Freitag, 08.12.23
❆
Da Anna und ich heute ausnahmsweise mal beide einen sehr frühen Termin haben, bringe ich Inhyuk direkt zur Öffnungszeit um 7.00 Uhr zum Kindergarten. Eigentlich ist das Stress für die ganze Familie und aus einem Kommunikationsfehler meinerseits entstanden. Aber deshalb haben wir dann beim Frühstück beschlossen, dass wir morgen ausgiebig über den deutschen Weihnachtsmarkt bummeln wollen. Die Angehörigen der Botschaft organisieren den jedes Jahr an einem Wochenende. Anna lacht dann immer über die Klischees, die da geritten werden. Aber ich spüre doch, dass sie manchmal Heimweh hat und bei diesem kleinen Fest immer ein bisschen Heimat schnuppert und tankt.
Vorteil der frühen Stunde: man findet vor dem Kindergarten immer einen Parkplatz. Gleichzeitig mit uns kommen auch Herr Min mit Min-jun und der Gruppenerzieher Jimin an, den Inhyuk so mag. Gemeinsam gehen wir auf das Gebäude zu. Zwei müde Kinder, zwei Väter unter Zeitdruck und ein freundlicher Erzieher, der sofort sehr geschickt beide Kinder anspricht und einbezieht.
Ich wollte doch ...
Schnell hole ich meine Visitenkarte hervor und halte sie Herrn Min hin, bevor der wieder davonsausen kann.
"Guten Morgen, Herr Min. Wir wollten doch Nummern tauschen. Hier, nehmen Sie meine Karte. So ist es am Einfachsten. Und darüber hinaus wollte ich Sie fragen, ob Sie morgen Nachmittag vielleicht Zeit und Lust haben, uns auf den deutschen Weihnachtsmarkt zu begleiten. Da werden die Jungs sicher viel Spaß miteinander haben. Und wir können uns ein bisschen kennen lernen."
Der Morgen verläuft alles andere als ruhig. Min-jun weigert sich partout, seine Hose anzuziehen, weil sie an den Beinen zu locker sitzt. Eine andere habe ich aber nicht, weil ich gestern nach der Arbeit so kaputt war, dass ich die Wäsche nicht mehr gewaschen habe. Ich sage ihm, dass ihm nichts anderes übrig bleibt, aber Min-jun bleibt stur.
Uns läuft die Zeit davon. Auch wenn es "nur" zehn Minuten sind, kommt mein ganzer morgendlicher Zeitplan dadurch ins Schleudern.
"Wir müssen in 5 Minuten hier raus!", erkläre ich streng und merke, dass schon jetzt meine Nerven blank liegen.
"Nein, nein, nein!", höre ich von meinem Sohn, ehe er bockig ins Zimmer rennt. Im selben Moment reißt mein Geduldsfaden endgültig. Ich folge ihm, reiße die Zimmertür auf.
"Min-jun! Verdammt nochmal! Ich hab keine Zeit für dein scheiß Theater jeden Morgen! In zwei Minuten müssen wir los, sonst komme ich zu spät! Sieh zu, dass du deine scheiß Hose anziehst."
Min-jun erstarrt, sieht mich mit großen Augen an und zeitgleich verschwindet die Wut auf meinen Sohn. Ich sehe, dass er kurz davor ist, loszuweinen. Es bricht mir das Herz, ihn so zu sehen.
Die Wut ist wieder da, viel stärker als vorher. Nur, dass ich diesmal auf mich selbst wütend bin. Was bin ich für ein Vater!? Schreie meinen Sohn an und bringe ihn damit zum Weinen. Ich schäme mich, dass ich mich nicht besser unter Kontrolle habe.
Ich hole zweimal tief Luft, schließe die Augen und versuche irgendwie, wieder in die richtige Spur zu kommen.
"Es tut mir Leid", sage ich zu Min-jun. "Ich wollte dich nicht so anschreien. Aber wir müssen bitte wirklich los jetzt. Wenn ich zu spät komme, kann ich dich nicht pünktlich abholen. Also bitte. Zieh die Hose an und dann komm."
Mein Sohn sieht mich nicht an. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass er sauer auf mich ist, obwohl er alles Recht dazu hätte. Sondern dass er den Fehler bei sich sucht. Es wäre nicht das erste Mal. Entsprechend geduckt schleicht Min-jun zu der ungeliebten Hose, zieht sie an, selbständig gefolgt von Schal, Mütze, Jacke und Stiefeln. Stumm und wie verprügelt läuft er zur Wohnungstür, folgt mir zum Aufzug, krabbelt in seinen Sitz im Auto und tut alles, um unseren Aufbruch zu beschleunigen.
Wenn sowas passiert, gibt er immer sich selbst die Schuld. Ich weiß das. Und trotzdem schaffe ich es nicht, in solchen Situationen angemessen zu reagieren. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Immerhin bin ich sein Vater. Seine einzige Bezugsperson. Gerade ich sollte ihm Verständnis entgegenbringen und ihm das Gefühl geben, dass er gut und richtig ist.
Als wir um 5 Minuten nach 7 Uhr am Kindergarten ankommen, ist mir auch zum Heulen zumute. Das schlechte Gewissen ist zu monströsen Vorwürfen und Selbsthass herangewachsen. Ich kann mich gar nicht richtig auf meine Umgebung konzentrieren und erschrecke, als der Erzieher plötzlich wie aus dem Nichts vor mir steht. Und nicht nur er. Auch der Vater vom Spielplatz ist da. Sie sehen mich an.
Min-jun geht sofort zu Jimin. Was ich ihm nicht verübeln kann. Der junge Mann strahlt ungeheuer viel Ruhe aus. Wäre Jimin Min-juns Vater, würde es ihm mit Sicherheit viel besser gehen. Was hat der arme Junge nur getan, dass er gerade so jemanden wie mich als Vater abkriegen muss?
Ich muss mir die Tränen verkneifen, als ich sehe, wie Min-jun mit dem Erzieher weg geht. Ich bin so darauf konzentriert, dass ich dadurch gar nicht richtig mitbekomme, wie der Vater mich anspricht. Er hält mir eine Visitenkarte hin, und ich frage mich, was ich damit soll.
Weil ich nicht unhöflich wirken will, bedanke ich mich, als ich das Kärtchen annehme und in meiner Jackentasche verstaue. Daraufhin fragt er, ob ich Lust hätte, mit auf den Weihnachtsmarkt zu gehen.
Soll ich lachen oder weinen?
Ich habe gar keine Zeit, um auf einen Weihnachtsmarkt zu gehen. Und selbst wenn, fehlt mir das nötige Kleingeld. Die Handschuhe waren schon außer der Reihe und noch mehr Extraausgaben sind einfach nicht drin. Ich würde es nicht verkraften, ihm zu sagen, dass er sich nicht mal was zu essen holen kann. Außerdem bin ich den ganzen Tag von Menschen und Lärm umgeben. Wenn ich eins nach Feierabend nicht brauche, dann noch mehr Menschen auf engstem Raum.
"Ich... weiß noch nicht", rede ich mich wenig elegant heraus. "Ich schätze, dass wir das zeitlich gar nicht schaffen."
Hoffentlich belässt er es dabei.
Wenn ich den Anblick von Herrn Min auf meine Frage in ein Bild fassen sollte, würde ich sagen: er wirkt wie ein Browser Update. Da sieht man einen Balken mit einer Prozentzahl, die nicht mehr ansteigt, weil das Programm abgestürzt ist.
Ich hätte Freude an diesem Kontakt, aber seine permanente Überforderung tut vom Zusehen weh. Soll ichs lassen? Dränge ich mich zu sehr auf?
Oh, eine Antwort. Und immer noch oder schon wieder Überforderung.
"Das ist schade. Aber Freizeit soll Spaß machen - und nicht Stress. Es wird sich sicherlich mal eine Gelegenheit für eine gemeinsame Aktivität ergeben. Dann wünsche ich Ihnen ein schönes, stressfreies Wochenende. Ich muss los. Bis zum nächsten Mal, Herr Min."
"Nächstes Mal vielleicht", stimme ich ihm zu und sehe ebenfalls zu, dass ich endlich loskomme.
Richtig auf den Verkehr konzentrieren kann ich mich aber nicht. Logisch. Ich mache mir die ganze Zeit Vorwürfe und Gedanken um Min-jun. Ich bin total durch den Wind, baue zwei Mal fast einen Unfall und komme völlig am Ende meiner Kraft auf der Arbeit an.
Gestern Abend habe ich mich so sehr festgelesen, dass ich heute mal richtig in die Pedalen treten muss, um einigermaßen pünktlich am Kindergarten zu sein. Das klappt grade so - Inhyuk und Min-jun treffen mit ihren Vätern gleichzeitig mit mir ein. Ich schließe uns die Tür auf und entledige mich meiner Winterklamotten, während die beiden Väter ihre Kinder ebenfalls aus diversen dicken Schichten schälen. Ich spreche beide Familien an.
"Guten Morgen, Herr Kim, Herr Min. Na, ihr beiden Racker? In welchem Zimmer wollt ihr heute starten?"
Während Inhyuk mit einem fröhlichen "Hallo, Jimin!" an mir vorbei zum Bauzimmer flitzt, erhebt sich Min-jun steif wie eine Aufziehpuppe von der Bank und kommt geduckt auf mich zu. Ich sehe ihm an, dass er den Tränen nahe ist. Seine einzige Regung dabei ist ein nervöses Zuppeln an seinen Hosenbeinen. Der Kleine bleibt vor mir stehen, sieht mich nicht an.
Irgendwas ist da seltsam. Ich blicke den Vater an. Das hilft mir allerdings nicht weiter. Ich spüre eine Spannung in der Luft, aber seinem Gesicht ist nichts anzusehen.
Ist das jetzt bewusstes Pokerface? Oder intuitiver Selbstschutz? Oder ... keine Ahnung was? Da muss ich wohl auf meinen Bauch hören, denn sehen kann ich nichts.
Ich gehe in die Knie, um mit dem Kind auf Augenhöhe zu sein.
"Möchtest du für eine Weile in den Stilleraum wie immer, oder magst du heute mal mit mir kommen?"
Keine Antwort. Stattdessen schüttelt er den Kopf und folgt an mir vorbei dem Älteren ins Bauzimmer. Bei mir schrillen endgültig alle Alarmglocken.
Aber was ist jetzt das Sinnvollste? Was braucht er in diesem Moment, wenn nicht die Dunkelheit und Ruhe wie sonst immer?
Mir bleibt erstmal nichts anderes übrig, als den beiden Jungs zu folgen. Inhyuk hat nur das Licht angemacht und lässt grade mit lautem Zischen eine Klorollenrakete zum "Mond" an der Zimmerdecke starten. Min-jun stellt den letzten Stuhl runter und marschiert dann zum Rollladenzug.
Ich spreche ihn an.
"Lass uns das zusammen machen. Wir sind doch ein gutes Team."
Min-jun lässt den Gurt los, schüttelt den Kopf und blickt zu Boden. Sein Leid ist schwer auszuhalten, aber ich habe ja gelernt: nicht anfassen. Also warte ich erstmal ab.
Auf einmal kommt er auf mich zu gerannt und wirft sich schluchzend in meine Arme. Ich fange ihn auf und halte ihn ganz fest. Ich stehe auf, laufe umher und summe leise sein Lieblingslied. Ich muss es ziemlich oft summen, bis der verzweifelte Junge sich beruhigen kann.
"Ach, Min-jun. Was ist denn bloß passiert, dass du sooo traurig bist?"
Zwischen den Schniefern und Hicksern kann ich seine Antwort kaum verstehen.
"Ich bin böse."
Mir stockt der Atem.
Was für ein furchtbares Selbstbild!
"Oh nein, das bist du ganz bestimmt nicht. Ihr habt euch vielleicht gestritten, du und der Papa. Aber deshalb bist du ganz bestimmt kein schlechter Mensch."
"Aber ich bin schuld."
"Woran sollst du schuld sein?"
"Dass ... dass ... Ich sollte die Hose anziehen. Aber ich wollte nicht. Die ist zu schlabberig und fühlt sich falsch an. Da ist Papa ganz böse auf mich geworden. Und ich war bockig. Und deshalb war alles durcheinander. Und wir sind zu spät losgefahren. Und jetzt kommt Papa zu spät zur Arbeit. Und dann zu spät zum Abholen. Und dann musst du warten. Und ich bin schuld."
Wie ein Sturzbach sprudelt das ganze Unglück aus ihm heraus, gemischt mit heißen Tränen und tiefer Verzweiflung. Ich möchte am liebsten mitweinen.
"Ach, Min-jun. Nein, du bist nicht schuld. Ganz, ganz bestimmt nicht. Ich war heute Morgen genauso zu spät wie ihr, ihr konntet also vorher gar nicht reinkommen. Jetzt drücken wir deinem Papa feste die Daumen, das er heile und pünktlich bei der Arbeit ankommt. Wir suchen dir eine andere, passendere Hose raus, damit du dich wohlfühlst. Und dann machen wir zusammen alles ganz genau so wie jeden Morgen. Was hältst du davon?"
Als ich den Laden betrete, versuche ich alle Gedanken, die nichts mit der Arbeit zu tun haben, zu verdrängen. Es gelingt mir, glaube ich, ganz gut, zumindest bekomme ich keine außergewöhnliche Reaktion von meinen Kollegen.
Ich begebe mich zuerst in den Aufenthaltsraum, bringe meine Sachen weg und schaue auf den Dienstplan. Bis jetzt keine Änderungen. Miryo wird heute Mittag also zur Schicht kommen. Ich bereite mich den ganzen Dienst mental darauf vor, mit ihr zu sprechen. Kurzzeitig überlege ich sogar, ob ich das Gespräch nicht besser verschiebe. Dann fällt mir aber wieder ein, was heute morgen passiert ist und dass es die nächsten Tage nicht besser werden wird.
Es ist schon fast 14 Uhr, als Miryo zu ihrer Spätschicht kommt. Sie ist die einzige Kollegin, die mich begrüßt, als wäre ich ein guter Freund und bei der ich keine Probleme damit habe, wenn sie mich zur Begrüßung umarmt. Sie ist herzlich, pfiffig und ein reines Energiebündel. Obwohl sie mit ihrem Wirtschaftsstudium alle Hände voll zu tun hat, habe ich sie noch nicht einmal jammern hören. Deswegen wundert es mich auch nicht, dass sie sich sofort bereit erklärt, morgen auf Min-jun aufzupassen. Sie scheint sich sogar darauf zu freuen.
Während wir ins Lager gehen, um dort Ware auszupacken, die heute noch verräumt werden muss, spricht sie mich in einem ungewöhnlich ernsten Tonfall an.
"Sag schon. Irgendwas beschäftigt dich doch. Die anderen sehen es vielleicht nicht, aber ich schon. Was ist los?"
Ich erstarre. Es stimmt, was sie sagt. Weder meine Kollegen, noch sonst jemand, den ich kenne, verfügt über ein so gutes Gespür wie sie. Über die Jahre habe ich gelernt, meine wahren Gefühle hinter einer dicken Maske zu verbergen. Miryo ist die einzige, bei der das nicht funktioniert. Daher hat es auch keinen Sinn, es vor ihr verheimlichen zu wollen.
"Min-jun", sage ich leise, während ich weiter Ware auspacke. Ich sehe sie nicht an, versuche möglichst neutral zu klingen und nach Worten zu suchen, die meine Probleme und Sorgen am besten beschreiben.
"Ich habe ihn heute morgen angeschrien. Grundlos."
"Also, weißt du. Ich kenne dich jetzt lang genug, um zu wissen, dass du Minnie niemals grundlos anschreien würdest. Was ist passiert?"
"Nichts!", antworte ich harsch. "Nichts, was ein solches Verhalten rechtfertigen würde. Er wollte nur seine Hose nicht anziehen, mehr nicht. Aber anstatt vernünftig mit ihm zu reden, habe ich ihn angebrüllt. Du kennst ihn. Er hat nichts mehr gesagt und wir beide wissen, dass er den Fehler jetzt bei sich sucht."
Miryo stellt den Karton auf den Boden, dreht sich zu mir und verschränkt die Arme vor der Brust. Sie sieht mich an, aber ich weiß nicht, wie ich reagieren soll und packe deswegen weiter. Erst, als sie mir den Karton aus der Hand nimmt und mich auffordert, sie anzusehen, stoppe ich.
"Das ist nicht okay", sagt sie mir ins Gesicht. Noch etwas, das ich an Miryo bewundere. Sie sagt immer, was sie denkt, auch wenn sie damit oft irgendwo aneckt. Bei ihr muss man nicht lange überlegen, ob sie es auch so meint oder ob sie einen gerade nur anschwindelt.
"Aber das weißt du selber. Deswegen sage ich dazu jetzt nichts mehr. Dafür erwarte ich aber, dass du mir erzählst, was dich so quält."
Ich zögere "Was... meinst du?"
Miryo verdreht die Augen. "Hast du mal in den Spiegel geguckt? Du siehst scheiße aus, noch müder als sonst schon. Du schläfst nicht richtig, hab ich Recht? Und ich will wissen, warum."
Es liegt vielleicht an der Art, wie sie es sagt, oder daran, dass ich in dem kurzen Blickkontakt ihre Entschlossenheit erkenne, dass ich endlich rede. Ich erzähle ihr nicht nur von meiner Sorge, für Min-jun kein vernünftiges Geschenk zu bekommen, sondern auch von meiner Überforderung als Vater. Von dem Stress, zwischen Kind und Job zu wechseln. Davon, dass ich kurz davor bin, einfach zusammenzubrechen.
"Wir müssen was tun", ist das einzige, was sie zuerst dazu sagt. Was ungewöhnlich ist. Normalerweise würde sie mir jetzt tausend verschiedene Möglichkeiten aufzählen, wie ich eine Besserung meiner Situation herbeiführen könnte. Stattdessen wird sie still. Arbeitet stumm vor sich hin und redet kein Wort mehr mit mir.
Bis zum Feierabend reden wir kaum noch miteinander. Nur wegen des Kindersittings morgen sprechen wir uns noch ab. Dann habe ich auch schon Feierabend und zerbreche mir den Kopf darüber, ob sie nun endgültig die Nase voll hat von mir. Ich habe mich nicht getraut, sie darauf anzusprechen aus Angst, dass mir die Antwort nicht schmecken würde.
Am Kindergarten angekommen, bin ich immer noch total in Gedanken versunken.
Oh Mann. Ich fühle mich beschissen hilflos. Min-jun ist zwar irgendwie durch den Tag gekommen, nachdem ich ihm eine bequeme Hose gegeben und mit ihm unser Morgenritual durchgezogen habe. Aber er hat mich heute viel mehr gebraucht als sonst. Und er hat zweimal geweint, weil er eine laute und hektische Situation nicht aushalten konnte.
Je mehr ich über diese Autismus-Störung weiß, je mehr Erfahrungsberichte von Betroffenen ich lese, desto deutlicher wird mir klar, dass unsere Gesellschaft für solche Menschen null Toleranz aufbringt. Autisten fallen fast immer und überall durchs Raster, weil niemand die Geduld und die Kreativität aufbringt, für sie den Alltag, Arbeitsabläufe oder Kommunikationsstrukturen anzupassen. Es gibt keinen Schutzraum, keine Schonfrist mitten in der niemals endenden Überforderung. Was erwartet wird, ist Funktionieren mit einem Lächeln, zuverlässig und in jeder Situation.
Aber Menschen funktionieren nun mal nicht - sie sind. Auch psychisch stabile Menschen funktionieren nicht immer. Der permanente Zeitdruck von Herrn Min ist heute Morgen kollidiert mit Min-juns Bedürfnis nach dem richtigen Körpergefühl. Wenn ich recht habe und tatsächlich beide Betroffene sind, dann ist auch für beide die Kommunikation eine Hürde.
Und wahrscheinlich fühlt sich nicht nur der Sohn furchtbar elend und schuldig, sondern der Vater genau so. Wer schreit schon freiwillig wegen so einer Lappalie sein Kind an. Nur jemand, der am Ende seiner Kraft und Möglichkeiten ist. Und da beißt sich die Katze in den Schwanz: wenn Herr Min hier nur im Überschalljettempo durchrauscht, dann kann ich ihm nicht mal sagen, dass ich ihn verstehe und ihm helfen will. Wenn er nicht bald Hilfe und Verständnis bekommt, klappt er einfach zusammen. Und damit ist dann niemandem geholfen.
Ich bin heilfroh, dass der lange Tag vorüber ist, fast alle Kinder und Kolleginnen weg sind, alles aufgeräumt ist und ich mit Min-jun einfach auf dem Bauteppich hocken und den Tag reflektieren kann. Mein Kopf kreiselt, der Junge sortiert Autos. Vorher hat er allerdings darauf bestanden, dass er wieder seine eigene, unbequeme Hose anzieht, "damit der Papa nichts merkt". Ich hätte schreien können vor lauter Frust und Mitleid.
Es ist schon fast 16.30 Uhr, als ich erst ein Geräusch auf dem Flur höre und dann Herrn Min zur Tür reinkommen sehe. Ich kann seinen Gesichtsausdruck mal wieder nicht deuten, als hätte er eine Maske auf. Kraftlos setzt er sich neben seinen Sohn und scheint gar nicht hier zu sein. Ganz weit weg. Min-jun ist bei seinem Erscheinen zusammengezuckt.
Mehrere Minuten lang sitzen wir so nebeneinander, rühren uns nicht, sagen kein Wort. Dabei hätte ich so viel zu sagen! Schließlich hält Min-jun die Spannung nicht mehr aus. Kleine Tränchen kullern über seine Wangen.
"Papa?"
Vorsichtig, wie um ihn nicht zu wecken, klettert er auf den Schoß seines Vaters, schlingt seine kleinen Ärmchen um dessen Hals und flüstert: "Bitte nicht mehr wütend sein. Es tut mir leid, dass ich heute Morgen so bockig war."
Jimin sitzt wie immer bei meinem Sohn. Ein Anblick, an den ich mich mittlerweile eigentlich gewöhnt haben sollte. Aber die Wahrheit ist, dass es mir weh tut, die beiden so zu sehen. Ich bin als Vater unfähig. Selbst dieser Erzieher ist viel näher an meinem Sohn dran als ich.
Ich setze mich zu den beiden, will mich bei Jimin entschuldigen, dass ich schon wieder zu spät bin. Aber es geht nicht. Ich kriege keinen Ton heraus. Als hätte mir jemand die Fähigkeit zu Sprechen genommen.
Schließlich klettert Min-jun auf meinen Schoß. Sofort erwidere ich die Umarmung und ich atme erleichtert aus. Doch dann sagt er etwas, das mir schon wieder das Herz bricht.
Als könnte ich wütend auf ihn sein...
"Min-jun... Minnie... ich bin doch gar nicht wütend auf dich. Du hast absolut nichts falsch gemacht, sondern ich. Ich hätte nicht so doll mit dir schimpfen dürfen. Es tut mir so Leid."
Ich spüre, wie sich mein Hals zuschnürt.
Und jetzt? Eigentlich hat der Vater grade einen offenen Moment. Aber uneigentlich ... Wie viel muss ich gelesen haben, wie sicher muss ich mir sein, dass ich mit dem Vater reden kann? Und wer weiß, wie er auf meinen Verdacht reagiert? In meinen Augen könnte diese Diagnose ein Befreiungsschlag für beide sein. Aber wenn er sich von dem Verdacht beleidigt fühlt, geht der Schuss nach hinten los. Es ist zum Mäusemelken!
So sehr der Mann normalerweise sein Gesicht unter Kontrolle hat - jetzt sehe ich deutlich seinen Schmerz. Und da weiß ich, was ich sagen will.
"Herr Min? Ich hoffe, ich darf das sagen. Ich will Ihnen nicht zu nahe treten. Ich ... ich beschäftige mich viel mit Ihrem Sohn. Ein Privileg, das Ihnen leider nicht in dem Umfang vergönnt ist. Aber bitte glauben Sie mir. Ihr Sohn liebt Sie. Sehr. Kinder verzeihen Fehler, weil sie noch nicht verlernt haben, die Liebe über alles andere zu stellen.
Ich bin hier im Kindergarten für Min-jun eine Art Ruhepol. Er schenkt mir sein Vertrauen, deshalb kann ich meiner Aufgabe gerecht werden und ihn fördern. Aber Sie liebt er. Sie sind der wichtigste Mensch in seinem Leben. Bitte quälen Sie sich nicht so sehr. Sie sind nicht einfach der Vater. Sie sind der beste Vater, den Min-jun haben kann."
Irgendwie wirkt es, als ob der Mann ein wenig ruhiger wird. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein.
"Ich möchte mich anbieten für Gespräche, Fragen, Unsicherheiten. Ich betreue hier nicht einfach ein Kind. Wenn Sie das annehmen können, dann möchte ich für Sie beide da sein dürfen.
Ich glaube, Sie sollten jetzt nach Hause gehen und sich zusammen mit Ihrem Sohn mit etwas Ruhigem beschäftigen. Es würde Ihnen beiden gut tun. Erlauben Sie sich zu spielen."
Bevor Min-jun antworten kann, richtet der Erzieher sein Wort an mich. Ich kann kaum glauben, mit welcher Vorsicht und Geduld er zu mir spricht. Es irritiert mich, denn das ist nicht das, was ich gewohnt bin zu hören.
Ich traue mich sogar, ihm einen Moment direkt in die Augen zu sehen. Angenehm ist es nicht, weil ich das Gefühl habe, dass er dadurch alles sehen kann, was in meinem tiefsten Inneren vorgeht. Aber ich ertrage es zumindest. Dass er für Min-jun eine Art Ruhepol ist, kann ich gut nachvollziehen. Selbst ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr ganz so stark durch den Wind bin, obwohl es in meinem Kopf rattert.
"Danke", sage ich zunächst, mache eine kurze Pause, in der Min-jun und ich uns hinstellen und versuche dann, die richtigen Worte auf sein Angebot zu finden.
"Es... ich finde es wirklich erstaunlich, wieviel Mühe Sie sich geben. Und ehrlich gesagt, habe ich das gar nicht erwartet. Ich rechne es Ihnen wirklich hoch an, dass Sie mir das anbieten."
Erleichterung macht sich in mir breit. Ich weiß ja, dass es schwer für ihn ist, so ein Angebot anzunehmen. Aber ich scheine die richtigen Worte getroffen zu haben.
"Gerne, Herr Min. Ich bin für alle Kinder hier zuständig und gebe für alle mein Bestes. Aber nichts in der Welt kann verhindern, dass mein Herz für das eine Kind mehr und für ein anderes eben weniger schlägt.
Ich möchte, dass es Min-jun und Ihnen gut geht. Ich möchte helfen, dass Sie trotz Ihrer beruflichen Belastung einen guten Kontakt zu Ihrem Sohn haben können, weil das Ihnen beiden Kraft für Ihren Alltag geben wird.
Kommen Sie gut nach Hause."
Ich beuge mich noch zu Min-jun runter.
"Dir wünsche ich auch ein schönes Wochenende. Ohne doofe Hosen und Streit, und dafür mit ganz viel Lachen. Bis Montag!"
Ich begleite Vater und Sohn zur Tür und sehe ihnen nach. Jetzt habe ich doch ein etwas besseres Gefühl.
Und den Rest der Anspannung wird gleich das Training erledigen.
❆
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top