Dienstag, 19.12.23
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Als ich morgens wach werde, bin ich gedanklich direkt wieder bei dem Gespräch mit Jimin, aber zumindest habe ich mal ordentlich geschlafen. Das hatte ich wohl nötig.
Ich quäle mich aus dem Bett, setze Kaffee auf und schnappe mir das Buch, das Jimin mir gestern freundlicherweise dagelassen hat. Die Neugier ist zu groß. Ich möchte mehr erfahren, auch wenn ich mir dafür vielleicht mehr Zeit nehmen und es nicht morgens durchblättern sollte, wenn ich eh in Eile bin. Ich kann dem aber trotz aller Gegenargumente nicht widerstehen.
Die ersten Seiten sind nur Einführungsgelaber, das ich überfliege. Das Inhaltsverzeichnis finde ich da schon wesentlich spannender. Allgemeine Merkmale, wie man Autismus bei Kindern im Schulalter erkennt, wie man es bei Kindergartenkindern erkennt, wie es sich Zuhause äußert, aber natürlich auch, wie man es diagnostizieren und therapieren kann. Ich kann meinen Blick kaum abwenden, setze mich mit Buch und Kaffee bewaffnet auf die Couch und verschaffe mir einen Überblick zum Inhalt den Buches. Außerdem setze ich mir ein Zeitlimit, damit ich es pünktlich zum Kindergarten und zur Arbeit schaffe.
Leider ist dieses Limit viel zu schnell aufgebraucht, und ich habe Mühe, das Buch tatsächlich auf die Seite zu legen, um meinen Sohn zu wecken. Der restliche Morgen verläuft wie immer. Aufstehen, anziehen, Frühstück fertig machen, losfahren.
Nur eine Sache ist anders. Ich schaue genauer hin, versuche mögliche Anhaltspunkte zu finden, die Jimins Vermutung bestätigen.
Am Kindergarten angekommen, freut sich Minnie schon wie verrückt auf Jimin. Und langsam verstehe ich auch, wieso. Jimin respektiert ihn, mit all den Besonderheiten, die mein Sohn nun mal zu bieten hat. Und während ich darüber nachdenke, fällt mir noch etwas auf.
Seit Ewigkeiten habe ich dieses Gefühl, ein Alien zu sein und nicht dieselbe Sprache zu sprechen wie meine Mitmenschen. Ich habe mir über die Jahre zwar Vieles beigebracht, komme mittlerweile sogar irgendwie mit anderen zurecht, aber es kostet mich wahnsinnig viel Kraft und Konzentration. Wie oft habe ich mich schon gefragt, warum das so ist. Wieso ich scheinbar der einzige bin, der Blicke schlecht deuten kann, der nicht versteht, ob jetzt etwas ernst oder sarkastisch gemeint war, der sich fragt, wieso meine Mitmenschen so anders denken. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich in dem Buch auch etwas über 'Autismus im Erwachsenenalter' gelesen. Es ist vielleicht nicht ganz abwegig, dass Min-jun es von mir geerbt haben könnte, immerhin scheint es eine Erkrankung zu sein, die vererbt werden kann. Von Soo-Ae hat er es auf jeden Fall nicht. Sie ist immer offen auf andere zugegangen und hat sich immer gut in andere einfühlen können. Wenn ich so darüber nachdenke, war sie sogar das komplette Gegenteil von mir.
Dieser Gedanke lässt mich nicht los, auch dann nicht, als wir den Kindergarten betreten und Jimin uns entgegenkommt. Er begrüßt uns wie jeden Morgen, und ich muss mich zurückhalten, ihn nicht direkt mit tausend Fragen zu löchern, sondern erstmal zu begrüßen. Besonders geschickt scheine ich mich jedoch nicht anzustellen, denn Jimin merkt, dass etwas in mir rumort. Er fragt, ob alles in Ordnung ist und wie es mir mit dem Gespräch gestern weiter ergangen ist. Im selben Moment kann ich meine Fragen nicht mehr zurückhalten.
"Darf ich Sie nach einer Einschätzung fragen? Ich habe schon angefangen mit dem Buch, und mir sind ein paar Sachen aufgefallen. Aber eine Frage lässt mich gerade nicht in Ruhe. Glauben Sie, dass es möglich ist, dass Minnie das von mir geerbt hat? Dass ich das vielleicht auch habe?"
Yes! Das ist die beste aller möglichen Varianten. Er hat es selbst verstanden UND fragt um Rat.
Ich könnte grade jubeln und hüpfen vor Freude. Ich reiße mich aber schnell zusammen und reduziere meine Freude auf ein freundliches Lächeln.
"Zunächst möchte ich Ihnen sagen, wie erleichtert ich bin, dass Sie so viel Vertrauen zu mir haben. Sie haben mich in Ihre Wohnung gelassen, und mit diesem Gespräch auch mittenrein in Ihr Leben.
Ja, ich bin mir sogar sehr sicher, dass auch Sie eine Autismus-Spektrum-... - ich mag den Namen "Störung" immer noch nicht. Ich würde es viel lieber ... dass auch Sie eine Autismus-Spektrum-Persönlichkeit sind."
Jupp. Das Wort gefällt mir viiieeel besser.
"Jetzt schiebe ich aber eine sehr, sehr wichtige Bitte gleich hinterher. Sie, Herr Min, sind nicht gefragt worden, ob Sie damit geboren werden wollen. Sie hatten keinen Einfluss darauf, wie Pädagogik zu Ihrer Zeit darauf reagiert hat. Und Sie haben ganz, ganz bestimmt nicht bewusst diese Persönlichkeit an Ihren Sohn weitergegeben. Sie können nichts dafür! Okay?
Im Gegenteil - Ihnen hat viele Jahre lang niemand erklärt, warum Ihre Persönlichkeit so ist. Ihr Sohn Min-jun hat den großen Vorteil, dass sein Vater nahezu immer genau weiß, was in ihm vorgeht. Fangen Sie bitte gar nicht erst an, ein schlechtes Gewissen zu haben. Nutzen Sie Ihre Persönlichkeit, um es Min-jun leichter zu machen, als Sie selbst es hatten."
Yoongi nickt wie so oft. Erst denke ich, dass es wieder nur dabei bleibt, doch er überrascht mich.
"Danke. Ich werde es versuchen. Und falls ... ich nochmal Fragen habe. Kann ich dann zu Ihnen kommen?"
"Aber selbstverständlich. Ich möchte gerne Ihr Begleiter auf dieser spannenden Reise sein. Und vergessen Sie Herrn Kim nicht. Diese Familie ist ganz bestimmt auch auf Ihrer Haben-Seite."
Es ist erstaunlich, wie offen gegenüber der Thematik der Mann ist. Wie ehrlich er zu sich selbst ist. Wie ernst er meine Hinweise nimmt. Er wirkt, als wollte er einfach hierbleiben und immer weiter und weiter fragen. Nur mit Mühe kann er sich losreißen und sich auf den Weg zur Arbeit machen.
Min-jun und ich starten dagegen mit unserer Morgenroutine, bis schließlich alle anderen Kinder eintreffen. Lachen und Weinen, Freude, Neugier und Wut füllen den Tag. Ich selbst habe das Gefühl, mir sei eine Last von den Schultern genommen.
Jetzt kann ich damit arbeiten, die Familie beraten, den Weg zur Diagnostik ebnen. Mensch, was bin ich happy!
Nach dem Mittagessen finde ich Gelegenheit, mit unserer Leiterin über das Gespräch mit Herrn Min zu reden. Sie verspricht mir für Nachher eine Überraschung. Gespannt wie ein Flitzebogen warte ich auf den Nachmittag. Youna übernimmt wieder die verbliebenen Kinder, während wir Hauptamtlichen uns zur Teamsitzung zurückziehen.
Die Tagesordnung ist leider ziemlich lang. Als erstes wird natürlich das Weihnachtsfest nachbereitet. Meine "Lieblingskollegin" meckert, dass ich während des Festes praktisch überhaupt nicht für das Team zu erreichen war. Zu meinem Erstaunen würgt unsere Chefin das sofort ab.
Beginnend mit den Schließzeiten um Weihnachten beraten wir abschließend den Veranstaltungskalender im nächsten Jahr für den Kindergarten, Feste, Putztage, Übernachtung der Schulabgänger. Urlaube werden eingereicht.
Und dann kommt der Knaller. Zum Thema "Fort- und Weiterbildung" schiebt die Chefin schmunzelnd fünf Exemplare einer Fachzeitschrift in die Mitte des Tisches.
Obwohl ... das ist keine Zeitschrift. Das ist ... ein umfangreiches Fortbildungsprogramm!
Ich greife danach, schlage das Inhaltsverzeichnis auf und staune Bauklötze.
"Aber - diese Fortbildungen klingen so phantastisch, wie sie teuer sind. Das kann sich doch keiner leisten."
Sie grinst.
"Stimmt, Jimin. Wir nicht. Aber die Stadt hat sich für ein landesweites Förderprogramm zur Qualifizierung von Kindergartenfachkräften beworben. Und unser Trägerverein fragt, ob das für uns in Frage kommt. Wenn wir es schaffen, in dieses Förderprogramm zu rutschen, dann kostet alles, was hier drin angeboten ist, nur noch die Hälfte. Und der Verein legt noch ein Viertel obendrauf.
Der einzige Haken ist: die Bewerbungsfrist läuft Ende des Monats aus. Ich habe die Unterlagen schon ganz lange da liegen. Ich war bisher nicht davon ausgegangen, dass das für uns relevant ist."
Ich schnappe nach Luft.
Nicht relevant!
Ich kann kaum meine Gedanken sortieren.
"Ich will! Ich mein' ... ich möchte. Bitte da mitmachen können. Uff!"
Meine Kolleginnen lachen mich aus.
"Ich will. Soso ..."
Ich lasse mich nicht ablenken.
"Da klingt ein Seminar spannender als das andere. Und es gibt auch eins zum Thema Autismus."
Die Chefin bremst mich freundlich.
"Wenn nur drei von uns zwölf Leuten eines der Themen rauspicken, können wir uns 'integrativer Kindergarten' nennen. Und dann würden die Fördermittel und der Personalschlüssel aufgestockt. Wir wären eines von zehn landesweiten Vorzeigeprojekten mit breiter Aufmerksamkeit - statt das Stiefkind der Kleinstadt."
Zu meiner großen Freude greifen jetzt auch andere nach dem Seminarprogramm und blättern darin.
"Ich sage euch auch, warum ich das so plötzlich wieder ausgegraben habe. Was mich an meinem Beruf oft unzufrieden macht, ist diese gleichgeschaltete Pädagogik. Alle Kinder müssen so und nicht anders funktionieren, damit sie mal wertvolle Mitglieder dieser leistungsorientierten Gesellschaft werden können. Jimins Engagement für Familie Min hat etwas in mir angestoßen. Ich möchte diese Unzufriedenheit in gute Energie für unsere Kinder und Familien verwandeln. Kinder sind nicht zukünftige Mitglieder der Gesellschaft. Kinder sind. Jetzt. Ich möchte ihnen jetzt gerecht werden. Das schaffe ich aber nicht ohne euch.
Jimin, kannst du uns mehr erzählen über die letzten beiden Wochen? Dann sind wir alle auf dem selben Stand."
Ich traue meinen Ohren nicht. Darauf bin ich nun gar nicht vorbereitet. Aber ich gebe mein Bestes, berichte über Erkenntnisse aus den Büchern, welche Umgangsweise mit Min-jun am erfolgreichsten war, wie das Fest für Vater und Sohn gelaufen ist, und schließlich erzähle ich vom gestrigen Gespräch und der heutigen Reaktion. So langsam fangen mehrere Kolleginnen Feuer.
Youna kommt rein.
"So, alle weg. Nur Herr Min möchte dich kurz sprechen, Jimin."
Ich stehe auf und überlasse ihr der Einfachheit halber einfach meinen Platz.
Herr Min wartet an der Garderobe auf mich. Min-jun klettert von der Bank aus an mir hoch. Herr Min sortiert offenbar seine Worte.
"Könnten Sie ... Könnten Sie mir eine Situation zwischen mir und meinem Sohn nennen, wo unser Autismus - oder seiner, oder meiner - deutlich zu erkennen war?"
"Gern. Erinnern Sie sich an den Freitag vor gut zwei Wochen, als Sie es so sehr eilig hatten, dass Sie Minnies Autos aufgeräumt haben?"
"Ja. Ja, da hatten wir einen Zahnarzttermin. Min-jun hasst das, und deshalb werde ich schon vorher auch ganz nervös. Dann hat der Chef mich nicht rechtzeitig weggelassen. Und ..."
"Und dann habt sich das Bedürfnis nach Pünktlichkeit mit dem Ordnungsbedürfnis Ihres Sohnes gebissen. Nein, kein schlechtes Gewissen bitte. Auch Eltern sind nur Menschen und niemals perfekt."
Die Sorge in seinen Augen wird kleiner.
"Für Minnie ist der lange Kindergartentag eine große Herausforderung. Wenn ab 15.00 Uhr die anderen Kinder abgeholt werden, braucht er Zeit, alles zu verarbeiten. Dabei sortiert er die Autos an der Teppichkante. Ich habe sehr lange gebraucht, bis ich kapiert habe, dass es immer die selben Autos sind, die immer Richtung Tür fahren. Und die in immer genau der selben Reihenfolge aufgestellt werden. Mehr noch. Min-jun hat vier solche Ordnungen. Er baut die erste auf. Dann sortiert er die Autos um für die zweite, dann die dritte und die vierte. Als der Zahnarzt laut nach Ihnen rief, war er grade in die dritte Ordnung vertieft. Darum war er so verzweifelt. Er hat nicht einfach Autos aufgestellt. Er war in seinem festen Ablauf, der ihm Halt gibt. Und das hatte er in dem Moment verloren."
Herr Min hat aufmerksam zugehört. Gefühle kann ich an seinem Gesicht nicht ablesen. Aber das kenne ich ja schon. Er denkt einen Moment lang nach.
"Dann ... er braucht also feste Reihenfolgen, um sich sicher zu fühlen. Stimmt. Beim Aufstehen, beim Anziehen. Beim Essen, beim Spielen, beim ins Bett gehen. Alles hat eine klare Struktur und Reihenfolge. Das ist ... wie ein Geländer von außen. Und das hab ich ihm neulich weggenommen."
Ich lausche aufmerksam auf seinen Tonfall, ob ich Schuldgefühle höre.
Aber stattdessen richtet er sich auf.
"Und ich brauche das auch - neue Räume, neue Situationen, neue Menschen - das stresst mich extrem. Nur - was hätte ich in der Situation tun sollen?"
Ich bin unglaublich happy.
"Darf ich Ihnen sagen, dass ich in Ihnen einen oft verunsicherten, aber innerlich starken Menschen und Vater sehe? Sie hätten in dem Moment gar nichts tun können. Was Sie versuchen können, ist, mir morgens Bescheid zu sagen, dass Sie einen Anschlusstermin haben. Dann leite ich dieses Verarbeitungsritual früher ein, und Sie kommen gar nicht erst in diese Zwickmühle. Was halten Sie davon?"
Hab ich den Mann schon mal lächeln sehen?
"So einfach ist das?"
"In dem Fall ist es so einfach, ja."
"Dann ... Danke, dass Sie sich so intensiv um uns bemühen. Dass Sie Min-jun so ein fester Halt sind. ... Und mir auch."
Ohne weiteren Gruß sammelt er seinen Sohn aus meinem Arm, dreht sich um und geht raus. Ich kann es förmlich rattern hören hinter seiner Stirn. Zufrieden gehe ich zurück zur Teamsitzung und radele anschließend nach Hause.
Als wir wieder zu Hause sind, kann ich es kaum erwarten, das Buch weiter zu lesen. Eilig streife ich meine Schuhe von den Füßen und stelle sie weg. Dabei fällt mein Blick auf den Brief von meiner Fußmatte, der immer noch unberührt daliegt. Ich weiß, dass ich ihn öffnen und lesen sollte, aber ich habe Angst, dass Hoseok sauer auf mich ist. Verständlich wäre es, aber ich werde es nie erfahren, wenn ich ihn nicht öffne ...
Ich greife mir den Brief, sage Minnie, dass er ein bisschen spielen gehen kann, und nehme wieder auf der Couch Platz. Das Buch liegt noch da, aber darum kann ich mich erst später kümmern. Jetzt erstmal der Brief.
Meine Hände zittern etwas, als ich ihn öffne und zu lesen beginne. Gleich bei den ersten Worten stelle ich aber fest, dass Hoseok nicht sauer ist. Die Erleichterung darüber beschert mir ein warmes Gefühl, und ich lese weiter. Es ist kein langer Brief, aber das, was er schreibt, ist aussagekräftig.
Er bietet sich als Gesprächspartner an, schreibt aber auch, dass er verstehen kann, wenn ich mit jemand anderem darüber reden möchte. Und dass ich jederzeit zu ihm kommen kann.
Ich versuche meine Gedanken zu ordnen, aber ehrlich gesagt, bin ich gerade völlig überfordert von so viel Nettigkeit. Deswegen entscheide ich mich auch dagegen, ihm nochmal zu antworten. Das mache ich lieber morgen nach der Arbeit und dann persönlich.
Jetzt möchte ich erstmal in dem Buch weiter lesen.
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