Donnerstag, 14.12.23



 


Die vielen Lichter blenden mich. Ich rufe nach ihr, aber sie hört mich nicht. Um mich herum spielt Musik, Menschen reden, Autos fahren vorbei. Ich rufe lauter, aber Soo-Ae verschwindet zwischen den vielen Menschen. Ich schaffe es nicht, sie einzuholen, obwohl ich so schnell laufe, dass mir die Puste ausgeht. Immer mehr Menschen versammeln sich um mich herum und scheinen mich wissentlich von ihr abschirmen zu wollen. Niemand macht Platz. Niemand scheint mich zu hören. Die Lichter werden heller, blenden mich so sehr, dass ich die Augen zukneifen muss. Die Stimmen sind mittlerweile so laut, dass ich meinen eigenen Schrei nicht mehr hören kann.

Als ich die Augen wieder öffne, ist es still. Dunkel. Ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass ich in meinem Bett liege. Meine Haut klebt an der Decke, alles ist klamm.

Es war nur ein Traum.

Mein Blick schnellt zur Uhr meines Weckers. Es ist gerade mal kurz nach 3 Uhr. Es ist Donnerstag. Ich liege in meinem Bett. Es war nur ein Traum...

Gut zwanzig Minuten brauche ich, bis ich mich wieder einigermaßen gefangen habe und mein Puls wieder annähernd auf normalem Level ist. An Schlafen ist trotzdem nicht mehr zu denken, dafür ist die Angst, nochmal etwas Ähnliches zu träumen, viel zu groß. Also setze ich mich auf, greife nach der Wasserflasche und trinke erstmal einen großzügigen Schluck davon. Außerdem mache ich die Nachttischlampe an und sehe mich um. Die Bettseite neben mir ist leer. Natürlich. Was habe ich auch anderes erwartet?

Soo-Ae ist vor vier Jahren aus meinem Leben verschwunden, meine großzügige, gutmütige Liebe. Sie ist einfach weg. Für immer. Ich kann sie nicht mehr erreichen, so sehr ich mich auch anstrenge. Ich muss in dieser viel zu lauten, grellen Welt ohne sie weiterleben. Wie in meinem Traum.

Das ist keine neue Erkenntnis. Trotzdem tut es weh. Sie nochmal im Traum gesehen zu haben, reißt alle Wunden wieder auf. Ich vermisse sie so sehr. Sie war mein Ruhepol und mein Zufluchtsort, wenn mir diese Welt zu laut war. Es fehlt mir. Sie fehlt mir. Ihr Lächeln, ihre Sensibilität, ihre vorsichtige, aber sehr direkte Art, wenn sie mir gesagt hat, dass ich eine Pause brauche, weil ich das so oft selbst nicht mehr gemerkt habe.

Wäre sie noch hier, würde sie mir wahrscheinlich sagen, was ich tun muss, damit es mir wieder besser geht. Sie würde Min-jun sagen, wie er mit dieser Welt zurechtkommen soll.

Wieso musste das passieren? Wieso durften sie und Min-jun sich nie richtig kennenlernen? Warum ist diese verdammte Welt so grausam?

Tränen laufen über mein Gesicht, aber es interessiert mich nicht. Ich habe schon so oft wegen ihr geweint, aber das bringt sie auch nicht wieder zurück.

3:46 Uhr. Ich starre immer noch auf die zerknubbelte Bettdecke neben mir. Sie hat es gehasst, wenn das Bett nicht ordentlich gemacht war, eins der wenigen Punkte, wo sie wirklich penibel war. Sie hat zwar nie geschimpft, aber ich konnte ihr ansehen, wenn sie sauer war. Dann hat sie immer eine Strähne ihrer Haare nervös um ihren Finger gewickelt und wurde ganz still.

Selbst das vermisse ich. Sie hatte es zwar nie leicht mit mir, dennoch hat sie mir immer wieder gesagt, dass sie niemals jemand anderes haben wollen würde. Dass sie davon überzeugt ist, dass wir zusammenpassen.

Vier Jahre ist es her und ich habe mich immer noch nicht damit abgefunden, dass ich sie für immer verloren habe. Ich schaffe es nicht, sie loszulassen. Ich will sie nicht vergessen. Deswegen habe ich es auch immer noch nicht geschafft, ihre alten Sachen zu entsorgen. Ihr Nachttisch ist zwar jetzt wegen der Bastelaktion mit Tae leergeräumt, aber das wars auch schon. Ihr Schmuckständer steht weiterhin auf dem Regal neben dem Schreibtisch. Ihre Sonnenbrille liegt daneben. An dem Türhaken hängt ihr Lieblingsschal. Ihren Kleiderschrank habe ich seit Min-juns Geburt nicht mehr angerührt. Wenn Ich die Sachen sehen würde, die sie getragen hat, würde ich wahrscheinlich nervlich zusammenbrechen.

Natürlich habe ich mir schon oft vorgenommen, den Schrank endlich auszuräumen. Aber wenn man Angst vor dem Schmerz hat, findet man genug Ausreden, warum man es gerade nicht tun kann. Und auch jetzt fühle ich mich immer noch nicht bereit dazu.

Miryo hat mir mal angeboten, dass sie mir helfen würde, aber ich schätze, dass es für sie genauso schwer wäre. Sie hat immerhin ihre beste Freundin verloren, die sie seit der Schulzeit kennt. Einige Kleidungsstücke würden bei ihr genauso schmerzlich Erinnerungen hervorrufen wie bei mir.

Verdammt. Was soll ich tun? Irgendwann werde ich das tun müssen. Miryo will ich nicht fragen, alleine werde ich es aber nicht schaffen. Ob ich Namjoon fragen könnte, ob er mir dabei hilft? Mit Sicherheit würde er es tun, aber das würde neue Fragen aufwerfen und ich möchte ihm nicht noch mehr erzählen. Da wäre mir jemand wie Tae lieber, der keine Fragen stellt. Aber den kann ich nicht fragen, weil er mir schon jetzt einen riesigen Gefallen getan hat, den ich gar nicht wieder gut machen kann.

4:18 Uhr. Mein Körper ist erschöpft und müde, nur mein Kopf nicht. Die Gedanken laufen kreuz und quer, machen mich nervös und machen mir Angst. Ich halte es nicht länger aus, hier zu bleiben. Zwar befinden sich in der ganzen Wohnung noch Andenken an meine Frau, jedoch ist das Schlafzimmer von allen Räumen mit Abstand der Schlimmste. Deswegen ziehe ich mir eben eine Jogginghose und einen bequemen Pulli über und sehe zu, das sich hier weg komme.

In der Küche angekommen, kann ich wieder durchatmen. Hier hat es in den letzten vier Jahren wohl am meisten Veränderungen gegeben, deswegen halte ich es hier auch gerade am besten aus. Ich mache mir einen Kaffee und noch einen und noch einen. Als ich das nächste Mal auf die Uhr schaue, ist es schon kurz vor 6:00 Uhr.

Ich muss gleich eh anfangen, mich fertig zu machen und Min-jun wecken.

Apropos. Ich muss Miryo noch fragen, ob sie Samstag wieder auf Min-jun aufpassen kann. Bevor ich das wieder vergesse, schreibe ich ihr besser jetzt. Sie wird zwar nicht sofort antworten, weil sie um diese Zeit eigentlich nie wach ist, außer wenn sie auf Minnie aufpasst, aber dann habe ich das zumindest schon mal aus dem Kopf. Und wie ich sie kenne, wird sie eh Ja sagen.
 


Ich war unglaublich erleichtert, als Herr Min mir gestern Nachmittag kurz geschrieben hat, dass alles gut geklappt hat. Ich bin mit meinen Autismus-"Forschungen" inzwischen so weit gediehen, dass mir klar ist, WIE hoch die Hürde gestern für beide tatsächlich war, dieses Erlebnis zu meistern. JEDE Veränderung im Alltag ist unüberwindlich wie der Himalaja.
'Aber es muss sein. Herr Min MUSS aus dem Einzelkämpfertum raus, er MUSS lernen, Hilfe anzunehmen. Sonst klappt er irgendwann zusammen, und damit ist niemand gedient, am allerwenigsten seinem Sohn.

Heute Morgen ist Min-jun wie immer erstmal allein im dunklen Ruhezimmer. Aber während wir überall die Stühle runterstellen, frage ich ihn nach dem Weihnachtsdorf, und da gibt es kein Halten mehr. Wild gewürfelt sprudeln seine Erlebnisse, Ängste, Entdeckungen, Fragen und Antworten aus ihm heraus. Wie bunt alles war. Wie viele Lichter es gab. Wie lecker die gebrannten Mandeln waren. Die Musik. Und natürlich der Papa, der wirklich da war. Und so weiter und so weiter. Wenn Min-jun so aus sich heraus geht, ist er unglaublich niedlich.

Leider hatten wir am Dienstag in der Teamsitzung doch keine Gelegenheit, noch mal über ihn zu reden, weil die ganze Zeit für die Adventsfeier draufgegangen ist. Aber inzwischen habe ich mehr und mehr Kolleginnen hinter mir. Min-jun wird also sicher weiter Hilfe bekommen.

Heute steigt die Aufregung bei den Kindern merklich. 'Noch einmal schlafen' ist etwas, was sie sich vorstellen können. Und 'noch einmal schlafen' bedeutet heute: morgen ist die große Weihnachtsfeier hier im Haus. Verschobene Möbel, geöffnete Trennwände, Bude voll. Einhundert durchgeknallte Kinder nebst Geschwistern jeden Alters, Eltern, die ihre Kinder als Vorzeigeobjekte missbrauchen, Eltern, die der Meinung sind, dass innerhalb dieser Räume weiterhin wir Erzieher für den Unsinn ihrer Kinder verantwortlich sind. Berge von gespendeten Kuchen, Hektoliterweise aufputschende Cola, Würstchen, Pommes, Schokolade.

Die Kinder spielen Theater, die Kinder verkaufen selbst Gebasteltes, die Kinder singen und tanzen.
Am Abend machen dann alle Mitarbeiter drei Kreuze, graben den Kindergarten unter Bergen von Müll wieder aus und freuen sich, dass jetzt erst mal ein Jahr lang Ruhe ist.
Ich habe heute in kleinen Gesprächen und in der großen Gruppenrunde versucht, die Kinder darauf vorzubereiten, aber letzten Endes steht der Erfolg wie immer in den Sternen.

Sehr spannend fand ich, dass Inhyuk es zwar nicht geschafft hat, Min-jun in seinen Freundeskreis zu integrieren. Aber er hat ihn drinnen nicht mehr ignoriert, hat ihn zum Spielen animiert und hat ihn von sich aus aufgefordert, mit zum zweiten Frühstück zu kommen. Zumindest das konnte Min-jun auch annehmen, und das war ein absolutes Novum.

Am Nachmittag sind die Unruhe und die Vorbereitungen nicht mehr zu ignorieren. Hundert Eltern haben tausend Fragen, Kinder sind aus dem Häuschen. Die Kolleginnen rennen aufgescheucht hin und her. Also schnappe ich mir Min-jun und verschanze mich mit ihm im Bauzimmer.

Ich habe darum gebeten, dass ich das morgen mit ihm und ein paar weiteren Kindern direkt vorher umräumen darf, damit es ihm nicht zu fremd ist. Und zum Glück wird das Ruhezimmer auch Ruhezimmer bleiben, denn das ist immer der Rückzugsort für alle überforderten Kinder, stillenden Mütter und andere Auf-Zeit-Aussteiger.

Inhyuk wird heute von seiner sehr netten deutschen Mutter abgeholt. Dann staunen die anderen Kinder immer über die fremde Sprache, denn natürlich redet sie mit den Kindern nur Deutsch. Die beiden schauen kurz bei uns im Bauzimmer vorbei, weil Inhyuk sich von Min-jun verabschieden will. Dann kehrt draußen auf dem Flur - bis auf die Vorbereitungen der Kolleginnen - allmählich Ruhe ein, und wir verfallen in unseren üblichen Trott.

   
  

Ich habe ganz schön mit der Müdigkeit zu kämpfen, als ich Min-jun in den Kindergarten gebracht habe und ich mich auf den Weg zur Arbeit mache. Die kurze Nacht macht sich schon jetzt bemerkbar, dabei hat der Tag gerade erst richtig angefangen. Es ist kein Wunder, dass ich den ganzen Tag alles, was um mich herum passiert, nur halb wahrnehme. Selbst die Zeit existiert nicht mehr. Ich trotte durch den Tag, gedanklich immer woanders, und staune, als plötzlich Feierabend ist. Völlig geistesabwesend und erschöpft mache ich mich auf den Weg zum Kindergarten, parke mein Auto auf einem der Eltern-Parkplätze und betrete die Einrichtung.

Normalerweise ist um diese Zeit nichts mehr los, heute aber merke ich sofort, dass etwas anders ist. Es ist unruhig, laut und wuselig. Ich komme in den Flur und bin verwirrt. Tische stehen anders, überall hängen irgendwelche bunten Girlanden, vereinzelt laufen Betreuerinnen durch die Räume und werfen sich irgendwelche Anweisungen zu. Mein Puls schießt sofort wieder in die Höhe, weil das heute purer Stress für mich ist. Jimin und Min-jun sehe ich in dem Gewusel allerdings nicht, also suche ich das Bauzimmer auf, wo ich beide auch finde.

Mein Puls schießt sofort wieder in die Höhe, weil das heute purer Stress für mich ist. Jimin und Min-jun sehe ich in dem Gewusel allerdings nicht, also suche ich das Bauzimmer auf, wo ich beide auch finde.

"Jimin? Was ist denn heute hier los?", frage ich ihn und merke, dass man mir anhört, wie gestresst ich klinge. Im selben Moment kommt Min-jun auf mich zu, drückt mich kurz und fängt an, seine Autos einzusammeln. Jimin erklärt mir in der Zeit, dass die Vorbereitungen für die Weihnachtsfeier morgen auf Hochtouren laufen. Mein Herz rutscht mir in die Hose. Die Weihnachtsfeier. Ich habe die total vergessen. Wann war die morgen? Nachmittags? Habe ich das auf der Arbeit schon geklärt? Ich habe mal was angesprochen, aber das ist eine Ewigkeit her. Scheiße. 

Ich atme ein paar Mal tief durch und versuche mich zu erinnern. Aber gerade ist mein Kopf wie leergefegt.
"Die... Weihnachtsfeier. Genau...", stammel ich vor mich hin. Jimin merkt sofort, dass etwas nicht stimmt, steht auf und kommt auf mich zu.
"Sie können doch morgen dabei sein, oder?", fragt er. So gerne ich die Frage beantworten möchte, ich weiß es nicht. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, wollte ich früher Feierabend machen, aber hatte ich das geklärt?

"Ich möchte gerne", antworte ich, auch wenn es nicht ganz der Wahrheit entspricht. Die letzten Feiern waren die Hölle. Meckernde Eltern, Weihnachtsmusik im Hintergrund, Kindergeschrei und Kreischen überall non-stop. Es gibt kaum etwas, das mich so fertig macht, wie diese alljährliche Weihnachtsfeier im Kindergarten. Aber ich weiß auch, dass Min-jun nicht als einziger ohne Elternteil auf der Feier sein möchte. Ich habe also keine Wahl, wenn ich mein Kind nicht enttäuschen will. "Wann fängt das nochmal an?"


Ich brauche nicht lange, um zu kapieren, dass Herr Min noch erschöpfter ist als sonst schon, wahrscheinlich noch von gestern. Aber jetzt bei der Frage nach der Weihnachtsfeier schwingt plötzlich auch noch eine Spur von Panik in seiner Stimme mit.
"Der normale Kindergartenbetrieb endet morgen schon um 15.00 Uhr. Die Kinder, die durchbetreut werden, helfen bei den letzten Vorbereitungen. Wir öffnen wieder um 16.00 Uhr, aber in der ersten Stunde gibt es nur Spiele, Kaffee und Kuchen und die Stände mit den Kleinigkeiten von den Kindern. Das vorbereitete Programm im großen Saal schließt sich um 17.00 Uhr an, wenn wirklich alle Eltern da sein können."

Ich scheitere mal wieder an Herrn Mins Pokerface. Und ich weiß auch, dass das Gewusel zwei Stunden lang für Vater und Sohn eine extreme Herausforderung sein wird. Ich versuche, ihn etwas zu beruhigen.
"Ich werde morgen ein gutes Auge auf Ihren Sohn haben. Er wird bei mir sein, bis Sie eintreffen. Wenn alles gut läuft, wird Ihre größte Sorge morgen nur der Parkplatz sein. Und wenn Sie eine Auszeit brauchen, ist der Ruheraum da. Machen Sie sich bitte keine Gedanken. Bitte melden Sie sich jederzeit bei mir, wenn Sie Hilfe brauchen. Es gibt keine Lappalien, alles darf wichtig sein."


Ich nicke. Das sollte ich tatsächlich irgendwie hinbekommen, auch wenn ich vielleicht ein bisschen später komme. Hauptsache Min-jun kann sagen, dass sein Papa auch da war.

Ich frage Jinin noch, ob wir auch was mitbringen sollen, aber er schüttelt den Kopf.
"Einfach nicht drüber nachdenken. Hier gibt jeder, wie er kann. Und viele können gar nicht. Das ist normal und in Ordnung. Ich selbst bringe immer Plätzchen mit und stelle sie an die Kuchentheke der Eltern. Mir ist es wichtig, dass Sie sich auf ihren Sohn konzentrieren und nach dem langen Arbeitstag Ihre Kräfte gut einteilen können."

Wie kann ich jemals wieder gutmachen, was Jimin alles für uns tut? Manchmal glaube ich wirklich, dass ich es gar nicht verdient habe, so einen lieben Erzieher für meinen Sohn abbekommen zu haben. Er rettet uns - mal wieder - den Arsch. Irgendwann sollte ich mich für seine außerordentliche Mühe und Geduld erkenntlich zeigen. Auch wenn ich noch keine Idee habe, wie ich das anstellen soll.

Ich bedanke mich nochmal bei ihm, ehe wir uns von ihm verabschieden und den Nachhauseweg antreten.


Ich glaube fast, ich muss NOCH vorsichtiger sein. Herr Min ringt täglich um Würde und Haltung. Manchmal überfordert er sich damit unmenschlich. Aber das ist ein sehr klares Signal gegen falsches Mitleid und gönnerhaftes Verhalten.
Hoffentlich finde ich noch in diesem Jahr die Möglichkeit, in Ruhe mit ihm zu reden!
Ich glaube, ich werde auch die Eltern von Inhyuk bitten, morgen ein Auge auf die beiden zu haben.

Auf dem Weg nach Hause kreiseln die Gedanken weiter.
Wenn ich mit Herrn Min über die Autismus-Spektrum-Störung reden will, sollte ich was in der Hand haben. Vielleicht stelle ich gleich mal eine Liste von Internetseiten zusammen, die für mich tatsächlich hilfreich waren. Dann kann er sich in Ruhe selbst schlau machen und hinspüren, ob er sich darin wieder erkennt.



Als wir Zuhause ankommen, ist die Luft bei mir raus. Ich schleppe mich nur noch auf die Couch und will meine Ruhe haben. Min-jun ist ebenfalls sehr erschöpft von den letzten beiden Tagen und verschanzt sich in seinem Zimmer. Allerdings muss ich gleich noch aufräumen und Abendessen machen. Wie ich das schaffen soll, ist mir aber noch ein Rätsel. Keinen Millimeter will mein Körper sich bewegen und ich bezweifle, dass sich das in den nächsten Minuten ändern wird.

Es vergeht bestimmt eine halbe Stunde, in der ich einfach auf der Couch sitze und die Wand anstarre. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Und weil das alles noch nicht reicht, klingelt es ausgerechnet jetzt an der Tür.
Erst versuche ich es zu ignorieren, aber nach ein paar Sekunden klingelt es erneut. Innerlich am weinen, weil ich am Ende meiner Kraft bin, schleppe ich mich zur Tür. Wer auch immer das ist, ich werde mir nichts anhören und sagen, dass er verschwinden soll.

Ich öffne die Tür genervt und sauer, aber als ich den neuen Nachbar davor sehe, verschwindet meine Wut.
"Entschuldige. Ich war mir nicht sicher, ob ich beim ersten Mal richtig gedrückt habe."
Ich muss ihn ziemlich verdutzt ansehen, denn er mustert mich eingehend, was mir wirklich unangenehm ist.
"Es hat zwei Mal geschellt, oder? Ich entschuldige mich, wenn ich ungelegen komme oder euch gestört habe. Ich hab auch eigentlich nur eine Frage."

"Schon okay", antworte ich, damit die löchernden Blicke aufhören. Jetzt sehe ich auch, dass er eine große Tupperdose in der Hand hält, denn er streckt sie in meine Richtung.
"Eigentlich sollte ich heute Besuch bekommen. Er musste aber spontan absagen. Da hatte ich das Essen leider schon fertig. Und so viel esse ich niemals, zum Wegschmeißen ist es aber zu schade. Ich könnte das natürlich auch morgen nochmal warm machen, aber dann dachte ich, ich frage dich einfach mal, ob ihr das vielleicht essen möchtet. Du arbeitest ja auch immer viel und bist vielleicht mal ganz froh, wenn du nicht kochen musst, oder? Achja. Das ist übrigens Hähnchenfleisch mit Gemüse und glasierten Kartoffeln. Und eigentlich echt gut geworden."

Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Ob Hoseok Gedanken lesen kann? Das kann doch alles kein Zufall sein.
"Komm... doch rein", biete ich ihm an. Er war ja schon mal in meiner Wohnung, daher fällt es mir nicht so schwer, ihn hereinbitten.
 


Ob ich aus diesem Mann jemals schlau werde? Erst sieht er so müde aus, als ob er gleich umfällt. Und im nächsten Moment huscht da so was wie ... Dankbarkeit? durch sein Gesicht. Dann war meine Idee wohl richtig.
"Gerne, wenn ich nicht störe. Bei dir ist es so einladend und gemütlich."

Ich folge ihm in die Wohnung. Kurz redet er mit Minnie, der in seinem Zimmer steckt.
"Minnie, Hoseok ist hier. Und er hat für uns ein Abendessen mitgebracht. Wollen wir mal rausfinden, wie das schmeckt, wenn jemand anderes gekocht hat?"
Durch die Tür höre ich ein fröhliches "Au jaaa!" Dann kommt der Zwerg in den Flur geflitzt und begrüßt mich.
"Wir waren gestern auf dem Weihnachtsmarkt bei Papas Arbeit. Das war ganz voll und ganz aufregend und ganz dolle schön. Und morgen ist die Weihnhachtsfeier im Kindergarten. Da sind sooooo viele Leute, dass ich mich ganz an den Rand setzen werde. Sonst gehe ich vielleicht verloren."

Yoongi stoppt seinen Redeschwall.
"Magst du mit Hoseok zusammen den Tisch decken? Dann können wir nämlich gleich essen."
Min-jun nickt, greift nach meiner Hand und zieht mich ins Wohnzimmer zu einem Schrank. Daraus holen wir Geschirr, Besteck und Stäbchen und decken den Tisch. Ich mache ihm alles nach, und das bringt ihn zum Kichern.

Yoongi ruft ihm aus der Küche noch zu, dass er an die Untersetzer denken soll. Kurz darauf sitzen wir gemeinsam am Tisch. Ich esse nur sehr wenig, denn ich bin ja eigentlich schon satt. Aber die beiden genießen das Essen sehr.

"So. Dann danke für diese gemütliche Runde. Manchmal ist mir richtig langweilig, wenn ich alleine essen muss. Hab einen schönen Abend, Yoongi. Und du, kleiner Racker, musst jetzt ganz schnell ins Bett, damit du genug Schlaf für die aufregende Feier morgen hast. Gute Nacht!"
Min-jun nickt eifrig und bringt mich zur Tür.

Das sollte ich öfter machen. 


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