Freitag, 01.12.23



"Pfützen."
Pitsch.
"Pfützen."
Pitsch.
"Tralalala. Pfützen."

An meiner linken Hand hopst mein fünfjähriger Sohn Inhyuk fröhlich auf und ab und versucht, jede kleine Pfütze zu erwischen. Immer wieder macht es neben mir leise Pitsch! Meine Hosenbeine werden immer nasser, denn im Gegensatz zu ihm habe ich keine Matschhose und Gummistiefel an.
"Hyuk, bitte. Auf dem Spielplatz darfst du in jeden noch so großen See hopsen. Aber ich habe nachher noch einen Kundentermin. Wenn du so weiter machst, müssen wir früher zurück nach Hause, weil ich mich nochmal umziehen muss. Willst du das?"
Vergeblich versuche ich, ihn von den Regenansammlungen wegzulotsen, denn insgesamt sind wir dazu leider zu träge.

An meiner anderen Hand hängt nämlich meine neunjährige Tochter Neri und mault.
"Ich mag nicht auf den patschenassen Spielplatz gehen. Da sind nur Matschlöcher und Babys. Ich will nach Hause!"
Angestrengt versucht mein naseweißes Töchterchen, über die kleinsten Wasserlachen auf dem Pflaster drüber zu steigen, damit ihre kostbare Schuluniform nur ja keinen einzigen Spritzer abbekommt. Normalerweise zieht sie die sofort aus, wenn sie nach Hause kommt. Aber leider ist heute meine einzige freie Zeitschiene direkt nach dem Abholen von Schule und Kindergarten, weshalb sie da jetzt durch muss.
"Grade deshalb wirst du jetzt mitkommen und dort die Regenhose drüberziehen, damit wir einen Wettlauf machen können. Nach so viel Stubenhockertagen braucht ihr beide dringend Bewegung."

Womit habe ich eigentlich dieses Etepetetegirly verdient? Von mir hat sie das nicht. Dagegen bin ICH ja gelassen!

Kaum ist der Spielplatz in Sicht, rast meine kleine Kanonenkugel los und stürzt sich mit Jubel in den triefnassen Sandkasten. Neri seufzt erleichtert auf und zerrt mich um die kleinsten Andeutungen von Flüssigkeiten auf dem Boden drumrum.
Wie können zwei Kinder von den selben Eltern nur SO unterschiedlich sein?
Wir lassen uns Zeit. Zu mehr, als frische Luft zu atmen, bekomme ich Neri sowieso nicht. Also laufen wir gemächlich an der Straße entlang, sie erzählt von der Pause heute und von der Klassenarbeit, die sie morgen schreibt.
Ab und zu fährt ein Auto an uns vorbei, aber netterweise wechseln alle Fahrer frühzeitig auf die linke Spur, denn die rechte steht wegen eines verstopften Gullis schon seit zwei Tagen völlig unter Wasser.

Fast alle. Kurz, bevor auch wir den Spielplatz erreicht haben, brettert ein durchgeknallter Hektiker direkt neben uns vorbei, kommt mit seinem alten Auto beinahe ins Schleudern und rast davon.

Schönen Dank auch! Der ist echt lebensmüde.
Netter kleiner 'Neben'effekt ist, dass Neri und ich von Kopf bis Fuß klatschnass werden. Neri heult, ich fange sofort an den Beinen an zu frieren, und mein Sohn wird gleich das Gebrüll seines Lebens anstimmen, weil wir jetzt tatsächlich schnell nach Hause ins Trockene müssen.

Ist das Leben schön!


Es ist eine Katastrophe!

Mal wieder...

Mittlerweile habe ich das Gefühl, dass ich von einer Katastrophe in die nächste laufe. Mir bleibt dazwischen keine Zeit, um auch nur einmal Luft zu holen. Dafür immer mehr neue Hindernisse und Herausforderungen, denen ich nicht gewachsen bin, und an so Tagen wie heute will ich einfach das Handtuch werfen.

Aber selbst dafür habe ich keine Zeit, denn wenn ich pünktlich um 16:45 Uhr beim Zahnarzt sein will, muss ich mich jetzt echt sputen. Es hätte alles funktioniert, wenn der Chef mich nicht aufgehalten hätte, weil er unbedingt heute mit mir über meine mangelnde Zuverlässigkeit sprechen wollte. Wenn der wüsste, wie sehr ich mich jeden Tag verbiegen muss, um alles unter einen Hut zu kriegen.

Aber das interessiert ihn ja nicht. Es interessiert ihn nicht, dass ich alleinerziehender Vater bin und alles allein stemmen muss. Oder dass ich jetzt zusehen kann, wie ich mich auf teilweise schon überfluteten Fahrbahnen durch den Feierabendverkehr kämpfen darf, um Min-jun vom Kindergarten abzuholen.

Ich will gar nicht wissen, welches Bild die Erzieher mittlerweile von mir haben. Sie sprechen es zwar nie aus, aber ich merke auch so, dass sie mir einen Vorwurf machen. Das sie glauben, ich würde meinen Sohn nicht genug lieben und ihn immer hintenan stellen. Mit einigen km/h zu viel, komme ich endlich am Parkplatz des Kindergartens an, springe aus dem Auto und lege anschließend einen Sprint in die Einrichtung hin.

Lange suchen muss ich nicht, denn Min-jun ist wie immer in seiner Gruppe und spielt mit den Autos. Jimin, der Erzieher, sitzt bei ihm. Es sind die letzten beiden, die noch hier sind.
"Entschuldigen Sie. Ich wurde aufgehalten", erkläre ich, während ich mich neben meinen Sohn hocke und die Kiste aus dem Schrank hole, in die die Autos gehören. Da mein Sohn immer, wenn ich ihn abhole, mit den Autos spielt, weiß ich mittlerweile auch, wo diese hingehören.

Die ersten Autos landen umgehend in der Kiste, Min-jun ist davon jedoch gar nicht begeistert und fängt an, mir die Autos wieder aus der Hand zu reißen.
"Wir haben jetzt keine Zeit für dein Theater! Wir müssen los und außerdem kannst du morgen wieder mit deinen Autos spielen!"
Ich hasse es, so streng zu sein, aber ich bin langsam echt am Ende mit meinem Latein.
Gerade, als ich weitere Autos in die Kiste schmeiße und meinem Sohn sagen will, dass er endlich mit diesem Geschrei aufhören soll, schaltet sich der Erzieher ein.



"Immer der selbe. Nie ist Herr Min pünktlich. Aber ich muss JETZT los zum Friseur. Jimin, könntest du ..."
Ich lächele gequält, denn ausnahmsweise habe ich heute auch mal was vor. Also - was anderes, als auf Herrn Min zu warten, den abgehetzten Mann anzulächeln, ihm vom Tag seines Sohnes zu berichten, während er den Kleinen hastig in Schuhe und Jacke steckt, die beiden zur Tür zu bringen und anschließend in Mantel und Stiefeln zehn Minuten hinter der Tür zu warten, damit der Ärmste nicht das Gefühl bekommt, dass ich nur wegen ihm so lange da war. Ich weiß nicht viel von seiner Lebenssituation, aber dass da einiges schiefläuft, ist eindeutig. Der Junge spiegelt das jeden Tag.
"Klar. Geh schon. Du weißt, dass mir das nichts ausmacht. Schönen Feierabend!"
"Du hast was gut bei mir!"
Schwups ist meine Kollegin zur Tür raus.

Ich gehe zurück in den Gruppenraum, hocke mich neben Min-jun und versuche zum hundertsten Mal vergeblich zu verstehen, nach was für absurden Kriterien er die Spielzeugautos in immer exakt der selben Reihenfolge an der Kante des Bauteppichs entlang aufreiht. Immer in Richtung Tür, immer kerzengrade, immer mit genau dem gleichen Abstand. Aber dann sortiert er sie um. Und um. Und um. Genau vier verschiedene Varianten gibt es für die Aufstellung - auch die natürlich in immer der selben Reihenfolge. Und er scheint nie zufrieden zu sein. Fast automatisch summe ich dabei das Lieblingslied von Min-jun, das mit den Zahlen. Seine Bewegungen werden ruhiger.

Er ist grade bei der dritten Ordnung angekommen, als sein Vater zur Tür reingesprintet kommt und atemlos eine Entschuldigung murmelt. Ihm steht ins Gesicht geschrieben, wie peinlich ihm das ist. Er vergisst, seinen Sohn zu begrüßen. Oder weiß, dass der ihn während des Sortiervorgangs sowieso nicht wahrnimmt. So ganz hab ich das noch nicht rausgefunden.
Aber ich merke sehr deutlich, dass der Junge sich sofort verspannt, als sein Vater sich mit der Schublade für die Autos neben ihn hockt. Wenn ich dem Mann in die Augen schaue, sehe ich eine schmerzhafte Liebe zu seinem verschlossenen Sohn. Wenn er zu sprechen beginnt, höre ich nur noch Überforderung und Verzweiflung. Aber so gerne ich das tue - Menschen in die Augen zu sehen - bei Herrn Min - und bei seinem Sohn - gelingt mir das nur, wenn er selbst abgelenkt ist und zu etwas anderem hinschaut.

Es kommt wie an jedem Tag, an dem Herr Min so abgehetzt ist. Weil Min-jun nicht auf ihn reagiert, greift er selbst nach den Autos und wirft sie ungeordnet in die Schublade. Min-jun fängt an zu schreien, als bekäme er physische Schläge. Der Vater wird ungeduldig und energisch. Der Junge schreit noch lauter und versucht, seine Ordnung, seine kleine, heile Welt zu retten, indem er sich an die Autos klammert. Ich greife ein.

Ich summe wieder das Zahlenlied, nehme behutsam Min-juns Gesicht zwischen meine Hände, drehe es zu mir und fange seine Aufmerksamkeit ein. Seine Augen füllen sich mit Tränen, seine Hände greifen hilflos ins Leere, weil sie noch nicht 'fertig' sind mit ihrem Tun. Er krabbelt auf meinen Schoß und drückt sich fest an mich. Das macht er nur bei mir, und es bedeutet immer das selbe: da geht grade was kaputt, aber das halte ich nicht aus, also halte mich bitte ganz fest, damit ich nicht auch kaputt gehe. Ich habe keine Ahnung, wodurch mir das klar geworden ist, aber es hilft. Immer.

Während der Vater die Autos einsammelt und die Schublade wegbringt, stehe ich mit dem verwirrten Jungen im Arm auf und gehe schon raus zur Garderobe, damit nichts mehr Herrn Min aufhält. Ich würde jetzt so gerne mit ihm in Ruhe reden - über seinen Sohn, über die Situation, über ihn selbst. Zwischen den beiden herrscht eine ungeklärte Spannung, die ich manchmal beim Zusehen kaum aushalte. Aber jetzt wäre das zwecklos, er hätte weder die Zeit noch die Nerven dazu. Ich lasse ihn machen, damit sich für beide die Situation schnell auflöst.



Ich bin gleichermaßen dankbar wie gekränkt, als ich sehe und höre, wie der Erzieher Min-jun gehändelt kriegt. Was mich aber am meisten wundert ist die Tatsache, dass Min-jun sich von Jimin in den Arm nehmen lässt. Mein Sohn ist sonst nicht so für Körperkontakt, ein Verhalten, das er wahrscheinlich von mir geerbt hat. Ich bin zutiefst beeindruckt und gleichzeitig schürt es in mir meinen Selbsthass noch mehr.

Ich wollte niemals Vater werden und auch, wenn ich Min-jun über alles in der Welt liebe, glaube ich immer mehr, dass es ihm mit einem anderen Vater viel besser ginge.

Mit Bauchschmerzen folge ich den beiden zur Garderobe und versuche dabei, die selbstzerstörerischen Gedanken beiseite zu schieben. Denn selbst dafür kann ich mir gerade nicht die Zeit nehmen. Mein Sohn sitzt beleidigt auf der Bank, während ich ihn in seine Schuhe und Jacke stecke. Kurz darauf schnappe mir seinen Rucksack und drehe mich nochmal zu Jimin um.

"Ähm. Danke", sage ich, obwohl ich noch so viel mehr sagen sollte. Mein Kopf ist wie blockiert und schafft es nicht, einen weiteren Satz zu formulieren. Deswegen drehe ich mich auch wieder von dem Erzieher weg und greife nach der Hand meines Sohnes. Min-jun steht auf, befreit sich aus meinem Griff und weicht mir aus.

Wir eilen aus dem Kindergarten und ich versuche mich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren. Wir haben mittlerweile 16:30 Uhr und bis zum Zahnarzt brauchen wir mindestens noch 10 Minuten, wenn der Vekehr mitspielt.
Mit anderen Worten: wir kommen zu hundert Prozent zu spät.
Schnell hole ich mein Handy hervor und wähle die Nummer des Zahnarztes.

Während ich Min-jun in seinen Sitz setze und anschnalle, erkläre ich der Dame am Empfang, dass wir uns um ein paar Minuten verspäten werden. Sie reagiert mit einer Moralpredigt und weist darauf hin, dass es so nicht mehr weitergehen kann. Als wüsste ich das nicht selbst.

Mir ist klar, dass mein Leben und mein Alltag auf verdammt wackeligen Pfeilern gebaut sind und die kleinste Erschütterung alles zum Einstürzen bringt. Aber niemand will mir verraten, was ich tun soll, damit es besser wird.

Während ich der Dame versichere, dass wir uns beeilen werden, setze ich mich ins Auto, starte den Motor und beginne umgehend, aus der Parklücke zu rollen. Nach einer gefühlten Ewigkeit legt die Frau auf und ich sehe zu, dass wir uns auf den Weg machen können.



Mit einem schlechten Gefühl im Bauch blicke ich der kleinen Familie Min nach, bis sie vom Gelände geeilt sind. Dann schnappe ich mir meinen Mantel und meine Sporttasche, schließe die Vordertür ab und radele zur Bushaltestelle. Wir haben heute vor dem regulären Jugendtraining noch eine Besprechung, und ich hasse es genau so wie Herr Min, zu spät zu kommen. Aber im Verein wird das nicht so streng gesehen. Und der Junge geht eben vor.

Gedankenverloren sitze ich im Bus und starre durchs Fenster ins nichts. Eigentlich sind sich Vater und Sohn in vielen Punkten ähnlich - das Verschlossene, die mangelnden Kommunikationsfähigkeiten, sie sind so leicht aus der Bahn zu werfen. Das sind die Momente, in denen ich mich über die Lücken in meiner Ausbildung ärgere. Wir haben nur gelernt, wie die frühkindliche Entwicklung normalerweise abläuft. Nicht, welche Umwege die kindliche Entwicklung gehen kann, welche Abweichungen oder gar Störungsbilder es gibt. Und an wen man sich damit wenden kann. Meine Kolleginnen winken immer ab, wenn ich danach frage. Aber Min-juns Verhalten ist so ... so ... ritualisiert. Das KANN doch nicht normal sein. Er wirkt immer wie Vollgas mit angezogener Handbremse. Wenn ich mehr wüsste über das Kind, könnte ich wahrscheinlich sogar dem Vater gleich mit helfen.



Als wir um halb 6 Uhr wieder auf dem Nachhauseweg machen, bin ich am Ende meiner Kraft. Min-jun hasst es, beim Zahnarzt zu sein. Viele Kinder haben damit ein Problem, aber soweit ich weiß, ist es bei den anderen vor allem aus Angst, dass der Zahnarzt bohren könnte. Bei Min-jun ist es anders. Sobald wir die Räumlichkeiten betreten, dreht er fast durch. Ich habe so oft versucht, ihn zu beruhigen und die Angst zu nehmen. Bei einem der letzten Besuche hat er mir dann mitgeteilt, dass er keine Angst hat. Es sei der Geruch, den er nicht ertragen könne, und leider ist das etwas, wo ich machtlos bin.

Womit ich wieder bei meinem Hauptproblem bin. Alle Ratgeber für verzweifelte Eltern helfen mir kein Stück weiter. Min-jun ist in vielerlei Hinsicht etwas Besonderes und an Tagen wie diesen wünschte ich, dass es anders wäre. Dass wir beide einen geregelteren Tagesablauf hätten und dass wir eine normale Familie mit normalen Problemen wären.

Ich schließe die Haustür des mehrstöckigen Mehrfamilienhauses auf und betrete mit meinem Sohn das Treppenhaus. Ein seltsamer Geruch kommt uns entgegen und nahezu gleichzeitig verziehen wir beide das Gesicht. Die Nachbarn kochen schon wieder etwas, das man im ganzen Haus riechen kann. Ekelhaft. Ich will nur noch so schnell wie möglich in unsere kleine Wohnung und ich glaube, dass es Min-jun da genauso geht.

Wir gehen zum Aufzug und Min-jun drückt freudig den Knopf. Er liebt es, wenn er das machen darf. Kurz darauf geht die Tür des Fahrstuhls auf Min-jun, quetscht sich an mir vorbei, bleibt vor dem Bedienfeld stehen und sieht mich auffordernd an. Ich kann nicht anders, als zu lächeln. So anstrengend es auch manchmal ist, das sind diese kleinen Momente, die ich genieße und die mir wieder Kraft schenken. Ich kenne kein anderes Kind, dass sich jeden Tag aufs Neue so sehr darüber freuen kann, den Knopf zu unserer Etage zu drücken.

Kurzerhand hebe ich ihn hoch, damit er auch an die "4" herankommt. Der Aufzug setzt sich in Bewegung, und ich lasse ihn wieder runter. Er schenkt mir ein Lächeln. Als die Tür aufgeht, sieht Min-jun enttäuscht aus, weil wir schon da sind, aber immerhin bleibt mir heute eine Diskussion über eine Extrafahrt mit dem Aufzug erspart.

Min-jun folgt mir das kurze Stück über den Flur, ehe wir direkt vor unserer Wohnungstür ankommen. Während ich aufschließe, zieht mein Sohn sich schon die Schuhe aus. Ich tue es ihm gleich und schiebe dann die Tür auf, worauf er an mir vorbei in die Wohnung huscht.

Als ich ihm folge und die Tür zufallen lasse, kann ich schon das Wasser aus dem Bad hören. Wie immer wäscht sich Min-jun direkt die Hände. Ich musste ihm das nicht mal beibringen. Das ist etwas, das er von sich aus tut.

Ich schlüpfe in meine Hausschuhe und hänge meine Jacke auf, aber viel weiter komme ich nicht, weil es in dem Augenblick schon an der Tür klingelt.



Ich hasse es, beim Schreiben gestört zu werden. Jetzt vor Weihnachten nimmt das wirklich überhand. Heute Mittag hatte ich einen hübschen Vorgeschmack darauf, was mich demnächst erwartet. Zweimal hat es Sturm geklingelt. Das hatte ich bis vor kurzem natürlich nicht. Das sind die ganz seltenen Momente, in denen ich es bereue, meine große, ruhige, pförtnerbewachte Bestsellerautor-Wohnung in Hannam zurückgetauscht zu haben gegen diese kleine Dreizimmer-Wohnung in Itaewon. An manches hier muss ich mich echt noch gewöhnen.

Ich lebe gerne hier, bei den Menschen, da, wo Alltagsdramen passieren, Feste gefeiert werden, da, wo das echte, normale Leben sich abspielt. Dieses Haus ist für jeden Belletristikautor das Paradies. Acht kleine Wohnungen, ein stinkendes Treppenhaus, ein winziger Hinterhof voller überquellender Mülltonnen und kaputter Fahrräder, und ein wirklich bunt gemischtes Volk. Alte und Junge, Laute und Leise, der Säufer unter mir, der alleinerziehende Vater schräg über mir, das junge Paar neben mir.

Seit die alte Frau Lee aus dem Erdgeschoss mit Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus liegt, habe ich allerdings die undankbare Aufgabe abbekommen, der 'Paketshop' fürs ganze Haus zu sein. Ich saß vor dem Mittagessen über meinem Manuskript, mir fiel grade DER geniale Plotttwist ein, die Gedanken haben sich überschlagen - und - Drinnnnng! - wurden sie von diesem nervigsten aller Geräusche vertrieben. Eine halbe Stunde hab ich gebraucht, bis ich wieder richtig drin war. Und - Zack! - hats nochmal geklingelt. Futsch! Lieferdienste bimmeln von morgens bis abends einfach die ganze Latte durch, bis jemand aufmacht. Und das bin leider ziemlich oft ich. Weil ich zu Hause arbeite. Weil ich in Ruhe schreiben will. Eigentlich.

Wenn diese Paketboten dann wenigstens eine Benachrichtigung in den Briefkasten stecken würden, bei wem ihre Sendung gelandet ist. Nö. Auf dem Ohr sind die stocktaub. Andererseits - dann würden die Nachbarn auch alle nochmal bei mir klingeln, weil sie wüssten, wo ihr Päckchen steckt. Nene - da laufe ich doch lieber selbst die paar Stufen rauf und bringe Herrn Min sein Päckchen, wenn es MIR in den Kram passt. Wenn ich das richtig mitbekommen habe, ist er eben erst mit seinem kleinen Sohn nach Hause gekommen.
Eigentlich ungewöhnlich spät für deren Verhältnisse. Egal. Ich versuche mal mein Glück.



Ich hole nochmal tief Luft und bereite mich darauf vor, die Tür zu öffnen. Ich mag es gar nicht, wenn es so spontan klingelt. Ich kann nicht mal erklären, warum das so ist. Denn eigentlich weiß ich, dass es wahrscheinlich nur wieder etwas Belangloses ist und ich mir umsonst einen Kopf mache. Trotzdem macht es mich jedes Mal nervös, dass ich nicht zu hundert Prozent sagen kann, wer da klingelt. Es könnte genauso gut der Vermieter sein, der mich wegen neuen Lärmbeschwerden der Nachbarn sprechen will. Und das wäre etwas, auf das ich nicht gut spontan reagieren könnte.

Kinder machen manchmal eben Lärm, selbst eher ruhigere Kinder wie Min-jun.
Schnell lege ich mir mögliche Argumentationen für den Vermieter zurecht, ehe ich es schaffe, die Tür zu öffnen.

Erleichtert stelle ich fest, dass es sich bei dem unangekündigten Scheller nur um den etwas älteren Nachbarn von schräg unter uns handelt. Er hat ein Lächeln im Gesicht und ein Paket in den Händen.



Es dauert einen Moment, bis Herr Min aufmacht, obwohl ich durch die dünne Tür hören kann, dass er noch im Flur ist. Das Schriftstellerhirn fragt sofort, was da denn so lange dauert, aber der Nachbar in mir pfeift das Hirn zurück und setzt mir stattdessen ein Lächeln auf. Herr Min kann ja nichts dafür, dass mein Hirn so komisch tickt.
"Guten Abend, Herr Min. Ich habe heute Mittag ein Päckchen für sie angenommen. Hier - bitte."

Seltsamer Mann. Er sieht mich an mit einer Mischung aus 'verschrecktem Reh' und 'erleichtertem Laubbub, der keine Strafe bekommen hat'. In DER Haut möcht ich echt nicht stecken. Dass dem nicht ständig alles zu viel wird? Ich könnte bei Kindergequengel bestimmt nicht schreiben. Höchstens Ratgeber, wie man quengelnde Kinder zur Ruhe bringt ...



"Guten Abend", antworte ich, während der neue Nachbar mir auch schon das Päckchen in die Hände drückt. Da ich in letzter Zeit nur eine Sache bestellt habe, weiß ich sofort, dass es sich dabei um die Scharniere handeln muss, die ich für den Schrank benötige. Ich hätte sie gerne einfach im Baumarkt geholt, um diese unangenehme Situation zu umgehen, aber leider lässt mein vollgestopfter Alltag das nicht zu. Bestellen war die beste Alternative.

"Und ähm. Danke, dass Sie das Paket angenommen haben", füge ich schnell hinzu, als ich mich daran erinnere, dass Herr Jung immer noch vor mir steht, und verbeuge mich kurz.

Er lächelt immer noch (oder schon wieder?), daher versuche ich das zu erwidern. Im selben Moment taucht mein Sohn hinter mir auf. Er scheint neugierig zu sein, wer da geklingelt hat und stellt sich zwischen unseren Nachbarn und mich.

Ich bekomme mit, wie Herr Jung meinen Sohn ebenfalls begrüßt. Erst scheint mein Sohn ganz gut auf den Nachbarn zu reagieren, dann weicht er allerdings doch zurück. Für mich ist es der Startschuss, um dem ganzen ein Ende zu setzen. Außerdem muss ich mich ums Abendessen kümmern und habe gar nicht die Zeit, hier lange Smalltalk an der Tür zu halten.
"Also. Vielen Dank nochmal und einen schönen Abend", sage ich und hoffe, dass er versteht, was ich damit sagen will.



"Aber gerne doch. Ich arbeite zu Hause, da ist das kein Umstand für mich."

Hinter Herrn Min taucht sein Sohn auf. Gleichzeitig müde und neugierig lunzt er um die Beine seines Vaters herum und traut sich dann nach vorne. In der Hand hält er ein grün gestreiftes Spielzeugrennauto. Wortlos streckt er es mir entgegen. Also gehe ich in die Hocke und bewundere den Bonsaiflitzer. Berühren darf ich ihn aber nicht, da geht der Junge sofort zwei Schritte rückwärts über die Türschwelle und presst das Auto an sich.
"Keine Angst, ich nehm dir das nicht weg. Ich wollte nur die Streifen zählen. Stimmts, dieses Auto gewinnt mit dir alle Rennen, weil es so schnell sausen kann."
Der Junge nickt und weiß offensichtlich nicht, ob er mir nun trauen kann oder besser doch nicht.

"Weißt du was? Ich wohne auch hier im Haus, da, eins drunter auf der anderen Seite. Ich heiße Hoseok, und wenn ihr Lust habt, könnt ihr mich mal besuchen."
Ich richte mich wieder auf und sehe, dass der Vater sehr unruhig wirkt. Und da kommt auch schon der versteckte Rausschmeißer. Also verabschiede ich mich und trete den Rückzug an.
"Na dann - ab zum Abendbrot und ins Bett mit dir, kleiner Mann. Und Ihnen einen schönen Abend, Herr Min."



Er wünscht uns einen schönen Abend, woraufhin ich ein leises "Gleichfalls" zurückgebe. Kurz darauf dreht er sich um, und ich kann endlich die Tür schließen. Min-jun sagt nichts zu der Begegnung, geht wortlos an mir vorbei und tapst in sein Zimmer.

Ich nutze die Gelegenheit, um durchzuatmen, und mir den Vornamen des neuen Nachbarn einzuprägen.
Hoseok.
Am besten notiere ich mir das gleich irgendwo, ansonsten vergesse ich es nur wieder und dann wird es unangenehm, wenn er davon ausgeht, dass ich mir den Namen gemerkt habe.

Im Wohnzimmer angekommen, greife ich zu Stift und Papier, um den Namen aufzuschreiben. Von da aus gehe ich in die Küche. Ich will anfangen, zu kochen, als mir einfällt, dass Min-jun schon mal sein Zimmer aufräumen könnte. Meistens ist es nicht viel. Er liebt Ordnung. Zumindest was das angeht, ist er ein einfaches Kind.

"Minnie, du kannst bitte schon mal aufräumen?", sage ich, als ich in sein Zimmer komme. Er sitzt auf seinem Spielteppich und hat immer noch das grün gestreifte Auto in der Hand. Er scheint so vertieft zu sein, dass er mich mal wieder nicht hört.
"Was machst du denn da? Hast du mich nicht gehört?", starte ich einen neuen Versuch. Ich sehe, wie er das Auto hochkonzentriert beäugt. Sein kleiner Zeigefinger huscht dabei von einem Streifen zum nächsten.

Im selben Moment verstehe ich, was er macht.
"Und? Wie viele Streifen sind es?"
Min-jun sieht kurz zu mir hoch, ehe er schwer seufzt und wieder von vorne beginnt.
"Darf ich dir helfen?"
Ich setze mich zu meinem Sohn und helfe ihm beim Zählen der Striche. Es sind insgesamt achtzehn.
Min-jun sieht glücklich aus, und dieser kleine Moment nach diesem stressigen Tag tut auch mir gut.

Ich schaffe es nur mit Mühe, mich wieder aufzuraffen, um endlich das Abendessen zu machen. In der Küche angekommen, fühle ich mich plötzlich wieder ganz schwer und bin müde. Ich habe keine Kraft mehr für das, was gleich auf mich zukommt. Essen machen, zusammen essen, aufräumen, Min-jun bettfertig machen und ins Bett bringen, selbst ins Bad huschen und Sachen für morgen rauslegen.

Wenn ich gleich endlich im Bett liege, werde ich wahrscheinlich wieder nicht lange brauchen, um einzuschlafen.

Es wäre so schön, wenn wir mehr Zeit zum Streifen zählen hätten und weniger von A nach B hetzen müssten.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top