich so schlimm für ihn ist", sage ich leise und muss einmal tief Luft holen. Ich will es ja verstehen. Ich möchte so gut mit meinem Sohn umgehen können, wie Jimin es kann. Aber ich befürchte, dass ich nicht mal einen Bruchteil verstanden habe, was das alles für mich, meinen Sohn und unser Zusammenleben bedeutet.

"Könnten Sie... hätten Sie vielleicht noch ein anderes Beispeil?", traue ich mich schließlich zu fragen.



"Lassen Sie mich das am vergangenen Freitag erläutern. Ich habe schon bei der Vorbereitung darauf geachtet, dass ich jede Veränderung in den Räumen ankündige und möglichst Min-jun mithelfen lasse.

An dem Morgen habe ich ihm Zeit für sein Ankommensritual gelassen. Das beinhaltet, dass er sich eine Zeit lang in den dunklen Ruheraum setzt. Dann gehen wir - in der immer selben Reihenfolge - durch alle Räume, machen Lichter an, stellen Stühle runter, ziehen Rollläden hoch. Wir bereiten gemeinsam das erste Frühstück vor. Min-jun sortiert die Gemüsesticks auf der Platte nach Farbe und Größe. Immer gleich. Wenn ich an einem Morgen keine Gurke habe, kommt er aus dem Tritt, weil die Farbe fehlt.

Alle anderen Räume wurden für die Feier schon am Vortag umgebaut und die Wände geöffnet. In unserer Gruppe haben wir das erst am Freitag und gemeinsam gemacht, damit Min-jun das mitbekommt.

Je näher das Fest rückte, desto empfindlicher wurde er. Wir waren schließlich nur noch im Ruheraum, weil er alles andere nicht mehr ertragen konnte. Als um 16.00 Uhr die ersten Leute kamen, ist er auf meinen Schoß gekrabbelt und hat sich die Ohren zugehalten. Jedesmal, wenn die Tür aufging und eine Lärmwelle hereinschwappte, ist er zusammengezuckt. Hat geweint."

Herr Min hört aufmerksam zu.

"Ihnen ging es nicht besser. Sie mussten mitten rein in Lärm und Gewühl, die Räume waren ohne Vorwarnung plötzlich alle anders. Und Ihren Sohn konnten Sie auch nicht entdecken. Also haben Sie gesucht, nicht gefunden und allmählich Panik bekommen. Bis Sie uns im Ruheraum gefunden hatten, waren Sie schon nicht mehr in der Lage zu denken. Sie haben Ihren Sohn gesehen und ihn an sich gerissen, um zu spüren, dass es ihm gut geht. Erst als Sie beide sich wirklich erholt hatten, konnten Sie aus dem Raum raus und sich im Saal aufhalten.
Ich bin ganz ehrlich: ich möchte nicht in Ihrer Haut stecken. Das alles muss so unglaublich anstrengend und demütigend sein. Ich bewundere Sie dafür, dass Sie gemeinsam mit Ihrem Sohn so weit gekommen sind."


Jimins letzte Worte machen mir ein bisschen Mut, denn gerade fühle ich mich wie der größte Versager. Natürlich bin ich kein Erzieher und habe auch nicht so ein gutes Hintergrundwissen wie er. Aber als Vater hätte mir das doch früher auffallen sollen. Wobei... aufgefallen ist es mir ja schon irgendwie, ich konnte es nur nie benennen.

Ich merke, wie meine Konzentration schwindet und schnaufe. Dieses ganze Grübeln macht mich müde, auch wenn ich gerne mehr erfahren wollen würde. Gerade finde ich es nur alles sehr viel auf einmal. Es wäre hilfreich, wenn diese vielen neuen Infos wohldosiert auf mehrere Tage verteilt bei mir ankämen. Wenn ich mir Zeit nehmen könnte, mich mit der Thematik zu befassen, und dann Min-juns Verhalten nochmal genau beobachten könnte. Ich bin mir sicher, dass der ein oder andere Aspekt mir auffallen würde, denn ich glaube nicht, dass Jimin sowas leichtfertig sagen würde. Da wird etwas dahinterstecken.

Jimin wartet. Ich sollte ihm wenigstens mal irgendwie antworten, auch wenn ich absolut keine Ahnung habe, was man in solchen Momenten sagen soll. Ich bin immer noch wie erschlagen, aber vielleicht reicht das?
"Das... ist alles ziemlich viel. Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll."




"Das verstehe ich. Ich denke, ich habe Ihnen jetzt einen Haufen Informationen gegeben, die Sie erstmal verarbeiten müssen. Ich würde es für heute dabei belassen. Ich bitte Sie aber sehr, dass wir in der nächsten Zeit viele solche Gespräche führen, damit Sie sich immer sicherer fühlen dürfen.
Wenn es Ihnen hilft, lasse ich Ihnen mal ein paar Fragen da, die ich aufgeschrieben habe. Sie müssen die nicht mir beantworten, aber vielleicht hilft es Ihnen dabei, um Ihren Sohn zu beobachten und besser einschätzen zu können." 

Herr Min nickt. Ich reiche ihm einen Zettel mit ein paar Beobachtungsaufgaben.
- Hat Min-jun Schwierigkeiten, mit anderen Kindern in Kontakt zu treten?
- Hat Min-jun ausgeprägte Essgewohnheiten und starke Vorlieben beziehungsweise Abneigung gegen bestimmte Speisen/Kleidung/Geräusche?
- Hat Min-jun Angst vor Veränderungen?
- Hat er immer das Bedürfnis, alles genau zu verstehen?

"Ich habe mehrere Bücher durchgeackert. Dieses hier fand ich am hilfreichsten. Das lasse ich Ihnen da, falls Sie mehr wissen möchten. Und außerdem habe ich einige wenige Youtube-Videos rausgesucht, die Sie sich wohldosiert ansehen können. Eins nach dem anderen. Tasten Sie sich langsam an das Thema ran."



Ich nehme Zettel, Bücher und Youtube-Empfehlungen entgegen, bedanke mich, dass Jimin sich so viel Zeit genommen hat, und versichere ihm, dass ich für weitere Gespräche offen bin.

Jimin fragt mich, ob es für mich okay wäre, wenn er sich noch einen Moment zu Min-jun setzt. Und wenn ich ehrlich bin, bin ich über das Angebot sehr dankbar. Das ganze Verarbeiten kostet gerade alle Rechenkapazität, die ich zur Verfügung habe, und ich bin froh, wenn ich nicht direkt wieder in meine Vaterrolle schlüpfen muss.


"Ich bin froh, dass wir einen Anfang gemacht haben. Würde es Ihnen helfen, wenn Sie noch einen Moment für sich haben? Dann spiele ich ein bisschen mit Min-jun, und Sie kommen dazu, wenn Sie den Kopf wieder etwas frei haben."

Her Min sieht erleichtert aus. Also mache ich mich auf den Weg zu Minnie. Wir spielen ein bisschen, bis Herr Min durch die Tür kommt und sich dazu setzt. Ich binde ihn ins Spiel ein, bis die beiden interagieren. Dann verabschiede ich mich leise und gehe. Die Situation ist grade so schön.

Als ich wieder draußen in der kalten Dämmerung stehe, fällt mir ein riesengroßer Stein vom Herzen. Der Anfang ist gemacht! Erst jetzt fällt mir auf, dass ich mich so vollständig auf den Vater konzentriert habe, dass ich selbst kaum gefühlt habe dabei.

Okay, dann radele ich den Umweg und kümmere mich dabei um mich.



Als Jimin weg ist, fühle ich mich plötzlich leer und schwer und trüb. Ich kriege es noch hin, ein kleines Abendessen zu machen und Min-jun ins Bett zu bringen, aber dann ist bei mir auch Ende.

Den Brief von Hoseok werde ich heute nicht mehr lesen, dafür habe ich jetzt keine Kraft mehr, aber ich denke mal, dass es eh reicht, wenn ich das morgen mache. Jetzt will ich nur noch ins Bett und ein bisschen verpassten Schlaf nachholen.
 


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