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Die Woche kommt mir schon unendlich lang vor, obwohl wir erst Donnerstag haben. Noch drei Tage muss ich auf der Arbeit durchhalten. Und dazwischen muss ich mir überlegen, wie ich es schaffe, ein Weihnachtsgeschenk für Min-jun zu organisieren.
Jeden Tag überlege ich, was ich ihm schenken könnte. Am liebsten würde ich ihm eine Garage für seine Autos kaufen, damit er sie nicht immer auf dem Teppichboden sortieren muss, aber alle, die ich bis jetzt gesehen habe, übersteigen meine finanziellen Mittel bei Weitem.
Ich habe sogar schon überlegt, ob ich es hinkriegen würde, eine selbst zu bauen. Aber auch dafür bräuchte ich Material und vor allem Zeit, in der ich ungestört bauen kann, ohne dass Min-jun etwas davon mitbekommt. Was so gut wie nie vorkommt, außer wenn er schläft.
Ich glaube nicht, dass ich das in wenigen Stunden hinkriegen würde. Und was, wenn er das doch mitbekommt, weil er nachts mal zur Toilette muss und mich dann im Wohnzimmer erwischt? Der kindliche Glaube an den Weihnachtsmann würde damit zerstört werden.
Die vielen Überlegungen nehmen mich total ein, wodurch ich heute nicht ganz bei der Sache bin. Was ich mir nicht leisten kann, denn hier ist die Hölle los. Es strömen selten so viele Menschen in den Laden wie zur Weihnachtszeit. Meinen Chef freut das natürlich. Viele Kunden bedeutet viel Umsatz. Dass wir personell gar nicht für solche Massen aufgestellt sind, ist ihm egal.
Daher fehlt mir auch die Geduld, wenn Kunden zu mir kommen und eine Beratung von mir wollen. Meistens fertige ich sie nur ab, damit ich meiner eigentlichen Arbeit nachkommen kann. Sachen müssen wieder an ihren eigentlichen Ort geräumt werden, ich muss an der Kasse einspringen, weil meine Kollegin das alleine gar nicht bewältigen kann, und ganz nebenbei sollen wir die Lieferung verräumen, die heute morgen angekommen ist.
Jetzt muss ich aber erstmal wieder mit an die Kasse, weil die Schlange schon wieder viel zu lang ist. Und Kunden warten nicht gerne. Zum Glück kommt kurz darauf noch ein Kollege zur Spätschicht, der dann mit an die Kasse kann. Dann kann ich mich endlich der Lieferung widmen.
So der Plan. Leider kommt im selben Moment ein steifer, älterer Herr auf mich zu.
Langsam wird es mir zu bunt. Ich bin schon seit gut zwanzig Minuten hier und habe immer noch kein neues Jackett gefunden, das meinen Vorstellungen entspricht. Der Service wird heutzutage immer schlechter. Anscheinend wollen die mir in diesem Laden nichts verkaufen. Unmöglich.
Lustlos streife ich zum dritten Mal an den Ständern entlang, aber dadurch wird das Angebot auch nicht besser. Irgendwas ist immer: die Farben sind komisch, der Schnitt ist unvorteilhaft, das Material ist billig, die richtige Größe ist nicht mehr da.
Zum x-ten Mal suche ich mit meinen Augen die Abteilung ab.
Da. Endlich!
Ein junger Mann mit Namensschild eilt mit wehenden Haaren an mir vorbei.
Der entkommt mir nicht.
"Hallo, Entschuldigung. Sie können mir doch sicherlich weiterhelfen!"
Ich mustere ihn kurz. Lange Haare, schlichte Kleidung. Alles in allem nicht unbedingt jemand, den ich bezüglich einer Stilberatung fragen würde. Aber es ist niemand sonst da, an den ich mich wenden kann, also muss ich mich damit wohl abfinden.
"Ich suche ein Jackett. Und eine dazu passende Hose. Leider habe ich in Ihrem Sortiment noch nichts gefunden, was mich auf Anhieb anspricht."
Der Verkäufer sieht ja nicht grade sehr begeistert aus. Scheinbar macht er nicht gerne Beratungen? Dann frage ich mich doch, wieso er ausgerechnet hier arbeitet. Er könnte sich auch was anderes suchen, wenn es ihm so zuwider ist.
Aber wenn ich für heute Abend ein passables Outfit haben will, muss ich mich wohl oder übel mit diesem unwilligen Exemplar begnügen.
Ich kenne diese Art Kunden und ich habe jetzt schon keinen Bock drauf. Ich bin mir sicher, dass er zu diesen Menschen gehört, die tausend Teile anprobieren, mit nichts zufrieden sind und nur sowas sagen wie: "Hm, ne. Dann doch das andere", "Vielleicht ziehe ich nochmal das erste an", "ich glaube, ich schaue mich nochmal um".
In neunzig Prozent der Fälle gehen sie, ohne etwas gefunden zu haben. Ergo: Viel Zeit für nichts und wieder nichts.
"Ich kann Ihnen gerne unsere Herrenabteilung zeigen. Dort finden Sie sicher etwas, das Ihnen gefällt", spule ich den auswendig gelernten Satz ab.
Der Kunde sieht mich an, ich weiche dem Blick aus. "Da war ich schon", antwortet er. Danach Stille. Ich sehe wieder hoch und erkenne, dass er mich immer noch erwartungsvoll ansieht.
Soll ich jetzt seine Gedanken lesen oder was erwartet er?
"Haben Sie denn eine Vorstellung, wonach genau Sie suchen? Farbe? Stil?", frage ich ihn, aber der Mann wirft nur die Hände in die Luft.
"Wenn ich das wüsste, müsste ich Sie ja nicht fragen."
Ich atme tief durch. Das wird anstrengend.
"Wenn Sie möchten, komme ich gerne mit und wir schauen mal zusammen", schlage ich vor, weil mein Chef mich killt, wenn ich ihn nicht auf Händen trage. Dabei möchte ich lieber, dass er einfach direkt geht und wir uns dieses ganze "ich bin so unentschlossen"- Ding schenken können.
In der Herrenabteilung angekommen, versuche ich mein Bestes, um ihn möglichst schnell loszuwerden. Leider ist er ein extrem harter Brocken. Egal, welches Jackett ich ihm zeige, immer stimmt etwas nicht. Zu hell, zu groß, zu dunkel, zu bunt, zu langweilig. Es trifft also genau das ein, was ich befürchtet habe.
Ich überlege schon, ihm zu sagen, dass er sein Glück doch vielleicht besser in einem anderen Laden versucht, aber dann kommt mir eine Idee. Wir haben heute die Lieferung bekommen und mit Sicherheit ist da auch wieder irgendein Designer-Experiment der vergangenen Saison drin, das überteuert und extravagant ist. Ich bitte ihn also, einen kleinen Moment zu warten und flüchte ins Lager. Mein Kollege hat schon angefangen, die Lieferung auszupacken, daher brauche ich nicht lange, um genau das Teil zu finden, von dem ich überzeugt bin, dass es genau nach seinem Geschmack ist.
Bei dem Preisschild dreht sich mir der Magen um. Ich wette, dass es für ihn ein Schnäppchen ist. Für mich ist es ein Vermögen, von dem ich Min-jun richtig tolle Geschenke kaufen könnte. Ich finde es ekelhaft, dass es Menschen gibt, die gar keine Vorstellung davon haben, was es heißt, kein Geld zu haben. Meistens sind genau die Leute, die zu viel Geld haben auch diejenigen, die sich als letztes Gedanken über sowas machen.
Zielsicher gehe ich wieder auf ihn zu.
"Sie haben Glück. Das gute Stück ist heute erst geliefert worden und ein Einzelstück! Es wird ganz großartig an Ihnen aussehen!"
Die Konversation kostet mich wirklich eine Menge Energie, aber ich habe Erfolg. Der Mann scheint ganz entzückt zu sein, reißt mir das Teil regelrecht aus der Hand und verschwindet in der Umkleide. Ich nutze den Moment, um mal kurz durchzuatmen. Für viel mehr ist auch keine Zeit, denn da kommt er schon wieder heraus und inspiziert sein Spiegelbild.
"Sehen Sie? Es steht Ihnen wirklich ausgesprochen gut. Es ist wie für Sie gemacht."
Der Mann nickt, denkt aber gar nicht daran, sich von seinem Spiegelbild zu lösen. Langsam verliere ich wirklich die Geduld.
"Wenn Sie mich noch brauchen, sagen Sie Bescheid."
Glücklicherweise scheint er zu kapieren, dass ich besseres zu tun habe, als ihn weiter zu betreuen. Vielleicht kann er sich auch einfach nicht von seinem Spiegelbild losreißen ...
Ich verstehe diese Geschäftsleute nicht. Im Laden hängt nur langweiliges Irgendwas, und hinter dem Tresen verstecken sie dieses Schmuckstück! Das ganze Blabla von dem Verkäufer glaube ich kein Stück. Wahrscheinlich war das für irgendeinen besonderen Kunden beiseite gelegt. Aber das lasse ich mir nicht entgehen. Eine passende Hose habe ich wahrscheinlich vorhin schon in der Hand gehabt.
Ja, genau. Hier ist sie. Das passt. Wozu brauche ich diesen gelangweilten Kerl? Heute Abend will und werde ich attraktiv aussehen.
Ich mache mich wieder an die Arbeit, verräume Ware, helfe an der Kasse aus und berate noch mehr unentschlossene Kunden, bis ich endlich in den ersehnten Feierabend kann.
Als ich an meinem Auto ankomme und mich reinsetze, schaue ich auf die Uhr. Ich bin etwas später rausgekommen und muss mich beeilen, um Min-jun abzuholen. Aber ich kann nicht. Es ist, als würde mir mein Körper nicht mehr gehorchen. Meine Batterie ist leer. Eine ganze Zeit starre ich einfach geradeaus durch die Windschutzscheibe und warte darauf, dass mein Körper sich endlich wieder regt.
Ganze sechs Minuten verliere ich dadurch. Sechs Minuten, die mir gerade das Genick brechen. Ich fahre viel zu schnell zum Kindergarten, komme trotzdem reichlich spät dort an und habe Probleme damit, die Einrichtung zu betreten. Noch mehr vorwurfsvolle Blicke und Gespräche ertrage ich heute nicht. Deswegen kostet mich der Gang in Min-juns Gruppe auch enorm viel Kraft.
Wann hört das endlich auf?
Etwa erst, wenn Min-jun erwachsen ist? Das schaffe ich nicht. Es muss noch eine andere Lösung geben, denn so halte ich es nicht mehr lange aus.
Schnell sammele ich meinen Sohn ein und weiche jedem Anflug eines Gesprächs aus. Ich will nur noch nach Hause und mich von dem Tag erholen. Min-jun und ich schweigen während der gesamten Autofahrt, wahrscheinlich weil wir beide gerade einfach unseren Gedanken nachhängen. Ich bin so erschöpft und überladen, dass ich nicht mal das Radio ertrage. Das Brummen des Motors ist das einzige, was zu hören ist.
Ich weiß nicht mehr weiter.
Dieses Leben ist so endlos lang und monoton. Wie eine gerade Landstraße, dessen Ende nicht zu sehen ist. Alle fahren mit einer wahnsinnigen Geschwindigkeit die Straße des Lebens entlang. Rauschen an mir vorbei. Ich dagegen komme mir vor, als würde ich dieselbe Strecke zu Fuß abschreiten müssen. Als würde ich mit aller Kraft versuchen, mit den Autofahrern mitzuhalten, obwohl ich weiß, dass es unmöglich ist.
Ich möchte anhalten. Stehen bleiben und mich einen Moment an den Straßenrand setzen. Das wäre schön. Würde zusehen, wie andere an mir vorbeirasen, ohne auch nur einmal Notiz von dem Mann zu nehmen, der dort sitzt und sich eine kurze Pause vom Leben genehmigt.
Ich kann nicht mehr. Würde ich wenigstens ein Ziel sehen, wäre es vielleicht einfacher. Aber die Straße will einfach nicht enden.
Völlig in meinen Gedanken versunken bemerke ich nicht, dass die Ampel auf Grün geschaltet ist. Mein Sohn macht mich darauf aufmerksam, nachdem der Autofahrer hinter mir mehrfach hupt. Ich schalte in den ersten Gang, mein Auto setzt sich langsam in Bewegung. Mir kommt dieser Moment surreal vor. Als wäre es nicht mein Fuß, der auf das Gaspedal tritt. Als würde ich nicht in diesem Auto sitzen.
Im selben Moment realisiere ich, dass ich Hilfe brauche. Dringend.
Und wahrscheinlich ist Miryo der einzige Mensch, mit dem ich darüber reden kann, ohne verurteilt zu werden. Wenn ich Glück habe, kommt sie morgen wieder arbeiten. Dann könnte ich sie darauf ansprechen. Ich muss sie sowieso noch fragen, ob sie nochmal dazu bereit wäre, Samstag auf Min-jun aufzupassen, während ich arbeiten bin. Wenn nicht habe ich ein Problem.
Na, der hatte ja grade ein Tempo drauf! Irgendwie noch getriebener als sonst. Wieder war kein Blickkontakt möglich, wieder ist er mir ausgewichen, wieder hat sich sein Stress auf das Kind übertragen.
Ich lese jetzt jeden Abend so viel über Autismus, dass mein Bild von den beiden schnell immer runder wird. Ich bin inzwischen fest überzeugt, dass mein Verdacht richtig ist. Alles, was ich heute tagsüber beobachtet habe, passt so gut!
Allerdings hat mir Min-juns Akte bei genauerem Hinsehen auch verraten, warum Herr Min so dermaßen gestresst und überfordert ist. Seine Frau ist bei der Geburt des Kindes gestorben. Er ist vollkommen allein mit der Mammutaufgabe, genug zu arbeiten für den Lebensunterhalt UND genug Zeit für die Betreuung seines Sohnes zu haben. Und das alles mit einer Autismus-Spektrum-Störung, die schon ohne diese ganzen anderen Faktoren eine große Herausforderung ist.
Da muss unbedingt Entspannung, Ruhe und fundierte Information her. Schwierig, wenn er immer wie von der Tarantel gestochen davonrennt ...
Ich lasse alle Rollläden runter, schließe die Vordertür vom Kindergarten ab, schwinge mich auf mein Rad und sause los.
Jetzt freue ich mich richtig auf das Jugendtraining. Auf andere Gedanken kommen, ganz viel lachen und so richtig austoben.
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