Mittwoch, 06.12.23

  


Wir werden wach vom Jubel unserer Kinder, die sich noch vor unserem Weckerklingeln in den Flur geschlichen und ihre Stiefel inspiziert haben. Der Nikolaus bringt ganz bewusst keine Geschenke, nur einen Apfel, eine Mandarine, ein paar schokolierte Nüsse, ein bisschen Schokolade und eine Kleinigkeit wie ein buntes Radiergummi oder einen Regenbogenstift. Wir wollen den Ball flach halten, auch, weil dann die anderen Kinder in Kindergarten und Schule nicht so leicht neidisch werden. 

Die Schlafzimmertür fliegt auf, und zack haben wir zwei strahlende Kinder auf uns hocken. Inhyuk ist wie immer schneller.
"Papa, kuck mal, der Nikolaus hat mir ein winziges Glitzerbunt mitgebracht. Wenn man da durchkuckt, sieht man ein Muster, und wenn man das dreht, purzelt das Bunt durcheinander."
"Nein! Zeig mal."
Inhyuk hält mir das kleine Kaleidoskop hin. Ich kneife ein Auge zu und halte mir das Teil vors andere Auge.
"Oh! Ahh! Nein! Ist das alles da drin?"
"Weiß nicht. Aber das ist toll."

Neri glaubt schon seit ein paar Jahren nicht mehr an den Nikolaus. Aber sie ist viel zu fasziniert von ihrer neuen Haarspange, um ihren Bruder darüber aufzuklären. Still und mit breitem Strahlen streichelt sie ihr kleines Geschenk. Die Spange ist aus dunkelrotem Samt und mit ein paar roten Glitzersteinchen verziert.
"Die ist so weich!", murmelt sie, bevor sie sich die Haarspange in ihre noch ungekämmten schwarzen Zotteln steckt. "Danke!"

Wir schälen uns aus den warmen Decken. Ich überlasse Anna das Bad, weil sie heute früh anfangen muss, und ziehe mit den Kindern die Morgenroutine durch. Anziehen, Ranzen kontrollieren, frühstücken, Zähne putzen, los.


Mittwoch. Ich bringe Min-jun in den Kindergarten und fahre zur Arbeit.
Ein Tag wie jeder andere.

Fast. Denn als ich Min-jun vorhin abgesetzt habe, war Jimin nirgends zu sehen. Die anderen Erzieherinnen und Erzieher sind zwar auch nett, aber ich glaube, dass Min-jun zu ihnen nicht so eine tiefe Verbindung hat, wie zu ihm. Es macht mir ein bisschen Bauchschmerzen, denn an solchen Tagen ist Min-jun nachmittags, wenn ich ihn abhole, immer etwas durch den Wind und braucht dann sehr viel Ruhe.

Ich will mir gar nicht vorstellen, wie anstrengend es ist, den ganzen Tag von Kindergekreische umgeben zu sein. Ich erinnere mich nicht mehr daran, ob ich das als Kind auch schon so schlimm fand, ich weiß nur, das ich nie gerne in den Kindergarten gegangen bin.

Hätte ich noch Kontakt zu meinen Eltern, könnte ich sie fragen, wie ich als Kind war. Vielleicht würde mir das bei der Erziehung von Min-jun helfen. Da wir allerdings seit vielen Jahren gar keinen Kontakt mehr haben, fällt diese Option definitiv weg.


Stolz marschiert Inhyuk mit seinem kleinen Kaleidoskop in der Hand in den Kindergarten. Ich kriege ihn kaum aus der Winterjacke, da ist er schon zu seinen Freunden geflitzt. Daneben entdecke ich Min-jun, der ganz in der Ecke des Bauzimmers hingekauert hockt und die Gruppe älterer Jungs stumm beobachtet. Seine Augen folgen konsequent dem kleinen Spielzeug, das von Hand zu Hand und von Auge zu Auge wandert. Seine Neugierde ist offensichtlich - seine Angst auch.

Armer kleiner Kerl. Warum habe ich jedes mal, wenn ich ihn sehe, das Bedürfnis, ihn zu beschützen? Inhyuk scheint ihn hier in diesem Zusammenhang überhaupt nicht zu bemerken.

Ich will mich von meinem Sohn verabschieden und zur Arbeit gehen, als der Gruppenerzieher zur Vordertür reinkommt. Er scheint mittwochs generell später anzufangen. Wir begrüßen uns im Aneinandervorbeigehen. Da hält ein Gedanke mich auf.
"Herr Park? Ich habe eine kurze Frage."
Er bleibt stehen und grüßt zurück.


Ich bin noch gar nicht ganz da bei der Arbeit, als mich vor meinem Gruppenraum ein Vater anspricht.
"Ah, Herr Kim. Guten Morgen. Was kann ich für Sie tun?"
Er zeigt in den Raum in Richtung Fenster.
"Sehen Sie die Gruppe dort drüben? Die mit Inhyuk mittendrin. Daneben in der Ecke sitzt Min-jun. Spielen diese Kinder öfter miteinander?"

Spannend, dass er das fragt.
"Inhyuk ist da mit seiner Clique zusammen. Innerhalb des Hauses ist Min-jun aber nie dabei. Er spielt fast immer für sich alleine. Erst, wenn wir nach draußen gehen, kleben Inhyuk und Min-jun aneinander wie Magnete. Sie klettern meistens gemeinsam. Warum fragen Sie das?"
"Weil wir Vater und Sohn am Samstag auf dem Spielplatz im Stadtpark getroffen haben. Da sind die beiden Jungs gemeinsam auf einen hohen Baum geklettert. Jetzt scheint mein Sohn den anderen gar nicht zu kennen. Verstehen Sie das?"

Warum ist dem Mann das so wichtig? Egal. Es ist meine Chance, Min-juns kleine Welt ein wenig zu vergrößern.
"Mir ist das auch erst seit neuestem aufgefallen. Ich werde das weiter beobachten. Vielleicht kann ich Ihre Frage bald beantworten. Was ist das, was Inhyuk da in der Hand hält?"
"Es ist ein kleiner Holzwürfel mit einem winzigen Kaleidoskop drin."
"Danke. Ich will sehen, was ich rausfinden kann."
Herr Kim verabschiedet sich und geht.  

Meine Neugierde ist geweckt. Ich bringe schnell meine Jacke und Stiefel weg und löse die Kollegin im Bauzimmer ab. Die Aufregung um Inhyuk hat sich etwas gelegt, die Jungs spielen irgendwas mit Weltraum und benutzen dabei das Kaleidoskop als Fernrohr. Min-jun sitzt halb hinter dem Vorhang und ist weithin sichtbar überfordert von der ganzen Action im Raum.
Ich begrüße die Kinder, lasse mir ein paar kurze Erlebnisse erzählen und setze mich dann still neben Min-jun. Ich sehe ihn nicht an, ich berühre ihn nicht. Was wir gestern im Team besprochen haben, was ich gestern Abend in diesem Buch gelesen habe, hat mich tief erschüttert. Also lasse ich den Jungen von sich aus kommen.

Es dauert mehrere Minuten, in denen ich einfach da sitze und das Geschehen im Raum beobachte. Zwei Mädchen wollen, dass ich ihren Playmobilgarten bewundere, den sie gebaut haben. Ansonsten ist es still in unserer Ecke. Im Rest des Raumes ist der Lärmpegel jedoch beträchtlich.

Endlich rührt sich Min-jun. Er kommt ganz langsam hinter dem Vorhang hervor, rutscht näher zu mir und hält mir schließlich seine Hand hin. Als ich danach greife, nimmt er die Einladung an, klettert auf meinen Schoß und lehnt sich an mich. Wieder ist es still. Ich kann spüren, dass der Junge sehr unter Strom steht und nur allmählich loslässt. Aber dann flüstert er doch etwas.
"Wo warst du heute Morgen, Jimin? Das Gemüse war ganz unordentlich auf dem Teller beim Frühstück. Und es ist überall laut. ... Ich bin müde."
Ich lege vorsichtig meine Arme um ihn, um ihn nicht zu erschrecken. So viel auf einmal spricht er selten.
"Ich kann leider nicht jeden Morgen so früh da sein wie du. Aber jetzt bin ich ja hier. Ruh dich ein bisschen bei mir aus. Und außerdem bin ich jeden Nachmittag für dich da. An dem einen Morgen in der Woche musst du ein bisschen Geduld haben."

Still schmiegt mein Schützling sich in meine Arme. Was ich nie für möglich gehalten hätte, geschieht. Dem Kind fallen die Augen zu. Er schläft. Auf meinem Schoß.

Was mach ich denn jetzt? So toll das ist, so unpraktisch ist es auch.
Ich werde schnell gerettet, denn unsere Praktikantin betritt den Raum. Sofort mache ich das Pssst-Zeichen. Sie war gestern dabei im Team. Sie ist insgesamt sehr neugierig und lernwillig. Und sie versteht sofort.
Youna überredet ein paar besonders laute Kinder dazu, jetzt zum zweiten Frühstück zu gehen, putzt hier eine Nase, trocknet dort eine Träne und arbeitet sich so langsam durch den Raum bis in unsere Ecke.

Neugierig betrachtet sie mich und das Kind.
"Das passt aber gar nicht zu deinem Verdacht, oder?"
Wir unterhalten uns flüsternd.
"Weiß ich noch nicht. Ich hab mittwochs den späten Dienstbeginn. Ich wüsste gerne, wer ihn heute morgen in Empfang genommen hat und ob da was passiert ist. Weißt du was?"
"Ich schau mal nach, wer Dienst hatte, und frage."
Leise verschwindet sie wieder. Zum Glück ist hier im Bauzimmer jetzt nicht mehr viel los.
Nach ein paar Minuten kommt sie zurück.
"Die Chefin war als erstes da. Sie will heute Mittag in Ruhe mit dir reden. Und jetzt soll ich hier bleiben, damit du nicht aufstehen musst."
"Danke!"

Youna geht auf den Bauteppich zu den verbliebenen Kindern. Ich bin echt erstaunt, denn gestern war die Chefin noch so skeptisch gegenüber meinem Verdacht. Und heute sorgt sie selbst dafür, dass ich ganz für das Kind da sein darf! Aber ich wehre mich nicht. Soll der Kleine sich doch richtig ausschlafen.

Fast zwanzig Minuten lang liegt Min-jun zusammengerollt auf meinem Bauch, entspannt wie ein Kuschelkissen. Jetzt wacht er mit einem leisen Seufzen auf und reibt sich die Augen. Erst sieht er erschrocken aus und bringt ein bisschen Abstand zwischen uns. Er kämpft mit sich. Schließlich spricht er doch, ohne mich anzusehen.
"Hab ich geschlafen?"
"Ja, Min-jun. Du warst sehr müde. Und ich wollte dich nicht auf dem kalten Fußboden liegen lassen. Geht es dir jetzt besser?"
Er nickt.
"Überleg dir doch mal, was du jetzt gerne spielen möchtest. Fällt dir was ein?"
Er schüttelt den Kopf. Dann rutscht noch eine Frage raus.
"Was war das für ein Ding, das Inhyuk vorhin hatte?"
"Wollen wir ihn das zusammen fragen?"
Jetzt schüttelt er den Kopf, dass seine Haare nur so fliegen.
"Dann warten wir, bis wir nachher rausgehen. Er zeigt dir das bestimmt gerne."

"Draußen ist gut."
Erst jetzt kann Min-jun aufstehen und das Haus für sich erobern. Sein Tag kann entspannt beginnen. Und ich habe schon wieder tausend neue Fragen.


Als ich am Nachmittag meinen Sohn aus dem Kindergarten abhole, bin ich überrascht. Er ist nicht so müde wie sonst, fröhlich, kommt direkt auf mich zu und drückt mich einmal kurz. Ich bin so perplex, dass ich gar nicht weiß, wie ich darauf reagieren soll.

Warum bin ich in solchen Momenten nie in der Lage, ordentlich zu reagieren? Ich beobachte bei anderen, wie sie auf gewisse Dinge reagieren und kriege es einfach nicht hin. Zum Glück kennt mein Sohn mich und nimmt es mir nicht übel, dass ich wie erstarrt stehen bleibe.


Nach dem Schläfchen ist Min-jun sehr gut durch den Tag gekommen. Er war ausgeglichen. Und er hat seinen Wunsch nicht vergessen. Kaum waren die Kinder draußen, hat er sich an Inhyuk geklemmt und ihn oben auf dem Turm angesprochen. Ich hätte am liebsten laut gejubelt, als Inhyuk, ohne zu zögern, in seine Tasche gegriffen und Min-jun das Kaleidoskop gereicht hat. Der Kleine ist augenblicklich versunken in einer fernen, bunten Welt. In der Abholsituation ist er gegenüber seinem Vater ungewöhnlich lebhaft und offen gewesen.

Da es sich über Mittag einfach nicht ergeben hat, bleiben die Chefin und ich am Nachmittag noch ein paar Minuten länger.
"Darf ich fragen, wie Min-jun heute Morgen gestartet hat? Als ich kam, war er im Bauraum halb hinter dem Vorhang versteckt vor lauter Überforderung."
"Natürlich darfst du fragen. Aber zunächst möchte ich mich entschuldigen, dass ich dir gestern nicht geglaubt habe.
Vater und Sohn kamen wenige Minuten nach mir an. Der Vater war in Eile und verschwand schnell. Der Sohn sprach kein Wort und lief direkt in den dunklen Stilleraum. Nach dem, was du alles erzählt hattest, wollte ich ihn einfach mal bewusst im Auge behalten und mir eine eigene Meinung bilden."
Mir rutscht ein spontanes "Danke!" raus.

"Ich bin hinterher und habe dort als erstes das Licht an und die Rollläden hoch gemacht. Er saß auf den Matratzen und hat mich gradezu verstört angesehen. Erst da wurde mir klar, dass ich seine von dir beschriebene Morgenroutine gestört hatte. Von da an ist er mir zwar gefolgt, aber er wirkte nervös und verspannt. Beim Frühstück vorbereiten war ich dann wohl zu ungeduldig mit ihm. Er hat versucht, die Gemüsesticks auf dem Teller zu sortieren und war offensichtlich sehr unzufrieden mit mir. Den Rest des Morgens ist er nur noch rumgelaufen wie Falschgeld. Ich war total verblüfft, als er dann am Vormittag plötzlich ganz entspannt beim zweiten Frühstück aufgetaucht ist. Was hast du mit ihm gemacht? Oder ... was hast Du anders gemacht?"

Mit wachsendem Erstaunen höre ich meiner Chefin zu. Mein Eindruck gestern war richtig, aber heute Morgen hat sie dann ganz bewusst und ohne Vorurteil selbst hingeschaut. Ich freue mich.
"Ich habe sofort gesehen, dass er ziemlich durch den Wind war. Also habe ich mich mit Abstand zu ihm gesetzt und abgewartet, bis er von alleine kam. Nicht zulabern, nicht anfassen, nicht drängeln - das funktioniert am besten. Das Erstaunliche war dann aber, dass er nach einer Weile nicht nur zu mir kam, nicht nur auf meinen Schoß gekrabbelt ist, sondern sogar dort vor lauter Erschöpfung eingeschlafen ist. Ich war sehr, sehr dankbar, dass Youna dann kam. Wenn im Raum irgendwas passiert wäre, hätte ich aufstehen und ihn dadurch höchst unsanft wecken müssen. Nach seinem Schläfchen war er dann wie ausgewechselt."

"Seltsam. Man sagt doch immer, dass Autisten die Welt um sich drumrum nicht wahrnehmen und nichts fühlen können. Er ist so anders."
"Ich bin bei meiner Recherche erst ganz am Anfang. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist es genau umgekehrt. Ein Autist nimmt tatsächlich ganz viel wahr, sogar viel mehr Details als wir. Er ist sozusagen einer massiven Reizüberflutung ausgesetzt und deshalb permanent überfordert.
Ich stelle mir das so vor, dass sein Tagesanfang ziemlich hektisch ist. Der dunkle Ruheraum morgens ist sozusagen sein 'Kühlpack' für die Hitze des langen Tages. Deshalb immer derselbe Raum, deshalb immer alleine, deshalb immer dasselbe Spielzeug. Gleichzeitig beobachtet er die anderen ununterbrochen. Man sieht es ihm nur nicht so an. Was dabei im Gehirn passiert, habe ich bisher noch nicht kapiert."

"Ich habe euch beide im Laufe des Tages ab und zu beobachtet. Ihr habt gar nicht immer aufeinander gehockt. Aber du warst für ihn sowas wie sein Ruhepol. Er hat bei dir irgendwie Kraft getankt, und dann konnte er wieder alleine weiter machen."
"Ich habe keine Ahnung, warum er mir so wichtig ist. Oder warum ich ihm so wichtig bin. Aber wenn wir früh und nachmittags ganz alleine sind ... Ich weiß intuitiv, was er jetzt braucht, und gebe es ihm. Er hat auch gleich gefragt: 'wo warst du heute Morgen?' Er vertraut mir von sich aus. Ich glaube, Vertrauen kann man nicht machen."
"Aber du hast sein Vertrauen. Pass auf. Du bekommst erstmal mehr Freiraum, um dich auf Min-jun zu konzentrieren. Vor der nächsten Teamsitzung reden wir nochmal. Wenn sich unser Verdacht erhärtet, sollten wir den Vater darauf aufmerksam machen. Es gibt so viele Hilfen für solche Kinder. Ein besseres Verständnis und gute Kommunikation können eine ganze Menge bewegen."

"Wenn so ein Gespräch denn möglich ist. Der Vater ist morgens sehr in Eile und abends grau im Gesicht vor Müdigkeit. Und ich sehe Parallelen zwischen den beiden."
"Wir werden sehen. Schreib viel auf und halte mich auf dem Laufenden."
Sie erhebt sich.
"Dann wünsche ich dir einen schönen Feierabend."
"Mach ich. Tschüß bis morgen."
Sehr erleichtert radele ich nach Hause, denn unter den Voraussetzungen kann ich vielleicht wirklich was für den Jungen bewegen.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top